Türkische Offensive gegen kurdische Kräfte in Syrien verschärft Krise in Washington

Der türkische Einmarsch im Norden Syriens, der am Mittwoch begann, hat einen politischen Aufschrei in Washington ausgelöst. Führende Republikaner, Demokraten und Vertreter des US-Militärs verurteilten die Entscheidung von US-Präsident Donald Trump, Ankara Grünes Licht zu geben und die kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) ihrem Schicksal zu überlassen. Die SDF war Washingtons wichtigste Stellvertretertruppe im so genannten Krieg gegen den IS.

Türkische Streitkräfte begannen ihre Offensive mit Vorstößen auf die Städte Tal Abyad und Ras al Ain östlich des Euphrat. Dabei wurden sie von den größtenteils sunnitisch-arabischen und turkmenischen Milizen der „Syrischen Nationalen Armee“ unterstützt.

Berichten zufolge kam es zu schweren Kämpfen zwischen dem türkischen Militär und Einheiten der syrisch-kurdischen Miliz YPG sowie zu zivilen Todesopfern auf beiden Seiten der Grenze. Das türkische Militär unterstützte den Vorstoß durch Luftangriffe und Artilleriebeschuss. Laut der staatlichen syrischen Nachrichtenagentur Sana wurden in drei Städten 16 Zivilisten getötet, darunter ein elfjähriger Junge.

Die kurdischen Streitkräfte feuerten daraufhin mit Granatwerfern. In der türkischen Stadt Akcakale, die nur durch die syrisch-türkische Grenze von Tal Abayad getrennt ist, wurden vier türkische Zivilisten getötet, darunter ein Baby.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan behauptete am Donnerstag in einer Rede vor hochrangigen Vertretern seiner Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), die türkischen Streitkräfte hätten in den ersten beiden Tagen 109 „Kämpfer“ getötet.

Die Gebiete, deren Ziel die türkische Offensive ist, werden von der kurdisch dominierten SDF kontrolliert, die Bewohner sind jedoch überwiegend sunnitische Araber aus Syrien. Als das Gebiet anfangs von der al-Qaida-nahen Al-Nusra-Front überrannt wurde, der damals wichtigsten Bodentruppe im US-Stellvertreterkrieg für einen Regimewechsel in Syrien, wurden kurdische Zivilisten unter Todesdrohung aus dem Gebiet vertrieben.

Erneut fliehen jetzt Zehntausende Bewohner des Gebiets vor den Kämpfen und aus Angst vor einer neuerlichen ethnischen Säuberung, diesmal verübt von der Türkei und ihren lokalen Verbündeten.

Es ist das erklärte Kriegsziel der Türkei, die SDF und die YPG von der türkischen Grenze zu vertreiben. Sie betrachtet beide als terroristische Organisationen und Ableger der PKK, der türkisch-kurdischen Organisation, gegen die sie eine jahrzehntelange blutige Aufstandsbekämpfungs-Kampagne geführt hat.

In deren Gebiet will das türkische Regime eine 480 Kilometer lange und 48 Kilometer breite „Schutzzone“ auf der Seite der syrischen Nordgrenze einrichten. Diese Zone soll mit 3,6 Millionen syrischen Flüchtlingen besiedelt werden, die heute in der Türkei leben. Eine solch massive Operation würde unvermeidlich die Vertreibung der syrischen Kurden von der türkischen Grenze bedeuten.

Ankara hat sich erst nach einem Telefonat zwischen Trump und Erdoğan am 6. Oktober für die Offensive entschieden. In diesem Gespräch kündigte der US-Präsident den Abzug von etwa 50 der 100 US-Soldaten an, die bei den SDF-Kämpfern im Grenzgebiet stationiert waren. Sie dienten bis dahin als Sperre für Vorstöße der Türkei.

