Mit seiner Reise nach El Paso (Texas) und Dayton (Ohio), an die Schauplätze zweier Massenerschießungen der letzten Tage, versuchte der amerikanische Präsident Donald Trump die Tatsache zu verschleiern, dass er selbst für den Tod von 31 Menschen die politische Hauptverantwortung trägt.
In beiden Städten, El Paso und Dayton, zeigte sich das gleiche Bild: Während Vertreter der Demokraten Trump am Flughafen begrüßten, boykottierten wütende Proteste der Einwohner sein öffentliches Auftreten vor der Menge. Noch bei der Wahl 2016 hatte der Präsident beide Staaten für sich gewonnen. In einem Krankenhaus in El Paso, in dem mehrere Opfer des Massakers behandelt werden, unterzeichneten Krankenschwestern und Ärzte eine Petition dagegen, dass der Präsident das Gebäude betrete.
Am 30. Juli hatte die World Socialist Web Site mit einem wichtigen Artikel auf Trumps rassistische Hetze über die Stadt Baltimore als ein „von Ratten und Nagern befallenes Chaos“ reagiert, in dem angeblich „kein Mensch leben“ wolle. Nur Stunden vor der Massenschießerei im kalifornischen Gilroy warnte die WSWS:
„Wörter haben Bedeutungen und Konsequenzen. Für die Beleidigung einer amerikanischen Stadt und ihrer Bürger durch einen amtierenden Präsidenten in solch unverhohlen rassistischen Worten gibt es in der Geschichte der Vereinigten Staaten keinen Präzedenzfall. Trump spielt mit dem Feuer, und das weiß er auch. Er und seine Berater glauben, dass seine rassistischen Kommentare nicht nur seine Anhänger auf der Rechten ermutigen und zusammenbringen werden. Trump rechnet auch damit, dass seine unverhohlenen Provokationen ein ohnehin instabiles politisches Umfeld mit einem immensen Gewaltpotenzial verschärfen und Bedingungen schaffen werden, die es ihm ermöglichen, diktatorische Vollmachten zur Aufrechterhaltung von ‚Recht und Ordnung‘ zu nutzen.“
Trump ist, um es ganz offen zu sagen, ein Komplize der Mordtaten. Aber die Bedeutung der Ereignisse geht über die Person von Trump hinaus. Die Schießereien und die Reaktion darauf markieren einen Wendepunkt in der amerikanischen Gesellschaft.
Am Dienstagabend löste in New York City die Fehlzündung eines Motorradvergasers eine Massenpanik auf dem Times Square aus, weil die Menschen eine weitere Massenschießerei befürchteten.
In einer Stadt, in der Zivilcourage und Selbstvertrauen groß geschrieben werden, verletzten sich mehr als ein Dutzend Menschen, weil sie voller Panik zu entkommen versuchten, in Restaurants und Häuser flüchteten und sich in vorbeifahrende Fahrzeuge zwängten.
Am Broadway musste eine Aufführung von Harper Lees „Wer die Nachtigall stört“ unterbrochen werden. Der Schauspieler Gideon Glick schrieb auf Twitter: „Wir haben unsere Show heute Abend wegen der Fehlzündung eines Motorrads unterbrochen, die mit einer Bombe oder einem Schuss verwechselt wurde. Schreiende Zivilisten versuchten, sich in unserem Theater in Sicherheit zu bringen. Das Publikum begann zu schreien, und die Schauspieler flohen von der Bühne. Das ist die Welt, in der wir leben, und das kann es nicht sein.“
So ist die Stimmung nach einer Woche, in der es drei große Schießereien gegeben hat. Die Tatsache, dass die Fehlzündung eines Motorrads in Amerikas größter Stadt, tausend Meilen von der letzten Schießerei entfernt, eine Panik auslöst, führt den verzweifelten Zustand der amerikanischen Gesellschaft vor Augen. Millionen von Menschen in den USA und weltweit werden sich bewusst, dass da etwas nicht stimmt.
Solche Schießereien gibt es in den USA nur allzu oft: in diesem Jahr 2019 bisher mehr als einmal pro Tag. Sie erzeugen ein enormes Maß an Nervosität und Unsicherheit. Amerikaner töten Amerikaner in Rekordzahl. Manch einer befürchtet, dass er selbst oder ein geliebter Mensch das nächste ahnungslose Opfer einer Massenschießerei sein könnte.
Seit langem bauen sich immense soziale Spannungen auf, was die Bedingungen dafür schafft, dass ein Bürgerkrieg ausbrechen könnte. Angesichts der großen politischen Verwirrung nimmt die Gesellschaft im bisherigen Verlauf pathologische Züge an. Um die gesellschaftliche Krankheit zu behandeln, müssen zunächst die Bedingungen identifiziert werden, unter denen die Krankheit auftritt.
