Massenproteste erschüttern das Establishment Puerto Ricos und der USA

Am Montag demonstrierten in Puerto Rico Hunderttausende Menschen für den Rücktritt von Gouverneur Ricardo Rosselló. Berichten zufolge war es die größte Demonstration der Geschichte in einem US-Außengebiet.

Laut der Tageszeitung El Nuevo Dia nahmen eine halbe Million Menschen an dem „Marsch des Volkes“ teil. Er legte die Hauptstadt San Juan lahm und brachte die Geschäfte und den Verkehr zum Erliegen. Eine riesige Demonstration marschierte über die wichtigste Autobahn der Insel, den Expreso Las Américas.

Im Vorfeld dieser Massenmobilisierung fanden bereits elf Tage in Folge Demonstrationen statt. Die Rosselló-Regierung mobilisierte die Bereitschaftspolizei, worauf es zu Zusammenstößen kam. Die Forderung nach einem Generalstreik auf der ganzen Insel findet immer mehr Resonanz. Auch auf dem amerikanischen Festland kommt es in Städten mit großen puerto-ricanischen Gemeinden zu Solidaritätsdemonstrationen. Sowohl in San Juan als auch auf dem Festland riefen die Demonstranten: „Ricky, ¡renuncia, el pueblo te repudia!“ (Ricky tritt zurück, das Volk lehnt dich ab).

Lastwagenfahrer parkten ihre Fahrzeuge auf der zentralen Autobahn, damit die Demonstranten sie besetzen konnten. Eine Gruppe von Medizinstudenten erklärte den Medien, sie protestierten, weil die Bevölkerung in den Krankenhäusern nicht einmal die grundlegendste medizinische Versorgung erhalte. Die Regierung sei so korrupt, dass die Gelder für die Bedürfnisse der Bevölkerung „direkt in die Taschen der Politiker fließen“.

Um den Widerstand ins Leere laufen zu lassen, kündigte der Gouverneur an, er werde nächstes Jahr nicht zur Wiederwahl antreten und den Vorsitz seiner Partido Nuevo Progresista (PNP) abgeben. Diese Ankündigung hat die Wut der Bevölkerung jedoch nur noch weiter angeheizt. In einer Facebook-Liveübertragung bekräftigte Rosselló am Sonntag, er werde nicht zurücktreten und freue sich darauf, „die Macht an eine demokratisch gewählte Person zu übergeben“.

Allerdings ist Rosselló politisch isoliert. Wichtige Medien wie El Nuevo Día, die Jugendbewegung seiner eigenen Partei und andere politische Funktionäre fordern ebenfalls seinen Rücktritt.

Am Montag wurde Rosselló von einem Fox-News-Reporter aufgefordert, ihm einen politischen Unterstützer zu nennen. Daraufhin nannte er ihm den Bürgermeister von San Sebastian, Javier Jiménez, der jedoch später erklärte: „Es stimmt nicht, dass ich den Gouverneur unterstütze.“

Die Proteste sind eskaliert, seit das puerto-ricanische Zentrum für investigativen Journalismus fast 900 Seiten mit Nachrichten aus privaten Chats zwischen dem Gouverneur und hohen Vertretern seiner Regierung veröffentlicht hat. Der Inhalt dieser Chatnachrichten entlarvt die Verachtung, die das Establishment gegenüber den 3,2 Millionen Bewohnern der Insel hegt.

In einem Chat von 2017 tauschten Rosselló und sein oberster Finanzberater, Sobrino Vega, Witze über die vielen Leichen aus, die nach Hurrikan Maria in den Leichenhallen lagen: „Haben wir keine Kadaver mehr, um unsere Krähen zu füttern?“

Die Veröffentlichung dieser Chatnachrichten war nur der Funke, der die soziale Explosion entzündete. Die treibende Kraft waren jedoch die Fabrikschließungen und Entlassungen der letzten Jahrzehnte sowie die Austeritätsmaßnahmen, die unter Präsident Obama durchgesetzt wurden. Ein weiterer Grund waren die Zerstörungen durch Hurrikan Maria und die darauf folgenden Überschwemmungen, die etwa 5.000 Todesopfer forderten, hauptsächlich aufgrund der grob fahrlässigen Reaktion der Trump-Regierung und der lokalen Amtsträger.

