Was US-Außenminister Mike Pompeo am Dienstag der russischen Regierung in Moskau vorlegte, war ein unverblümtes Ultimatum: Sollte Russland nicht innerhalb von 60 Tagen sämtlichen von Washington definierten Verpflichtungen aus dem INF-Vertrag nachkommen, würden die USA einseitig daraus aussteigen.
Der Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) ist eins der letzten noch existierenden Rüstungskontrollabkommen aus dem Kalten Krieg. Die Drohung der USA mit ihrem Ausstieg verschärft erneut deutlich die Gefahr eines globalen Atomkriegs.
Die Frist von 60 Tagen war dabei eine Art Zugeständnis an die europäischen Mächte, vor allem an Deutschland. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte Trump beim G20-Gipfel in Buenos Aires dazu gedrängt, nicht wie ursprünglich geplant sofort aus dem INF-Vertrag auszutreten.
Die USA und die damalige Sowjetunion hatten den Vertrag 1987 unterzeichnet. Beide Länder verpflichten sich damit, auf den Einsatz aller landgestützten ballistischen Raketen und Marschflugkörper mit Reichweiten zwischen 500 und 5500 Kilometern zu verzichten.
Der letzte sowjetische Präsident, Michail Gorbatschow, der damals die Wiedereinführung des Kapitalismus einleitete, machte mit diesem Vertrag ein strategisches Zugeständnis an die USA. Deren Bestände an luft- und seegestützten Raketen stellten diejenigen der Sowjetunion weit in den Schatten.
Die Washington Post hat nun eine geheime Mitteilung von Trumps nationalem Sicherheitsberater John Bolton erhalten, in dem er den US-Außenminister anwies, „alle notwendigen Vorkehrungen“ für einen Austritt aus dem Vertrag „bis spätestens am 4. Dezember 2018“ zu treffen. Der US-Verteidigungsminister wurde angewiesen, „schnellstmöglich bodengestützte Raketen zu entwickeln und einsatzbereit zu machen“.
Washington übt zwar Druck auf die Nato aus, das Ultimatum an Russland zu unterstützen. Allerdings herrschen in Europa große Bedenken. Das Ende des Abkommens könnte bedeuten, dass die USA wieder Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa stationieren, was die Gefahr erhöhen würde, dass Europa zum Schauplatz eines nuklearen Schlagabtauschs zwischen den USA und Russland werden könnte. Die Stationierung amerikanischer Pershing II-Raketen in Deutschland löste in den 1980er Jahren Massenproteste gegen die Kriegsgefahr aus.
Laut der Washington Post haben Merkel und andere europäische Regierungsvertreter Trump erklärt, dass ein unmittelbarer Rückzug vom Vertrag ihnen „nicht genug Zeit lässt, der Bevölkerung den Kurswechsel zu erklären“.
Die Post schreibt: „Europäische Regierungschefs fürchten, ihre Wähler könnten Verständnis für die Argumente des Kremls entwickeln, dass die Vereinigten Staaten ein internationales Abkommen nach dem anderen zerreißen. Schließlich hat Trump bereits beschlossen, aus dem Pariser Klimaschutzabkommen und aus dem Atom-Deal mit dem Iran auszusteigen.“
Mit anderen Worten, die europäischen Staatschefs befürchten, dass ihre Bevölkerungen in diesem Schritt das sehen, was er auch wirklich ist: eine Verschärfung der Aggression des US-Imperialismus. Auch fürchten sie, dass die Antikriegsstimmung in der Bevölkerung mit den Klassenspannungen zusammenkommt, die sich schon seit Wochen in Frankreich Luft machen.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, ein zuverlässiger Vasall der US-Interessen, reagierte auf die Entwicklung mit den Worten: „Ich bedauere, dass wir jetzt vermutlich das Ende des INF-Vertrags erleben. Als sich die USA und die Sowjetunion 1987 darauf einigten, glaubten wir wirklich, die Welt gehe einen Schritt vorwärts.“
Die 60-tägige Frist, bevor die USA offiziell von dem Vertrag zurücktreten, soll Russland die Zeit verschaffen, seine angeblichen Verstöße gegen den Pakt einzustellen. Allerdings deutet nichts darauf hin, dass Moskau irgendetwas tun könnte, um Washingtons Forderungen zu erfüllen. Wie Russland immer wieder betont, hält es sich durchaus an den Vertrag. Zudem ist klar, dass die Trump-Regierung an der Aufrechterhaltung des INF-Vertrags gar kein Interesse hat.
