Das zweitägige Gipfeltreffen, das am Donnerstag in Brüssel begann, diente den Nato-Verteidigungsministern zur Vorbereitung auf eine neue Militäreskalation im Nahen Osten. Seit acht Jahren tobt bereits der Stellvertreterkrieg in Syrien.
Vor zwei Wochen hatte US-Präsident Trump 1.000 US-Soldaten abgezogen, die bis dahin mit den kurdischen Milizen im Nordosten Syriens zusammenarbeiteten. Damit erhielt die Türkei grünes Licht für einen Angriff auf die kurdischen Stellungen. Seither hat sich die Situation in Syrien zum Nachteil der USA und ihrer europäischen Verbündeten verändert. Russland, die Türkei und das syrische Regime haben sich darauf geeinigt, frühere Grenzen anzuerkennen. Sie haben außerdem der Türkei den Vorstoß auf die kurdischen Stellungen erlaubt. Außerdem bereiten sich syrische Truppen auf einen Angriff vor, der die Al-Qaida-nahen „Rebellen“ aus der nordwestsyrischen Provinz Idlib, der letzten Nato-Hochburg, vertreiben soll.
Die Nato-Verteidigungsminister waren in Brüssel also mit einer Schlappe konfrontiert. Sie bekräftigten lediglich, auch weiterhin zu Kriegseinsätzen in Eurasien bereit zu sein. Für eine weitere Militäreskalation drangen widersprüchliche Vorschläge an die Öffentlichkeit. US-Verteidigungsminister Mark Esper schlug eine beschleunigte Aufrüstung gegen den Iran und gegen China vor. Zur Diskussion stand auch die Forderung der deutschen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), die eine 30 bis 40.000-köpfige europäische „Friedenstruppe“ in den Nordosten Syriens schicken möchte.
In einer kurzen öffentlichen Stellungnahme vor Beginn der Gespräche lobte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg „alle Nato-Missionen und Operationen, vom Balkan bis nach Afghanistan“. Er wolle die europäischen Staaten am Freitag dazu drängen, ihre Militärausgaben zu erhöhen: „Ich werde erneut betonen, wie wichtig die Verteilung der Lasten ist, sowohl was die Ausgaben angeht, als auch die Beiträge und Kapazitäten. Ich bereite außerdem einen Bericht für das Treffen der Staats- und Regierungschefs im Dezember in London vor.“
Auf Nachfrage stellte sich Stoltenberg hinter Kramp-Karrenbauer, die als Vertreterin der deutschen Regierung erstmals seit dem Sturz des Naziregimes eine aggressive Militäraktion im Ausland vorgeschlagen hatte. Stoltenberg sagte, er habe mit Frau Kramp-Karrenbauer darüber diskutiert. Es sei „positiv, wenn Alliierte wie Deutschland Ideen dazu haben, wie wir vorankommen“.
Stoltenberg schilderte die Vorbereitungen der Nato auf große Militärmanöver wie Defender 2020. Dabei will das Pentagon seine Fähigkeit testen, im Falle einer uneingeschränkten Nato-Mobilmachung gegen Russland amerikanische Soldaten schnell von Amerika nach Europa zu verlegen. Die Übung beinhaltet außerdem provokante Marineübungen im Südchinesischen Meer vor der chinesischen Küste. Über einen Einmarsch der Nato oder der europäischen Mächte in Syrien zu spekulieren, wie in Kramp-Karrenbauers Vorschlag beinhaltet, lehnte Stoltenberg ab.
Er fügte hinzu: „Wenn ich jetzt anfange, über alle möglichen und unmöglichen Optionen zu spekulieren, würde das nur die Unsicherheit verstärken“. Auf dem Nato-Treffen sei die Forderung nach einer Mission im Nordosten Syriens nicht erhoben worden.