Der Sender Fox News, der normalerweise Trump-Propaganda verbreitet, veröffentlichte einen Bericht seines Pentagon-Korrespondenten, der unter Berufung auf eine „gut informierte hochrangige Quelle aus dem US-Militär“ behauptete, der US-Präsident sei bei seinem Gespräch mit Erdoğan „vom Drehbuch abgewichen“. Laut der Quelle wurde Trump eine Liste mit Gesprächsthemen gegeben, darunter die Forderung, dass die türkischen Truppen nördlich der syrischen Grenze bleiben sollten.

Fox zitierte weitere Quellen, laut denen Trump mehrfach erklärt hatte, Washington solle „die Türken einfach machen lassen“, d.h. sie ihre Ziele im Norden Syriens verfolgen lassen.

Später wies Trump das US-Militär an, sich aus dem Konflikt herauszuhalten, obwohl die SDF das Pentagon um Luftunterstützung baten.

Am Donnerstag verteidigte Trump in einem Tweet seine Entscheidung, die US-Truppen zurückzuziehen. Gleichzeitig erklärte er seine Bereitschaft, auf türkische Kriegsverbrechen mit Sanktionen zu reagieren.

„Die Türkei plant schon seit Langem einen Angriff auf die Kurden. Sie kämpfen schon ewig. Wir haben keine Soldaten und kein Militär in der Nähe des Angriffsgebiets. Ich versuche die ENDLOSEN KRIEGE zu beenden. Ich rede mit beiden Seiten. Manche wollen, dass wir Zehntausende Soldaten in ... das Gebiet schicken und einen neuen Krieg ganz von vorne beginnen. Die Türkei ist Mitglied der Nato. Andere sagen, HALTET EUCH RAUS, lasst die Kurden ihre eigenen Schlachten schlagen (auch mit unserer finanziellen Hilfe). Ich sage, wir sollten die Türkei finanziell & mit Sanktionen sehr hart bestrafen, wenn sie sich nicht an die Regeln halten! Ich passe genau auf.“

Am Mittwoch rechtfertigte Trump seine Entscheidung bei einer Pressekonferenz mit der Behauptung, Washington habe „gewaltige Summen“ für die Bewaffnung und Finanzierung der SDF ausgegeben. Er warf den Kurden vor, sie hätten im Zweiten Weltkrieg nicht an der Seite der USA gekämpft: „Sie haben uns zum Beispiel nicht in der Normandie geholfen.“

Am Donnerstag beriet der UN-Sicherheitsrat bei einer Krisensitzung hinter verschlossenen Türen über den türkischen Einmarsch in Syrien. Die amerikanische UN-Botschafterin Kelly Craft schloss sich dort der Kritik der europäischen Vertreter an Ankaras Intervention nicht an, sondern wiederholte nur Trumps vage Andeutung, die Türkei solle sich „an die Regeln halten“.

Erdoğan wiederum drohte am Donnerstag als Reaktion auf die Kritik aus Europa, er werde „die Türen öffnen und euch 3,6 Millionen Flüchtlinge schicken“.

Trump warnte weder das Pentagon noch die Verbündeten der USA, die an der Intervention in Syrien beteiligt sind, vor seiner Entscheidung. Sie löste scharfen Widerspruch in den obersten Rängen des US-Militärs aus.

Die Washington Post schreibt, hohe Vertreter des Pentagons seien von Trumps Entscheidung „überrumpelt“ worden. Ein Vertreter der Regierung erklärte: „Es wäre noch untertrieben, wenn man sagen würde, das Militär sei sehr wütend darüber.“

Dies zeigt sich unmissverständlich in einer Kritik von General Joseph Votel, der erst im März als Kommandant der US-Truppen im Nahen Osten zurückgetreten ist.

