Die Retrospektive der diesjährigen Berlinale, „Weimarer Kino – neu gesehen“, stellte Filme vor, die wie viele ihrer Regisseure in den letzten Jahrzehnten in Vergessenheit geraten sind. Dies ist der zweite Teil der Besprechung. Der erste findet sich hier.
Über die deutsche Arbeiterbewegung der 1920er Jahre zu sprechen, heißt über ihre politische Lähmung sprechen, die letztlich die Machtergreifung des Faschismus ermöglichte. Die beiden folgenden Spielfilme reflektieren eine Stimmung unter Arbeitern Ende der 20er Jahre, die im Gegensatz stand zur Praxis der beiden großen Arbeiterparteien SPD und KPD: ihr Bedürfnis nach gemeinsamen Kampf und internationaler Solidarität.
Zu den interessanten Entdeckungen der Retrospektive gehörte der Stummfilm „Brüder“ (1929) von Werner Hochbaum. Der Regisseur (1899˗1946) stand politisch der SPD nahe. Für die Reichstagswahlen 1930 drehte er zwei SPD-Wahlwerbefilme. „Brüder“ wurde von der SPD und der Gewerkschaft der Transportarbeiter (Deutscher Verkehrsbund) angeregt. Der Vorspann weist den „Film- und Lichtbilddienst“ der SPD als Filmverleih aus.
Der Film ist Hochbaums erklärter Versuch, nach dem Vorbild des sowjetischen Revolutionsfilms einen „deutschen proletarischen Film zu schaffen“. An Stelle des niedergeschlagenen Matrosenaufstands in Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ erinnert Hochbaum an den militanten elfwöchigen, gewaltsam niedergeschlagenen Hamburger Hafenarbeiterstreik von 1896/97.
Ein Hafenarbeiter, der geschwächt unter der Last eines Sackes zusammenbricht, wird zum Katalysator der Massenbewegung. Die Arbeiter fordern mehr Lohn. Das wird abgelehnt: Streik. Das traditionelle Streikkomitee akzeptiert nur widerwillig den Willen der Belegschaft. Man ist der Meinung, der Erfolg sei vage, die Organisation zu klein, die Unterstützung zu gering. Der Winter stehe vor der Tür. Als es zum Streik kommt, beschützt die Polizei die vom Unternehmen angeheuerten Streikbrecher und sucht nach den Rädelsführern. Die Not zwingt die Arbeiter letztlich zur Aufgabe. Der militante Initiator des Streiks kommt ins Gefängnis. Trotz der Niederlage, erklärt er eindringlich, sei der Streik notwendig gewesen.
Der ausschließlich mit Laien gedrehte Film war 1929 hochaktuell. Unmittelbar vor Ausbruch der Wirtschaftskrise gingen die Arbeitgeber mehrerer Industriezweige in die Offensive. Gerade hatte der 14-wöchige große Werftarbeiterstreik für eine Verkürzung der Arbeitszeit von 52 auf 48 Stunden pro Woche mit einer Niederlage der Arbeiter geendet. Es war SPD-Reichsarbeitsminister und ADGB-Mitglied Rudolf Wissel, der mit seinem Schlichterspruch den Streik beendete und unter Arbeitern für Empörung sorgte.
„SPD und Gewerkschaften hatten 1929 demnach ein Legitimationsproblem“, stellt der Retrospektive-Katalog fest.
Der SPD-Schlichterspruch, der eine 50-Stundenwoche festsetzte, musste Arbeiter mit Bitterkeit erfüllen. Schließlich hatte im deutschen Revolutionsjahr 1918 die provisorische SPD-Regierung von Friedrich Ebert bereits aus Angst vor einer Räterepublik nach russischem Vorbild den Achtstundentag und damit die 40-Stundenwoche eingeführt. Zur allgemeinen Empörung trug bei, dass die SPD, die noch im Wahlkampf zu den Reichstagswahlen 1928 den Kampf gegen Wiederaufrüstung ins Zentrum gestellt hatte, in der folgenden Großen Koalition unter Hermann Müller (SPD) für die Finanzierung eines modernen Panzerkreuzers stimmte.
Gleich die Eröffnung des Films mit dem Satz in Anlehnung an das Kommunistische Manifest, „Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte ihrer Klassenkämpfe“, stellt den Streik in eine revolutionäre Tradition. Die aufsteigende rot-kolorierte Fahne am Ende ist ermutigende Erinnerung, dass die Niederlage der Matrosen 1905 letztlich Auftakt des revolutionären Siegs von 1917 war. Mehrmals bekräftigt der Film die Notwendigkeit des „Weitermachen“. Am Schluss steht Liebknechts: „Trotz alledem!“ Zweifellos steckt in dem Film viel von der Empörung und Verbitterung von Arbeitern über die Rechtsentwicklung der SPD bis 1929.