Nach dem Treffen am Donnerstag trat Stoltenberg am Abend nochmals vor die Presse, um eine knappe Stellungnahme abzugeben. Er erklärte, es gebe „unterschiedliche Ansichten“ unter den Nato-Mitgliedsstaaten und fügte hinzu, diese lägen auf der Linie von „öffentlich bekannten“ Differenzen. Er bezeichnete die Situation im Nordosten Syriens als „sehr ernst“, räumte aber ein, dass die Türkei „berechtigte Sicherheitsinteressen“ in der Region habe. Der Frage eines Reporters, ob die Türkei deutsche oder europäische Truppen in Syrien akzeptieren werde, wich er aus.
Stoltenberg behauptete zwar, Kramp-Karrenbauer habe die anderen Nato-Verteidigungsminister über den Vorschlag aus Berlin unterrichtet, lehnte es jedoch ab, weiter darauf einzugehen.
Das Bündnis steht vor zwei großen Hindernissen: erstens das Militärdebakel im Nahen Osten, und zweitens die Tatsache, dass die arbeitende Bevölkerung sowohl im Nahen Osten als auch innerhalb der Nato-Staaten selbst einen Krieg durchwegs ablehnt. Die amerikanischen und europäischen Imperialisten kritisieren zwar alle die Türkei, aber zwischen den USA und Europa gibt es definitiv Differenzen. Diese stehen im Zusammenhang mit den Konflikten in der amerikanischen herrschenden Klasse über die Außenpolitik, die das Impeachment gegen Trump antreiben. Allerdings befürwortet jede Fraktion eine Strategie der Militäreskalation gegen atomar bewaffnete Gegner. Eine solche Entwicklung hätte für die Arbeiterklasse und die ganze Menschheit katastrophale Folgen.
Kramp-Karrenbauers Vorschlag führt in Syrien zu einer Konfrontation zwischen der Nato und Russland. Esper dagegen sprach für diejenige Fraktion in der amerikanischen Bourgeoisie, die vorrangig und als erstes einen Krieg gegen China führen möchte. Er erklärte am Donnerstag bei einer Rede vor dem German Marshall Fund in Brüssel: „In der nationalen Verteidigungsstrategie steht China an erster und Russland an zweiter Stelle.“
Auf dieser Grundlage ging Esper nicht weiter auf den Krieg in Syrien ein, sondern rief die europäischen Mächte stattdessen auf, die Trump-Regierung gegen den Iran zu unterstützen. Er sprach über die Pläne zur Entsendung von tausenden US-Soldaten im Rahmen der Vorbereitungen auf einen Krieg gegen den Iran und fügte hinzu: „Wir rufen unsere Verbündeten in Europa auf, unserem Beispiel zu folgen und uns mit eigener Unterstützung dabei zu helfen, die Aggression des Irans abzuschrecken.“ Es gehe darum, „in der Region Stabilität herzustellen und die internationale, auf klare Regeln gestützte Ordnung zu verteidigen“.
Am Mittwoch hob Trump außerdem die Sanktionen gegen die Türkei auf, die er nach dem Angriff auf die kurdischen Milizen kurzzeitig verhängt hatte. Dieser Schritt ist ein weiteres Anzeichen dafür, dass seine Regierung kein Interesse an einem weiteren Krieg zur Verteidigung der Kurden im Nordosten Syriens hat.
