Fast sechs Monate nach der Bundestagswahl ist die CDU-Vorsitzende Angela Merkel am Mittwoch zum vierten Mal zur deutschen Bundeskanzlerin gewählt worden. Eine vergleichbar lange Zeit hat die Bildung einer neuen Regierung bisher noch nie gedauert. In der Regel vergingen ein bis zwei Monate zwischen Wahl und Amtseinführung.
Merkels Wahl fiel äußerst knapp aus. Mit den Stimmen von 364 der insgesamt 709 Bundestagsabgeordneten erhielt sie nur neun mehr, als unbedingt erforderlich waren. Mindestens 35 Abgeordnete der Regierungsparteien CDU, CSU und SPD verweigerten ihr in der geheimen Wahl die Unterstützung.
Das schlechte Wahlergebnis und die lange Dauer der Regierungsbildung zeigen, dass die neue Regierung sehr instabil ist. Hauptgrund für diese Instabilität ist die tiefe Kluft, die sich zwischen der Masse der Bevölkerung und allen politischen Parteien aufgetan hat.
Auf den Tag genau 15 Jahre vor der Wiederwahl Merkels hatte der damalige SPD-Kanzler Gerhard Schröder im Bundestag seine berüchtigte Agenda-Rede gehalten. Sie leitete eine soziale Konterrevolution ein, die von allen nachfolgenden Regierungen fortgesetzt wurde und die Deutschland in eines der ungleichsten Länder der Welt mit einer hohen Armutsrate und einem ausgedehnten Niedriglohnsektor verwandelt hat. Die neue Regierung wird diesen Kurs weiterführen und mit einer massiven äußeren und inneren Aufrüstung verbinden.
Die Lage erinnert zunehmend an die berüchtigten „Weimarer Verhältnisse“, als das Parlament zersplittert und die Regierungen instabil waren, während die bürgerlichen Parteien angesichts der wachsenden sozialen Opposition immer weiter nach rechts rückten.
Im Bundestag sitzen erstmals sieben verschiedene Parteien. Die rechtsextreme AfD ist vor der FDP, der Linken und den Grünen die größte Oppositionspartei. Die neue Regierung wird zwar noch als „Große Koalition“ bezeichnet, doch das ist ein Relikt aus der Vergangenheit, das nicht mehr der Realität entspricht. Union und SPD, die bis zur Jahrhundertwende regelmäßig zwischen 90 und 75 Prozent der Stimmen auf sich vereinen und jeweils mit einem kleineren Koalitionspartner eine stabile Regierung bilden konnten, erzielten bei der letzten Bundestagswahl zusammen nur noch 53 Prozent. Inzwischen liegen sie in Umfragen unter 50 Prozent. Vor allem die SPD hat ihre Unterstützung unter Arbeitern verloren.
Das monatelange Feilschen um eine neue Regierung, das abgeschirmt von der Öffentlichkeit hinter den Kulissen stattfand, führte zu einem weiteren Rechtsruck. Merkel nahm ihren innerparteilichen Rivalen Jens Spahn ins Kabinett auf, der jetzt Gesundheitsminister ist. Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer trat das Amt des bayrischen Ministerpräsidenten an Markus Söder ab, der wie Spahn am rechten Rand der Union steht, übernahm in der neuen Bundesregierung das Innenministerium und kündigte die massenhafte Deportation von Flüchtlingen sowie den Aufbau eines Polizeistaats an.
Neben der Kanzlerin waren nur fünf der insgesamt 15 Minister der neuen Regierung Mitglied des alten Kabinetts. Die SPD hat sich von ihren letzten beiden Vorsitzenden getrennt. Martin Schulz, der zur Bundestagswahl noch als Spitzenkandidat angetreten war, und sein Vorgänger an der Spitze der SPD, der bisherige Außenminister Sigmar Gabriel, gehören dem neuen Kabinett nicht mehr an. Die neuen SPD-Minister sind, wie Finanzminister Olaf Scholz und Familienministerin Franziska Giffey, vor allem durch ihre rechte Gesinnung aufgefallen.