Er schreibt in The Atlantic: „Diese politische Standortaufgabe droht fünf Jahre Kampf gegen den IS zunichte zu machen und wird die Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit Amerikas in künftigen Kämpfen erheblich schwächen, in denen wir starke Verbündete brauchen. ... Die SDF haben Zehntausende Quadratkilometer und Millionen Menschen aus dem Griff des IS befreit. Während dieses Kampfs hatten sie fast 11.000 Tote zu verzeichnen.“

Trump wurde auch von den Demokraten und einigen seiner engsten republikanischen Unterstützer im Kongress kritisiert. Diese sehen den Truppenabzug nicht nur als Verrat an den kurdischen SDF, sondern – von ihrem Standpunkt aus noch wichtiger – als Rückzug vom US-amerikanischen militärischen Aggressionskurs, der die Positionen Russlands und des Iran stärken könnte.

Der republikanische Senator Lindsey Graham, einer der standhaftesten Verteidiger Trumps, setzt sich gemeinsam mit dem demokratischen Senator Chris Van Hollen für einen Plan von Sanktionen gegen die Türkei ein. Diese sollen sich gegen hohe Regierungsvertreter wie Erdoğan selbst sowie gegen jede juristische Person richten, die den türkischen Streitkräften Waffen oder Energie liefert.

Ein solches Sanktionsregime würde die Beziehungen zwischen den USA und der Türkei noch weiter verschlechtern. Nach dem gescheiterten, von den USA unterstützten Putschversuch im Jahr 2016, dem Kauf von russischen S-400-Luftabwehrsystemen durch Ankara und Washingtons daraufhin erlassenem Verbot, der Türkei F-35-Kampfflugzeuge zu verkaufen, sind sie ohnehin stark angespannt.

In einem Interview mit Fox News bezeichnete Graham am Mittwoch Trumps Entscheidung zum Rückzug der US-Truppen aus Syrien als „den größten Fehler seiner Präsidentschaft“. Er fügte hinzu: „Alle Militärs haben ihm gesagt, er soll das nicht tun.“

Trump wies Grahams Kritik zurück und erklärte: „Ich glaube Lindsey würde dort noch 200 Jahre bleiben und vielleicht überall noch ein paar Hunderttausend Mann mehr stationieren.“

Der Vorsitzende des Geheimdienstausschusses des Repräsentantenhauses Adam Schiff, der die Amtsenthebungsuntersuchung wegen Trumps Gespräch mit dem ukrainischen Präsidenten führt, deutete an, dass sich sein Gremium auch mit der Unterhaltung mit Erdoğan und Trumps Entscheidung zu Syrien befassen würde. Er beschrieb sie als „impulsiv und gefährlich“.

Der Widerstand der Demokraten gegen Trump und ihr Amtsenthebungsverfahren basiert nur auf Fragen der „nationalen Sicherheit“ und drückt die Positionen seiner Gegner im Militär- und Geheimdienstapparat aus. Sie werfen dem US-Präsidenten eine nicht ausreichend aggressive Haltung gegenüber Russland vor und verurteilen ihn für seine Versuche, die US-Truppen aus Syrien und Afghanistan abzuziehen.

Dies hat Trump erlaubt, zu nationalistischer und populistischer Demagogie zu greifen und sich als Gegner von Washingtons zutiefst unpopulären endlosen Kriegen zu inszenieren, obwohl er die Militärausgaben auf ein Rekordniveau erhöht hat und noch viel blutigere Konflikte vorbereitet, u.a. eine militärische Konfrontation mit China.

Letzten Endes ist überhaupt nicht sicher, ob sich die USA tatsächlich aus Syrien zurückziehen werden. Auch nach dem Rückzug der wenigen Soldaten von der Grenze sind noch immer mehr als 1.000 US-Soldaten im Land. Man sollte daran erinnern, dass Trump letzten Dezember einen ähnlichen vollständigen Rückzug aus Syrien angeordnet, die Entscheidung aber angesichts von starkem Druck aus dem Pentagon und dem Rücktritt des damaligen Verteidigungsministers General James Mattis rückgängig gemacht hatte.

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