Die Chatnachrichten kamen in der gleichen Woche heraus, als das FBI zwei ehemalige Spitzenkräfte der Rosselló-Administration verhaftete. Die ehemalige Bildungsministerin, Julia Keleher, und die geschäftsführende Direktorin der Krankenversicherung, Angela Avila Marrero, wurden beide vor einem Bundesgericht wegen Korruption angeklagt.

Keleher ist eine enge politische Verbündete von Trumps Bildungsministerin Betsy DeVos. Sie hatte den Hurrikan als Vorwand benutzt, um 283 öffentliche Schulen zu schließen und 5.000 Lehrkräfte zu entlassen. Die Folge waren Lehrerstreiks und Massenproteste.

Die World Socialist Web Site (WSWS) sprach Juan (58), der sich mit Gelegenheitsjobs durchschlägt. Er sagte: „Das ist ein historischer Moment in der Geschichte Puerto Ricos, von dem wir seit Jahren träumen. Bei diesen Protesten geht es nicht nur um die Chats, in denen der Gouverneur die Menschen dieses Landes beleidigt hat. Diese Proteste wurden seit 15 Jahren vorbereitet.

Es geht um die wirtschaftlichen Probleme, die unsicheren Arbeitsplätze, die Angriffe auf Arbeitnehmerrechte, die hohen Lebenshaltungskosten und das Diktat der Wall Street und der Wirtschafts-Junta. Das erinnert mich an die Invasion Puerto Ricos durch die USA im Jahr 1898. Diese Proteste sind fällig, weil das Land emotional erschöpft ist.“

Juan erzählte weiter: „Es ist wichtig, dass an den Protesten Jung und Alt teilnehmen. Die Alten kämpfen um ihre Rente, und die Jungen kämpfen für die staatlichen Schulen, die von der Privatwirtschaft zerstört werden. Es darf nicht mit dem Rücktritt des Gouverneurs enden, sondern das politische Leben in diesem Land muss sich komplett ändern.

Ich glaube, der gleiche Prozess findet in ganz Lateinamerika und in Europa statt. In diesem Kampf stehen auf der einen Seite die internationalen Interessen der Arbeiter, der Schutz der staatlichen Bildung und der Renten, und auf der anderen Seite steht das private Kapital. Das ist kein nationales Problem, das hat internationale Folgen.“

Mario, ein Student an der Universität von Puerto Rico in Piedras Negras, erklärte der WSWS: „Der Inhalt der Chats des Gouverneurs war natürlich schrecklich. Aber die PNP ist noch weiter nach rechts gerückt, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial. Die Sozialleistungen, die Lehrer-Renten und der ganze öffentliche Dienst, den die Regierung eigentlich stellen sollte – alles wurde gekürzt.

Diese Sparmaßnahmen haben die Gesellschaft gespalten. Auf der einen Seite stehen die Arbeiter und die Armen, auf der anderen die Vermögenden. Sie leben in zwei verschiedenen Welten, wenn auch im gleichen geografischen Gebiet.

Das Bildungssystem ist nach Klassen aufgeteilt. Die öffentlichen Schulen funktionieren nur schlecht mit einem winzigen Budget, und Privatschulen können die Leute sich nicht leisten. Keleher hat ihre Kürzungen mit der Behauptung gerechtfertigt, es sei kein Geld da. Aber jetzt wurde sie verhaftet, weil sie 15 Millionen Dollar gestohlen hat. Die herrschende Klasse und die Finanzjunta bestrafen die Arbeiterklasse zu Unrecht. Dieser Terrorismus treibt die Leute auf die Straße.“

Die WSWS sprach auch mit einem Studenten namens Anthony, dessen Großvater nach dem Hurrikan einen vermeidbaren Tod gestorben ist. Weil es keinen Strom gab, konnte er seine regelmäßige Dialysebehandlung nicht erhalten.

„Das ist ein weiteres Kapitel in der Geschichte der Plünderung öffentlicher Gelder durch die Regierung. Aber dieses Mal sind die Menschen nicht mehr bereit, sich diesen Unsinn gefallen zu lassen. Allen ist klar, dass die Gruppenchats nicht das Problem sind. Sie sind nur der Auslöser, der das Problem offenlegte.