Doch es schwingt auch etwas von jener Art Beschwichtigung mit, die Niederlagen zu moralischen Siegen verklärt und den revolutionären Sieg in unbestimmte Zukunft verlegt. Bilder vom brutalen Vorgehen der Staatsmacht gegen die Streikenden erinnern daran, dass es 1897 noch kein Streikrecht gab. Und was ist der Kompromiss der 50-Stundenwoche gemessen an den 36-Stundenschichten von damals, auf die der Film mehrmals hinweist.
Wenig überzeugend ist die Geschichte der zwei ungleichen Brüder: Militanter streikender Arbeiter der eine, Polizist der andere. Nach der Tötung eines Arbeiters durch eine Polizeikugel kommt jener zu sich und hilft seinem Bruder. Nachdenklich legt er die Insignien der staatlichen Macht, Helm und Säbel, auf den Schreibtisch. Die Realität sah anders aus. Als kommunistische Arbeiter das ihnen entzogene Demonstrationsrecht für den 1. Mai 1929 verteidigten, wurden bei dem vom Berliner SPD-Polizeipräsident Zörgiebel angeordneten Polizei-Großeinsatz etliche Arbeiter erschossen. Das geschah nur wenige Wochen nach der Uraufführung von „Brüder“.
Der deutsch-französische Spielfilm „Kameradschaft“ (französisch: „La Tragédie de la mine“) stellt einen Höhepunkt im Schaffen von Georg Wilhelm Pabst („Westfront 1918“, 1928) dar. Vorlage war das Grubenunglück von Courrières von 1906. Die mit über 1000 Todesopfern bis heute größte europäische Bergbaukatastrophe stieß weltweit auf Resonanz, unter anderem auch deshalb, weil trotz der angespannten Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich ein Rettungstrupp Freiwilliger aus dem Ruhrgebiet den französischen Kumpel zu Hilfe eilte.
Pabst verlegte die Handlung in das Jahr 1919. Er setzt damit dem von nationalistischen Interessen diktierten Versailler Vertrag der Siegermächte des Ersten Weltkriegs die internationale Solidarität der Arbeiter entgegen.
Noch ist der Krieg in den Köpfen der Arbeiter lebendig, und in einer französischen Grenzkneipe, in die die deutschen Bergleute kommen, flammt kurz alter Hass auf, als das französische Mädchen Françoise nicht mit dem jungen Deutschen tanzen möchte, wenn auch aus ganz privatem Grund. Zu einer alptraumhaften Szene kommt es während des Unglücks unter Tage, als einer der eingeschlossenen französischen Kumpel, nach Luft ringend, sich wieder im Krieg wähnt. Er kämpft gegen den vermeintlichen Feind, der in Wirklichkeit zu den deutschen Rettungskräften gehört.
Der Film von Pabst unterscheidet sich von früheren Filmen über das Arbeitermilieu wie dem Retrospektive-Film „Die Unehelichen“ (1926) von Gerhard Lamprecht („Der Katzensteg“). In jenem Film über die Kinderarmut in Berlin ist die Arbeiterklasse ausschließlich die leidende Klasse. Da gibt es sehr realistische Bilder von Mietskasernen, unmöglichen Wohnbedingungen, Krankheit, Hunger und rückständiger Brutalität, die damals Aufsehen und Mitleid erregten. Geradezu devot appelliert der Film an die Solidarität der Wohlhabenden.
In „Kameradschaft“ dagegen ergreifen die Arbeiter ohne groß zu fragen die Initiative, donnern ohne Passierschein mit dem LKW über die Grenze nach Frankreich und reißen im Stollen das Gitter ein, das französische von deutschen Bergarbeitern trennt.
Das Überzeugende an dieser Demonstration von Internationalismus ist nicht nur die Echtheit der Bilder, in denen der sowjetische Einfluss unverkennbar ist. Sie zeigt vor allem die Kraft, die in einem gemeinsamen Kampf von Arbeitern über die Grenzen hinweg steckt. Das verleiht dem Film auch heute Aktualität.
Ebenso real (und bitter) ist allerdings auch der Schluss nach der Rettungsaktion. Unter Tage wird sorgfältig, bürokratisch die alte Ordnung wieder hergestellt. Die Zollbeamten reparieren das eingerissene Gitter wieder. Damit geht der Film über den pazifistischen Traum von Brüderlichkeit hinaus, wie er sich noch in Pabsts Film „Westfront 1918“ findet. Der Drang von Arbeitern, sich über die Grenzen hinweg zusammenzuschließen, genügte nicht, die erneut drohende Gefahr von Nationalismus und Krieg zum Zeitpunkt der Uraufführung des Films 1931 zu stoppen.
Die Politik der beiden großen Arbeiterparteien – der SPD, die jeden Widerstand gegen die herrschende Klasse und die Staatsmacht zu unterdrücken suchte; und der KPD, die die SPD als „sozialfaschistisch“ bezeichnete und eine Einheitsfront gegen den Faschismus untergrub – führte letztlich zum Sieg Hitlers 1933.