Das mächtigste Amt der Europäischen Union wird erstmals seit 1958 wieder von Deutschland besetzt. Die CDU-Politikerin Ursula von der Leyen tritt die Nachfolge Jean-Claude Junckers als Präsidentin der Europäischen Kommission an. Die bisherige deutsche Verteidigungsministerin wurde am Dienstagabend vom Europäischen Parlament mit knapper Mehrheit gewählt. Sie erhielt 383 Stimmen; erforderlich waren 374, die Hälfte der 750 Abgeordneten.
Der Wahl waren wochenlange Auseinandersetzungen, Absprachen und Manöver hinter den Kulissen vorangegangen. Der Europäische Rat, die Versammlung der Staats- und Regierungschefs, brauchte drei Gipfeltreffen und mehrere durchwachte Nächte, um sich mehrheitlich auf einen Vorschlag zu einigen. Und damit war die Mehrheit im Europäischen Parlament, das den Vorschlag des Rats bestätigen muss, noch lange nicht sicher.
Von der Leyen betrieb zwei Wochen intensive Lobbyarbeit, um eine Mehrheit zusammenzubekommen. Sie wurde dabei von einem ganzen Team unterstützt und versprach jedem, was er hören wollte. Die Bewerbungsrede, die sie am Dienstagmorgen abwechselnd in Deutsch, Französisch und Englisch vor dem Plenum des Parlaments in Straßburg hielt, hörte sich an, wie von einer Werbeagentur geskriptet.
Sie stellte ihre Rolle als Frau heraus und versprach, die Hälfte der Kommission mit weiblichen Mitgliedern zu besetzen. Sie bekannte sich zum Umweltschutz, als würde sie auf einer „Fridays for future“-Demonstration sprechen. Sie versprach einen besseren Mindestlohn und eine bessere Zukunft für die Jugend. Sie beklagte die 17.000 Toten im Mittelmeer – und gelobte, die Europäische Grenzschutzagentur Frontex schneller als geplant aufzurüsten! Sie präsentierte sich als glühende Europäerin, die in Brüssel aufgewachsen sei und erst mit dreizehn erfahren habe, dass sie auch Deutsche sei.
Die Rede richtete sich vor allem an die grünen und sozialdemokratischen Abgeordneten, damit diese für sie stimmen konnten, ohne sich vor ihren Wählern restlos bloßzustellen.
Die Rechnung ging auf. Am Ende stimmten die konservativen und liberalen Abgeordneten sowie zwei Drittel der Sozialdemokraten für von der Leyen. Die Grünen hatten sich gegen sie entschieden; viele äußerten sich aber äußerst positiv über die Kandidatin. Lediglich die Fraktionen der Linken und der Rechtspopulisten sprachen sich gegen von der Leyen aus. Die Nationalkonservativen legten sich nicht fest. Genau lässt sich das Wahlverhalten nicht feststellen, da die Abstimmung geheim war.
Mit der Wahl rückt die Europäische Union weiter nach rechts. Von der Leyen steht für verschärfte Sparmaßnahmen, Militarismus und Polizeistaatsaufrüstung. Sie ist seit der Wahl Angela Merkels zur Bundeskanzlerin Mitglied in deren Kabinett – vier Jahre als Familien-, vier Jahre als Arbeits- und sechs Jahre als Verteidigungsministerin. In diesen Funktionen hat sie einen drastischen Sozialabbau, eine massive Umverteilung der Einkommen und Vermögen zugunsten der Reichen und die größte Steigerung der Rüstungsausgaben seit der Wiedervereinigung vorangetrieben. In ihrer Zeit als Verteidigungsministerin stiegen die jährlichen Militärausgaben von 30 auf 45 Milliarden Euro, mit steigender Tendenz.