Bei den Protesten geht es um Korruption, die Zerstörung der öffentlichen Bildung, die Millionen Dollar Spendengelder, von denen die Opfer des Hurrikans nie etwas gesehen haben. Die Entscheidung des Gouverneurs, nicht mehr für den Vorsitz seiner Partei zu kandidieren, stellt niemanden zufrieden. Alle, die an dem Komplott beteiligt waren, müssen zur Rechenschaft gezogen werden.“

Die Politiker der Insel versuchen, sich an die Stimmung der Bevölkerung anzupassen. Die Bürgermeisterin von San Juan, Carmen Yulín Cruz von der Partido Popular Democrático (PPD), forderte zwar ein Amtsenthebungsverfahren gegen Rosselló, aber nicht seinen sofortigen Rücktritt. Selbst US-Präsident Trump versuchte, sich von Rosselló zu distanzieren. Mehrere demokratische Präsidentschaftskandidaten, darunter Bernie Sanders, Elizabeth Warren und Tulsi Gabbard, haben nichtssagende Stellungnahmen veröffentlicht, in denen sie sich mit „den Menschen in Puerto Rico“ solidarisieren.

Die Demokraten sind genauso mitverantwortlich für die schrecklichen Bedingungen auf der Insel wie die Republikaner. Die Obama-Regierung hat im Namen der Wall Street und der reichen Aktionäre eine Finanzdiktatur errichtet, an der die gleichen Konkursrichter und Spekulanten beteiligt waren wie bei der Insolvenz von Detroit. Die finanzielle Umstrukturierung von Puerto Rico diente wiederum der Vorbereitung auf neue Angriffe auf dem Festland auf die Renten im öffentlichen Dienst.

Die Tatsache, dass für den Rücktritt Rossellós Hunderttausende Menschen auf die Straße gehen, hat das ganze politische Establishment der USA in Angst und Schrecken versetzt. Auch die Trump-Regierung ist isoliert. Sie versucht, die wachsende Radikalisierung der Arbeiter und Jugendlichen in den USA durch faschistische Ausfälle gegen Sozialismus und durch rassistische und migrantenfeindliche Hetze einzudämmen.

Auf dem Twitter-Account der Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez schrieben mehrere Kommentatoren, die amerikanische Bevölkerung solle ähnliche Massenkämpfe für den Rücktritt von Trump veranstalten.

In einem Post hieß es: „Wenn Puerto Ricaner das können, warum können wir es nicht? Wann ist genug wirklich genug?“

Ein anderer lautet: „Warum können wir das nicht hier machen? Den Sturz des derzeitigen beschissenen Präsidenten fordern? Das funktioniert offensichtlich. Die Mehrheit gewinnt. Wir müssen auf die Straße gehen und Gerechtigkeit fordern. Und zwar in allen amerikanischen Städten.“

Das ist jedoch das Letzte, was die Demokratische Partei will. Eine Massenbewegung der Arbeiterklasse für den Rücktritt Trumps könnte sich schnell zu einem Kampf gegen die Diktatur der Wirtschafts- und Finanzelite entwickeln, deren Interessen die Demokraten genauso rücksichtslos verteidigen wie die Republikaner.

Die Proteste in Puerto Rico sind das jüngste Beispiel für die wachsende weltweite Bewegung gegen Austerität und soziale Ungleichheit, deren Ursache das kapitalistische System selbst ist. Nachdem die Finanzelite 2008 die Weltwirtschaft zum Absturz gebracht hat, und die Politik ihr mehr als zehn Jahre lang unbegrenzt Geld zur Verfügung stellte, kommt es jetzt in ganz Amerika, Europa, Afrika und Asien zu immer neuen Streiks und Protesten.

Im Kampf gegen die Diktatur der Banker in Puerto Rico können die Arbeiter ihre sozialen Rechte auf der Insel nur verteidigen, indem sie an Arbeiter und Jugendlichen auf dem Festland appellieren. Gemeinsam müssen sie sich an einem international koordinierten Kampf der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus und für den Sozialismus beteiligen.

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