Am Mittwoch zogen mehrere Hundert Flüchtlinge, Schüler und Studenten durch Halle, um gegen die flüchtlingsfeindliche Politik der Bundesregierung zu protestieren. Zu der Demonstration unter dem Motto „Anker lichten! Bleiberecht, volle Kraft voraus!“ hatten die Organisation „Jugendliche ohne Grenzen“, ein Zusammenschluss junger Geflüchteter und ihrer Unterstützer, das Bündnis „Halle gegen Rechts“ und der Flüchtlingsrat von Sachsen-Anhalt aufgerufen. Laut Veranstalter kamen bis zu 600 Teilnehmer.
Anlass ihrer Proteste war die Innenministerkonferenz (IMK), die vom 6. bis 8. Juni in Quedlinburg beim Harz stattfand. Zweimal jährlich treffen sich die Innenminister aller Bundesländer, um ihre Arbeit zu koordinieren. Diesmal standen die Verschärfung der Asylpolitik und die innere Aufrüstung auf der Agenda. Zu den Hauptthemen zählten die Einrichtung sogenannter Anker-Zentren für Flüchtlinge, die Aufklärung des angeblichen „Skandals“ im Bundesamt für Migration (Bamf) und die Forderung eines Musterpolizeigesetzes als Blaupause für alle Bundesländer.
Die jungen Demonstranten wiesen in ihrem Aufruf die Politik der „Abschreckung, Isolation und Kasernierung“ scharf zurück: „Der migrationspolitische Kurs der (neuen) Bundesregierung ist so menschenverachtend, dass sie sich gezwungen sieht, klarzustellen: Fluchtursachen, nicht Flüchtlinge sollen bekämpft werden. In Anbetracht der geplanten Gesetze sowie der Äußerungen des Heimat- und Bundesinnenministers ist das jedoch bloße Augenwischerei.“
Insbesondere die geplanten Anker-Zentren, in denen Geflüchtete bis zu 18 Monate kaserniert werden sollen, werden scharf kritisiert. „Schutzsuchende Menschen werden kontrolliert und nach Ablehnung ihres Asylantrags ohne Zeugen abgeschoben. Integration wird um jeden Preis verhindert“, heißt es in dem Aufruf. „Die räumliche Isolation sorgt dafür, dass Geflüchtete keine Arbeit finden, keine Rechtsberatung aufsuchen, keinen Anwalt beauftragen und nicht zum Arzt gehen können. Sie sind schutzlos der Behördenwillkür ausgesetzt, ohne dass dies von der Öffentlichkeit bemerkt und Protest laut werden könnte.“
Die Abschiebungen torpedieren die Grund- und Menschenrechte, so der Aufruf. „Die durchgesetzten und geplanten Asylrechts-Verschärfungen von Deutschland und der EU – wie der EU-Türkei-Deal, die Aussetzung des Familiennachzugs oder die Einstufung sicherer Herkunftsländer – höhlen das Recht auf Asyl aus und missachten die Menschenwürde.“ Deshalb fordern sie u.a. ein bedingungsloses Bleiberecht, Bildungszugänge für Kinder und Jugendliche unabhängig vom Aufenthaltsstatus und die Abschaffung der Abschiebehaft.
Mitglieder der IYSSE sprachen in Halle mit der Schülerin Leen Katarangie, die von ihren eigenen Erfahrungen mit der brutalen Asylpolitik berichtete. Sie floh selbst vor zwei Jahren über das Mittelmeer nach Europa und kam über die Balkanroute nach Deutschland. Jetzt lebt sie in Hessen und setzt sich bei „Jugendliche ohne Grenzen“ dafür ein, dass auch Flüchtlinge über 18 Jahren ein Recht auf Schulbesuch bekommen.