In Straßburg forderte von der Leyen, dass „Europa in der Welt eine stärkere und einheitliche Stimme haben" und „schnell handeln“ müsse. Man müsse deshalb „den Mut haben, außenpolitische Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit zu treffen und gemeinsam hinter ihnen zu stehen.“ Aus diesem Grund sei „die Europäische Verteidigungsunion gegründet“ worden. „Unsere Soldaten und Soldatinnen arbeiten Seite an Seite mit Polizisten, Diplomaten und Entwicklungshelfern" und „verdienen unseren größten Respet und unsere größte Anerkennung“, fügte sie hinzu.
Bereits vor fünf Monaten hatte von der Leyen auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2019 vor mehr als 600 Vertretern aus Politik, Geheimdiensten und Militär erklärt, „die Wiederkehr der Konkurrenz großer Mächte“ sei das „herausstechende Merkmal der neuen Sicherheitslage“.
„Ob wir wollen oder nicht, Deutschland und Europa sind Teil dieses Konkurrenzkampfs. Wir sind nicht neutral“, folgerte sie und forderte eine eigenständigere deutsch-europäische Verteidigungspolitik, die es Berlin und Brüssel ermöglicht, in den kommenden Großmachtkonflikten eine Rolle zu spielen. „Wir Deutschen sollten nicht so tun, als seien wir moralischer als Frankreich, oder menschenrechtspolitisch weitsichtiger als Großbritannien“, schloss sie ihre Rede.
Der Ausbau der Europäischen Union zu einer militäreschen Großmacht unter deutsch-französischer Vorherrschaft ist den auch das eigentliche Signal, das von der Wahl von der Leyens ausgeht. Ihr Kandidatur für den Kommissionvorsitz, der für viele überraschend kam, war von der deutschen Kanzlerin und dem französischen Präsidenten in Vieraugengesprächen ausgeheckt worden.
Für Emmanuel Macron ist von der Leyen aus mehreren Gründen akzeptabel. Sie hat die deutschen Militäreinsätze in Zentralafrika, wo die Bundeswehr eng mit der französischen Armee zusammenarbeitet, energisch vorangetrieben. Sie pflegt – trotz ihres Eintretens für eine Europäische Armee – gute Kontakte zur Nato und kann damit Polen und andere osteuropäische Staaten bei der Stange halten. Und vor allem dürfte die Übernahme des Chefpostens in der Europäischen Zentralbank durch eine Französin, die bisherige IWF-Chefin Christine Lagarde, nicht mehr aufzuhalten sein.
Die deutsch-französische Vorherrschaft in der Europäischen Union, die sich mit dem Austritt Großbritanniens noch verstärkt, wird die wachsenden Konflikte innerhalb der EU und die Spannungen zwischen Berlin und Paris nicht dämpfen. Ihr Versuch, die EU zu dominieren, wird die rechten, nationalistischen Kräfte weiter stärken, die in Osteuropa schon jetzt politisch dominieren.
Da Italien mit dem Posten des Parlamentspräsidenten und Spanien mit dem des Außenbeauftragten abgespeist werden, gehen die osteuropäischen und kleineren EU-Mitglieder bei der Verteilung der Spitzenposten diesmal leer aus. Lediglich Belgien soll das Amt des Ratspräsidenten erhalten.
Heftige internationale Konflikte – mit den USA, China, Russland und anderen Mächten – verschärfen auch die Differenzen innerhalb Europas. Erst diese Woche haben sich die Spannungen zwischen der EU und dem Nato-Mitglied Türkei wegen der Erschließung von Erdgasreserven vor Zypern dramatisch zugespitzt.
Ausgetragen werden diese Konflikte auf dem Rücken der arbeitenden Bevölkerung, die durch niedrige Löhne, prekäre Arbeitsverhältnisse und sinkende Löhne die Zeche für den Militarismus zahlen muss. Von der Leyen äußerte sich dazu in ihrer Wahlrede nur knapp, weil es unpopulär ist – aber die Aufrüstung des europäischen Überwachungs- und Polizeiapparats wird, neben der militärischen Aufrüstung, im Zentrum ihrer Kommissionpräsidentschaft stehen.