US-Außenminister Pompeo machte bei der Ankündigung eines zweitägigen Treffens der Nato-Außenminister deutlich, dass die USA mit ihrem Rücktritt vom Vertrag gar nicht in erster Linie Russland für irgendein Fehlverhalten bestrafen wollten. Vielmehr sollten damit die strategischen Vorteile der USA in einem künftigen Krieg mit Russland und China verbessert werden. Pompeo erklärte: „Es gibt keinen Grund, warum die USA diesen entscheidenden militärischen Vorteil revisionistischen Mächten wie China überlassen sollten.“
China hat das bilaterale Abkommen von 1987 nicht unterzeichnet und seine eigenen landgestützten Kurz- und Mittelstreckenraketen entwickelt. Damit versucht es, den Umzingelungsversuch der USA zu parieren, denn diese haben im Rahmen ihrer „Pivot to Asia“-Strategie ihre Truppen im Pazifik und in Ostasien massiv aufgestockt.
Russland hat mehrfach dementiert, mit seinen Raketensystemen gegen den INF-Vertrag zu verstoßen. Stattdessen wirft die russische Regierung den USA vor, dass ihre in Rumänien und Polen stationierten Aegis-Kampfsysteme gegen den Vertrag verstoßen, weil deren Raketen leicht zu Trägern von Marschflugkörpern umgebaut werden können.
Der russische Präsident Wladimir Putin höhnte am Mittwoch über Pompeo, seine Ankündigung der Absichten Washingtons komme „reichlich spät“.
Die Vereinigten Staaten hätten die Entscheidung, sich aus dem INF-Vertrag zurückzuziehen, „längst getroffen“ und erst danach angefangen, „darüber nachzudenken, wen sie beschuldigen könnten“. Nun zu sagen: „Russland ist schuld“, sei die einfachste Lösung. Putin fügte hinzu: „Wie üblich liefern sie für unsere angeblichen Verstöße keine Beweise.“
Der russische Präsident fügte hinzu, sollten die USA nun neue Mittelstreckenwaffen entwickeln, dann wäre Moskaus Reaktion „ganz einfach: Wir werden das Gleiche tun.“
Washington Kurs auf die Stationierung von Atomwaffen trägt Züge des Wahnsinns. Mit diesen Raketen, die ihre Ziele innerhalb weniger Minuten erreichen, könnte sich innerhalb kürzester Zeit ein nuklearer Schlagabtausch entwickeln.
Der riskante Kurs auf ein atomares Wettrüsten kommt in einer Situation, wo bereits zahlreiche militärische Krisenherde glimmen. Ein Krieg zwischen den beiden größten Atommächten der Welt könnte gleich an mehreren Stellen ausbrechen.
Ein Beispiel dafür lieferte vor wenigen Tagen die Provokation der Ukraine im Asowschen Meer. Dort kam es erstmals seit dem faschistischen Putsch, den die USA 2014 in Kiew unterstützt hatten, zur direkten Militärkonfrontation zwischen russischen und ukrainischen Truppen.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Kurz darauf schickten die USA am 5. Dezember einen Lenkraketenzerstörer in die Nähe von Wladiwostok, vor den Basishafen der russischen Marine, angeblich um die „Freiheit der Seefahrt“ zu sichern.
Hinter der Entscheidung, den INF-Vertrag zu brechen, und hinter der gesamten amerikanischen Kriegspolitik in Nahost, Asien und Osteuropa steht die Krise des kapitalistischen Systems. Der Widerspruch zwischen der globalen Wirtschaft und dem veralteten Nationalstaatensystem wird immer schärfer. Besonders seit der Auflösung der Sowjetunion und der stalinistischen Staaten versucht der US-Imperialismus, den Niedergang seiner wirtschaftlichen Stellung mit militärischen Mitteln auszugleichen.