Erstens hat die amerikanische Regierung die staatliche Gewalt verinnerlicht, weil sie seit dreißig Jahren Krieg führt. Gegen Länder wie den Irak, Jemen, Syrien, Afghanistan, Somalia, Libyen und Pakistan hat die US-Regierung beispiellose Gewalt entfesselt. Die Waffen der Kriege im Ausland setzt die Polizei im Innern gegen die eigene Bevölkerung ein und tötet straflos jährlich mehr als tausend Menschen.
In den letzten zwanzig Jahren ist ein ganzes Lexikon von Begriffen entstanden, die staatliche Gewalt bezeichnen. Beispiele dafür sind: „Shock and Awe“, „außerordentliche Überstellungen“, „Polizei-relevante Schießerei“ oder auch die „Dispositionsmatrix“, die Bezeichnung für eine Liste potentieller Drohnenmordziele. Diese Sprache ist ein Maßstab dafür, wie weit das amerikanische Leben schon von Gewalt durchdrungen ist. Heute schlägt diese Gewalt mit großer Wucht auf die amerikanische Gesellschaft zurück.
Zweitens sind alle Aspekte des politischen und sozialen Lebens von massiver sozialer Ungleichheit bestimmt. Die Reichen, die riesige Vermögen anhäufen, bilden die kriminellste und korrupteste Oberschicht, die es je in der Menschheitsgeschichte gegeben hat. Sie schwimmen im Reichtum, und jede Form von krimineller Bereicherung wird belohnt.
Die Person von Donald Trump verkörpert die übelsten Auswüchse des Kapitalismus: In ihm vereinigen sich die Wall Street, Immobilienspekulation und Casinokapitalismus mit dem TV-Showbusiness, dem Militär und den traditionellen Deals mit Demokraten und Republikanern.
Drittens versucht die Politik systematisch, jeden fortschrittlichen Ausdruck von sozialer Opposition gegen Ungleichheit und Krieg zu unterdrücken. Vor allem die Apparate des Staats, die Medien und die Gewerkschaften unterdrücken den Klassenkampf.
Das erzeugt ein tiefes Gefühl von Frustration und sozialer Entfremdung. Diese weit verbreiteten gesellschaftlichen Muster erzeugen und fördern jede Form von Psychopathie, wie sie die Amokläufer aufweisen.
Die Feststellung, dass diese Schießereien soziale Wurzeln haben, ist keine Entschuldigung für den Faschismus. Wie Leo Trotzki schrieb, ist der Faschismus eine Form der politischen Pathologie: Er ist die Politik der Verzweiflung. Wer sich an faschistischer Raserei beteiligt, ist auf Selbstmordmission und geht nicht davon aus, selbst zu überleben.
Die soziale Wut, die in der breiten Bevölkerung vorhanden ist, muss einen politisch fortschrittlichen Charakter annehmen.
International entwickelt sich ein anderer Prozess. Auf der ganzen Welt leiten immer mehr Arbeiter massenhaften Widerstand gegen soziale Ungleichheit. Die Welle der Massendemonstrationen, die Anfang 2019 einsetzte, hat sich im Lauf des Jahres ausgeweitet. Beispiele dafür sind die Lehrerstreiks in den USA und Polen, die Gelbwesten-Proteste in Frankreich und die Aufstände in Algerien, dem Sudan und vielen anderen Ländern.
Im Juli und August sind in Hongkong und Puerto Rico Massenproteste ausgebrochen, an denen sich ein erheblicher Anteil der Gesamtbevölkerung beteiligt. In den Demonstrationen, die die Straßen füllen, spielt die Arbeiterklasse eine immer wichtigere Rolle. Diese Entwicklung lässt zweifellos die internationalen Märkte erzittern. In den letzten Wochen fanden Proteste von ähnlichem Ausmaß in Honduras, Guatemala, Haiti, Nicaragua und anderen Ländern statt.
Ein Jahrzehnt nach dem Börsenkrach und der globalen Rezession von 2007–2008 erwacht auf der ganzen Welt die Arbeiterklasse, die nach Milliarden zählt. Kürzlich veröffentlichte Daten zeigen, dass die Zahl der Streiks und großen Proteste auf allen Kontinenten größer ist als zu jeder Zeit im 20. Jahrhundert.
Um der faschistischen Gewalt und ihren Helfern in der Trump-Administration entgegen zu treten, brauchen die Arbeiter eine Perspektive. Der Kampf gegen den Faschismus muss mit einem antikapitalistischen, antiimperialistischen und sozialistischen Programm verbunden sein, das sich der sozialen Bedürfnisse der internationalen Arbeiterklasse annimmt. Das globale Wirtschaftsleben muss der herrschenden Klasse aus der Hand genommen und auf einer geplanten, rationalen und sozialistischen Basis neu organisiert werden. Der Reichtum der Finanzaristokratie muss enteignet und bedarfsgerecht umverteilt werden.