Wütend erzählt sie von der Abschiebung eines afghanischen Mitschülers: „Er war drei oder vier Tage nicht mehr in der Schule. Dann mussten wir erfahren, dass er abgeschoben wurde. Sie gehen einfach ins Flüchtlingsheim und nehmen die Menschen fest.“ Er sei ein guter Schüler gewesen, der schnell Deutsch gelernt hatte. „Wir Schüler haben dann Unterschriften gesammelt und mit dem Schulleiter gesprochen.“ Bei einer Versammlung vor der Schule hätten sie gefordert, dass ihr Mitschüler zurückkommt. Die Unterschriften reichten sie bei Gericht ein. „Wir hoffen, dass etwas passiert. Er wurde nach Griechenland abgeschoben, weil er dort seine Fingerabdrücke gegeben hatte. Jetzt wartet er da im Flüchtlingslager.“
Leen, die auch nur einen zweijährigen subsidiären Schutz hat und danach eine Verlängerung beantragen muss, kritisiert die Doppelmoral der deutschen Politik: „In meinem Land Syrien finanzieren sie Waffen und sagen gleichzeitig, dass sie keine Flüchtlinge wollen.“ Sie ist deshalb heute hier, um laut für ihre Rechte einzustehen. „Wir müssen dafür kämpfen, hier zu bleiben.“
Der 26-jährige Flüchtling Alex, der in Halle wohnt und wie viele junge Leute mit dem Fahrrad zur Demonstration gekommen ist, betont: „Es muss ein gleiches Recht auf Wohnen für alle in der Welt geben.“ Auf die Frage, woher er kommt, wiegt er mit dem Kopf: „Ich glaube nicht an Ländergrenzen, das ist alles menschengemacht.“ Eigentlich sei er in einem kleinen Ort in Afghanistan geboren, aber 2006 – als er erst 14 Jahre alt war – floh er vor dem Krieg nach Europa und wuchs in Griechenland auf, wo ihn eine griechische Familie unterstützte.
Nach der Schule arbeitete er als freiwilliger Dolmetscher für andere Einwanderer, aber im Zuge der Wirtschaftskrise in Griechenland konnte er dann keinen Job mehr finden. Deshalb reiste er schließlich nach Deutschland. „Ich habe aber keine guten Papiere und darf hier nicht arbeiten. Manchmal helfe ich anderen als Dolmetscher, aber ohne Bezahlung. Ich bekomme keinen Cent Unterstützung.“
Über die Lage in Afghanistan berichtet er entsetzt: „Sie sagen, Afghanistan sei sicher – das ist ein Theaterspiel, es ist nicht wahr. Es ist ähnlich schlimm wie in Syrien oder anderen Ländern. Die Leute fliehen vor dem Krieg.“ Er selbst hat noch ein einjähriges Visum, danach könnte ihm auch die Abschiebung drohen. „Wir sind nicht den langen Weg hier nach Deutschland gekommen, um dann ins Flugzeug zu steigen und nach Afghanistan abgeschoben zu werden.“
Die Kriege im Nahen Osten werden aus seiner Sicht vor allem um Ressourcen und Geld geführt. Deutschland und andere Länder sollten keine Waffen dorthin schicken und die Regierung in Afghanistan nicht unterstützen, so Alex. Diese würde die Bevölkerung nur ausbeuten.
Er ist auch beunruhigt über den Aufstieg der rechtsextremen AfD: „Mich erinnert die AfD an die Nazis und Hitler. Damals haben sie die Juden verfolgt, heute passiert wieder das gleiche. Warum kommt wieder eine solche Partei hier in Deutschland in den Bundestag?“
Auf zahlreichen selbstgemachten Transparenten prangerten die Demonstranten die Flüchtlingspolitik an. „Jugendliche ohne Grenzen – Teil der Anti-Abschiebe-Industrie und stolz drauf!“, heißt es da zum Beispiel in Anspielung auf die Aussage von CSU-Politiker Alexander Dobrindt, der alle Personen und Organisationen, die sich für die Belange der Flüchtlinge einsetzen, als „Anti-Abschiebe-Industrie“ verunglimpft hatte.
Eine Vertreterin der Veranstalter erklärte gegenüber dem Radiosender Corax: „Wir erleben hier ein Revival der neunziger Jahre. Wir sind auch hier, weil wir nicht wollen, dass Lichtenhagen und Rostock sich wiederholen.“ Schon damals hätten sie den zunehmenden Rassismus zum Anlass genommen, um die Asylgesetze zu verschärfen.
Auch Flüchtlinge aus Ellwangen waren in Halle, um sich gegen die zunehmende Polizeigewalt und die Hetze der AfD auszusprechen. Anfang Mai hatte die baden-württembergische Polizei in einem riesigen Großeinsatz die Flüchtlingsunterkunft in Ellwangen gestürmt und die Menschen aus dem Schlaf gerissen und terrorisiert.
Mitglieder der IYSSE verteilten Flugblätter, in denen sie aufzeigten, wie die fremdenfeindliche Politik der rechtsradikalen AfD von allen Bundestagsparteien übernommen wird. Sie erklärten, dass der Kampf gegen rechts und zur Verteidigung der Flüchtlinge einen gemeinsamen Kampf der internationalen Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus erfordert.