Verwaltungsgericht erlaubt Naziaufmarsch durch Kassel

Ausgerechnet am Samstag dem 20. Juli, dem 75. Jahrestag des gescheiterten Attentats auf Hitler, soll ein Naziaufmarsch der rechtsextremen Partei „Die Rechte“ durch Kassel führen. Der faschistische Aufmarsch ist eine offene Provokation für die Stadt, deren Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor sieben Wochen ein vorbestrafter Neonazi erschossen hat.

Am Dienstagabend hat das Verwaltungsgericht ein Verbot der Stadt Kassel wieder aufgehoben: Grünes Licht also für den Nazimarsch, den der Holocaustleugner Christian Worch, selbst ein vorbestrafter Neonazi, unter der Parole „gegen Pressehetze, Verleumdung und Maulkorbfantasien“ angemeldet hat.

Gegen den Aufmarsch der Rechten formiert sich breiter Widerstand in der Bevölkerung. „Kein Fußbreit den Mördern und Faschisten!“ – unter diesem Motto haben sich mittlerweile über hundert verschiedene Initiativen einem „Bündnis gegen Rechts“ angeschlossen und Gegenkundgebungen und Aktionen an zahlreichen Plätzen in Kassel angemeldet.

Seit dem Mord am 2. Juni gibt es in Kassel immer wieder große Demonstrationen mit mehreren tausend Teilnehmern gegen Rechts. Am 27. Juni nahmen vor dem Regierungsgebäude über 10.000 Personen an einem öffentlichen Gedenken an Walter Lübcke teil. Es ist offensichtlich, dass der überwältigende Teil der Bevölkerung nicht bereit ist, die Rückkehr des Faschismus zuzulassen.

Immer deutlicher wird dabei auch die Rolle, die der „Staat im Staat“ selbst spielt. Kassel ist ja auch die Stadt, in der vor dreizehn Jahren der neunte NSU-Mord stattfand, als Halit Yozgat in seinem Internetcafé erschossen wurde.

Genau wie Lübcke wurde auch Yozgat durch einen Kopfschuss aus nächster Nähe getötet. Auch ist der Täter im Fall Lübcke, der vorbestrafte Neonazi Stephan Ernst, gleichzeitig ein Bekannter des V-Manns Benjamin Gärtner (Deckname „Gemüse“). Dessen V-Mann-Führer war der damalige Verfassungsschützer Andreas Temme, dessen Anwesenheit bei dem Yozgat-Mord bis heute nicht geklärt ist.

Temme wurde damals aus dem Staatsdienst nicht entlassen, sondern vom Verfassungsschutz zum Regierungspräsidium versetzt (dessen oberster Chef ab 2009 Walter Lübcke war). Bis heute ist dieser neunte Mord des NSU-Trios nicht aufgeklärt. Trotzdem bleiben die Akten des hessischen Verfassungsschutzes zum NSU, die darüber Aufschluss geben könnten, 30 Jahre lang unter Verschluss. Das hat die hessische Landesregierung von CDU und Grünen beschlossen. Ursprünglich sollten es sogar 120 Jahre sein!

Auch im Mordfall Lübcke wird alles getan, um die enge Verflechtung des Täters mit einem rechtsextremen Terrornetzwerk zu verschleiern, das tief in den „Staat im Staat“, in die Geheimdienste, Polizei und Militär hineinreicht.

Zwar hat Stephan Ernst sein früheres Geständnis widerrufen, doch vor wenigen Tagen ist eine Waffe, die er zusammen mit andern auf dem Gelände seines Arbeitgebers vergraben hatte, zweifelsfrei als Tatwaffe identifiziert worden, Auch DNA-Spuren am Opfer haben zu Stephan Ernst geführt.

Sein Widerruf hat prozesstaktische Gründe. Er hat sein Geständnis widerrufen, nachdem er einen neuen Anwalt erhalten hatte: Rechtsanwalt Frank Hanning aus Dresden, einen in rechtsradikalen Kreisen bestens vernetzten Juristen.

Im Jahr 2015 hat Hanning, wie das Rechercheportal Correctiv.org aufdeckte, gemeinsam mit Lutz Bachmann eine Pegida-Gründungsversammlung geleitet und protokolliert. Der Anwalt, der laut Correctiv.org bis auf den heutigen Tag fleißig rechtsgerichtete Kommentare im Netz postet, sei früher in der DDR genauso fleißig für die Stasi tätig gewesen und habe schon als Schüler seine Mitschüler denunziert. Nach der Wende trat Hanning der CDU bei, machte sein Jura-Examen und gründete in Dresden eine Anwaltskanzlei.

Zahlreiche Verbindungen führen von den rechtsextremen Terrornetzwerken und Organisationen zu Pegida, zur AfD und zu den Staatsorganen. In Hessen ist die Verflechtung gewaltbereiter Nazis mit dem Verfassungsschutz so offensichtlich, dass Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) vor kurzem sogar während der Festspielpremiere in Bad Hersfeld darauf angesprochen wurde.

Dort forderte der Journalist Deniz Yücel, der in der Türkei wegen seiner journalistischen Tätigkeit ein Jahr unschuldig im Gefängnis saß, den Ministerpräsidenten auf, den Verfassungsschutz aufzulösen.

„Halit Yozgat wurde in Kassel in einem Internet-Café erschossen, im Beisein eines Beamten des hessischen Landes-Verfassungsschutzes. Es ist bis heute nicht aufgeklärt, was der Mann dort zu suchen hatte“, erklärte Yücel. „Über die ganze NSU-Sache ist die Rolle des Verfassungsschutzes nicht aufgeklärt. Und vor kurzem wurde abermals hier in der Nähe Walter Lübcke in seinem Garten erschossen, wir wissen es alle. Und auch hier steht die Frage nach der Rolle des Verfassungsschutzes im Raum.“

Yücel setzte hinzu: „Es gibt ja Leute, die sagen, der Verfassungsschutz sei die dümmste Behörde Deutschlands. Ich halte das für falsch. Ich glaube, der Verfassungsschutz – und ich meine damit sowohl die Bundesbehörde, als auch die Landesbehörden, Herr Bouffier, ich muss es leider so sagen – gerade auch der hessische Verfassungsschutz: Das ist nicht die dümmste Behörde Deutschlands, es ist die gefährlichste Behörde Deutschlands. Sie hat bewiesen, dass sie nicht reformfähig ist, und ich glaube, sie gehört aufgelöst.“

Wenig später erklärte auch der NSU-Opferanwalt Mehmet Daimagüler in der ZDF-Sendung Dunja Hayali: „Ich bin der festen Überzeugung: Der NSU war kein Trio. Der NSU ist Teil eines größeren Neonazi-Netzwerks mit Organisationen wie Combat-18, Blood & Honour. Diese Netzwerke gab es vor dem NSU, während dem NSU und auch heute noch, und sie sind hochgefährlich.“

Sieben Wochen nach dem Mord an Walter Lübcke ist alles bestätigt, wovor die Sozialistische Gleichheitspartei seit Jahren immer wieder warnt: „Angesichts wachsender sozialer und internationaler Spannungen kehrt die herrschende Klasse zu ihren autoritären und militaristischen Traditionen zurück. Unter dem demokratischen Lack, der den entnazifizierten Vertretern der deutschen Bourgeoisie nach Hitlers Untergang überpinselt wurde, scheint wieder die alte braune Farbe hervor.“

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