Kramp-Karrenbauer setzt sich jedoch weiter für ihren Plan ein, Russland in Syrien entgegenzutreten. Als sie das Verteidigungsministertreffen verließ, bezeichnete sie die Unterstützung, die sie aus der Nato für ihren Plan erhalten habe, als „sehr ermutigend … Das wird noch ein langer Prozess, ein schwieriger Weg.“
In Deutschland trommeln die Medien seit sechs Jahren aggressiv für eine Wende in der Außen- und Sicherheitspolitik. Einige schreiben jetzt, Kramp-Karrenbauers Plan brauche noch Zeit zur Entwicklung. In einem Merkur-Artikel heißt es: „International löst sie [mit ihrem Plan] allerdings keine Begeisterungsstürme aus – die Reaktionen sind verhalten. In Brüssel erhielt sie bei einem Nato-Verteidigungsministertreffen für ihren Vorstoß Anerkennung für ihre Initiative. Keines der Länder sagte jedoch sichere Unterstützung zu.“
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Der Präsident der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, erklärte im Spiegel: „[Ihr Plan] setzt allerdings voraus, dass in der Koalition in militärisch relevanten Fragen beide Seiten an einem Strang ziehen. Und danach sieht es ja im Moment nicht aus.“
Wenn man Kramp-Karrenbauers Vorschlag genauer betrachtet, ist es weniger der konkrete Plan für einen sofortigen Einmarsch, als vielmehr der dringende Aufruf zur Militäraufrüstung. Es ist der Versuch, in Deutschland eine promilitärische Stimmung zu schaffen. In dieser Hinsicht muss er als Warnung verstanden werden. Er zeigt, in welche Richtung die Politik der europäischen Bourgeoisie jetzt geht. Die deutsche Regierung plant eine deutliche Eskalation der militärischen Kapazitäten Europas und Deutschlands, was zur massiven Erhöhungen der Verteidigungsetats und damit zu entsprechend Angriffen auf die Arbeiterklasse führen wird.
Der Einsatz von Nato-Truppen in den Kriegen in Afghanistan oder im Irak kostet etwa eine Million Dollar pro Soldat im Jahr. Die Stationierung von 40.000 europäischen Soldaten würde also eine Erhöhung der europäischen Militäretats um zweistellige Milliardenbeträge pro Jahr erfordern. Die Frage stellt sich, ob die europäischen Mächte überhaupt in der Lage wären, nach dem Abzug der USA eine solche Streitmacht in Syrien zu stationieren und zu versorgen. Was genau sie dort tun sollte, ist völlig unklar.
Syrien ist mit Russland verbündet und erhält von ihm Luftunterstützung und Flugabwehrraketen. Die Koalition, welche die Nato-Stellvertretermilizen besiegt hat, wäre der europäischen Streitmacht zahlenmäßig weit überlegen. Sie umfasst nicht nur die 200.000 Soldaten der syrischen Armee, die überlebt haben, und etwa 80.000 mit ihnen verbündete irreguläre Kämpfer, sondern auch etwa 40.000 iranische Soldaten, die in Syrien gekämpft haben. Dazu kommen zehntausende Kämpfer der libanesischen Hisbollah-Miliz und etwa 20.000 Angehörige der pro-iranischen Milizen aus Afghanistan, dem Irak oder Pakistan, die ebenfalls in Syrien gekämpft haben, wie zum Beispiel die Liwa Fatemiyoun.
Dazu kommen nicht nur tausende russische Soldaten, Kampfflugzeuge und Kriegsschiffe, sondern auch die chinesischen „Night Tiger“-Spezialkräfte. Diese bekämpfen in Syrien islamistische Uiguren-„Rebellen“, die mit der Nato verbündet sind. Gleichzeitig verstärken China und Syrien ihre militärische Zusammenarbeit.
Kreml-Sprecher Dmitri Peskow betonte am Donnerstag erneut, dass Russland die Stationierung weiterer ausländischer Truppen in Syrien ablehne: „Was die Präsenz amerikanischer Soldaten in Syrien angeht, so ist unsere Position allgemein bekannt: Nur die russischen Einheiten sind rechtmäßig in Syrien, da sie von der syrischen Führung eingeladen wurden. Natürlich ist das Endziel der vollständige Abzug aller ausländischen Streitkräfte und Militärs aus dem Gebiet der arabischen Republik Syrien.“
Die Entscheidung in Washington und in Berlin, mit militärischen Mitteln gegen solche Kräfte vorzugehen, ist eine weitere Warnung vor der wachsenden Gefahr eines dritten Weltkriegs.