Bezeichnend war die Art und Weise, wie das Magazin National Defense, eine Fachzeitschrift des militärisch-industriellen Komplexes, auf die Ankündigung des Ultimatums zum INF-Vertrag reagierte: Seine Autoren spekulierten darüber, wie hoch wohl die Profite der Rüstungskonzerne ausfallen würden, wenn die Produktion der neuen Kurz- und Mittelstreckenraketen tatsächlich anlaufen werde.
In dem Artikel heißt es, laut dem staatlichen Rechnungshof habe es „692 Millionen Dollar gekostet, die Pershing II-Raketen zu planen, zu entwickeln, zu testen und auszuwerten. Die Anschaffung von 247 Raketen hat demnach 1,76 Milliarden Dollar gekostet. Bei dem konventionellen, bodengestützten Marschflugkörper GLCM, der damals eingesetzt wurde, beliefen sich die Kosten für Forschung, Entwicklung, Tests und Auswertung auf 383 Millionen Dollar, und die Anschaffung von 442 Raketen kostete 2,72 Milliarden Dollar.“
Angesichts der steigenden Kosten wäre der Kurs auf einen Atomkrieg mit Profiten in zweistelliger Milliardenhöhe verbunden. Schon vor dem offenen Bruch des Vertrags geht man davon aus, dass die Ausgaben der USA für Atomwaffen in den nächsten dreißig Jahren die Grenze von 1,7 Billionen Dollar überschreiten werden. Diese riesigen Summen sollen aus der Arbeiterklasse herausgepresst werden. Sie werden bei den Sozialausgaben eingespart, mit denen Arbeitsplätze, Wohnungen, Gesundheitsversorgung, Bildung und andere grundlegende Bedürfnisse der Bevölkerung finanziert werden.
Führende Demokraten, die in den Senatsausschüssen für Außenpolitik, Militär und Geheimdienst sitzen, schickten Trump am 3. Dezember einen Brief. Darin fragten sie, ob die Art, wie er aus dem Vertrag austrete, nicht „von Russlands Fehlverhalten und bösartigem Verhalten“ ablenke, und warum er sich nicht mit dem Kongress beraten habe. Er könne keine „strategische Alternative“ vorweisen.
Allerdings hatte Trump seine Entscheidung zum Rückzug aus dem INF-Vertrag am 20. Oktober, mitten im Zwischenwahlkampf, bekanntgegeben. Obwohl diese Entscheidung das Überleben der gesamten Weltbevölkerung bedroht, hielten es weder die Demokratischen Parteiführer noch ihre Kandidaten für notwendig, im Wahlkampf darauf einzugehen. Stattdessen konzentrierten die Demokraten ihren Widerstand gegen die Trump-Regierung auf den Vorwurf der „Zusammenarbeit“ mit Moskau in der Präsidentschaftswahl 2016, sowie den Vorwurf, Trump sei gegenüber Russland zu „nachgiebig“.
Auch die Medien gehen kaum darauf ein, dass eins der letzten Abkommen zur Verhinderung des offenen Wettrüstens abgeschafft werden soll, und dass dies sehr rasch zum Atomkrieg führen könnte. Weder die New York Times noch die Washington Post erwähnten dies auf ihrer Titelseite.
Keine Fraktion unter den herrschenden Kreisen, weder in den USA noch in Europa, tritt ernsthaft gegen den Krieg auf. In den USA rühren die Demokraten und Mainstreammedien keinen Finger, um die Bevölkerung auch nur über die wachsende Gefahr eines globalen nuklearen Flächenbrandes zu informieren.
Auf diese Bedrohung gibt es nur eine Antwort: Die internationale Arbeiterklasse muss sich in einer massenhaften neuen Antikriegsbewegung zusammenschließen und dem Kapitalismus den Kampf erklären.