Die Regierungs- und Oppositionsparteien sind zwar unter sich und in sich zerstritten, aber keine tritt dem Koalitionsvertrag entgegen, der eine Verdoppelung des Militärhaushalts, eine massive Aufrüstung des Polizei- und Überwachungsapparats sowie eine Fortsetzung der Sparpolitik der „schwarzen Null“ vorsieht. Sie kritisieren ihn höchstens, weil er ihnen nicht weit genug geht.
Die AfD kann befriedigt feststellen, dass die neue Regierung ihre Flüchtlingspolitik weitgehend übernommen hat. Die FDP hat sich der Linie der AfD angeschlossen und kritisiert die neue Regierung ausschließlich von rechts. Und die Grünen hatten bereits in den Jamaika-Sondierungen der Politik zugestimmt, auf die sich später Union und SPD geeinigt haben.
Auch Die Linke unterstützt den Kurs der neuen Regierung. Von einem ntv-Reporter am Rande der Kanzlerinnenwahl auf die positiven Punkte im Koalitionsvertrag angesprochen, war der Fraktionsvorsitzende der Linken, Dietmar Bartsch, kaum mehr zu stoppen. Es gebe „vernünftige Dinge, keine Frage“, sagte er. „Das wäre auch schlimm, wenn ein so langer Koalitionsvertrag wirklich nur schlecht wär.“ Dann zählte er zur Überraschung des Reporters eine lange Liste lobenswerter Punkte auf.
Auf die Kabinettsmitglieder angesprochen, antwortete Bartsch: „Ich will die Minister an den Taten messen, und ich will nicht schon ein Urteil abgeben über Frau Giffey. Die ist ganz neu, mal schauen, was sie dann im Kabinett bewegt.“ Giffey hat sich als Bürgermeisterin des Berliner Bezirks Neukölln vor allem durch ihr hartes Vorgehen gegen Flüchtlinge und Migranten einen Namen gemacht.
Auch viele Medien betrachten den Koalitionsvertrag lediglich als „Ausgangspunkt der nächsten Regierung“, nicht als deren „Schlusspunkt“, wie es das Handelsblatt formulierte. Sie sind der Ansicht, dass ihre Aufrüstungspläne angesichts der wachsenden Spannungen mit den USA, Russland und China viel zu bescheiden sind und dass sie den Sozialabbau viel zu zaghaft angeht.
Spiegel Online wirft der neuen Regierung sogar vor, sie sei „kein Zukunftsprojekt“, sondern weise „zurück in die Vergangenheit“, als es noch „keine Flüchtlinge, keine Digitalisierung, keinen Terror, keine Globalisierung, keinen Trump, keinen Putin“ gab.
Der Koalitionsvertrag mit seiner Verdoppelung des Militärhaushalts und inneren Aufrüstung ist tatsächlich nur der Ausgangspunkt für eine viel weitergehende militaristische Politik. Schon die Agenda 2010, die Rettung der Banken mit hunderten Milliarden Euro und die meisten Militäreinsätze der Bundeswehr waren vorher in keinem Koalitionsvertrag festgelegt worden.
Die herrschenden Kreise Deutschlands sind fest entschlossen, die wachsenden internationalen Spannungen als „Chance“ zu nutzen, um wieder eine „schmutzige“ Außenpolitik zu betreiben und „Europa zu einem weltpolitischen Akteur“ zu machen, wie der Chefredakteur des Spiegel in dessen letzter Ausgabe schrieb.
In den wenigen Wochen, seit der Koalitionsvertrag vorliegt, haben sich die internationalen Spannungen enorm verschärft. US-Präsident Trump hat Strafzölle auf Stahl und Aluminium verhängt, mit Handelskrieg gedroht und Außenminister Rex Tillerson durch den bisherigen CIA-Chef Mike Pompeo ersetzt, was in Deutschland als politische Kampfansage verstanden wurde. der Krieg in Syrien spitzt sich zu, und die britische Regierung nutzt den ungeklärten Anschlag auf einen ehemaligen Spion, um die Spannungen mit Russland zu verschärfen.
Gleichzeitig bereiten die großen Konzerne neue Angriffe auf die Arbeiterklasse vor. Unter anderen haben die Deutsche Bank und die Postbank, RWE und EON, Opel, Siemens, Airbus und die Deutsche Post den Abbau tausender Arbeitsplätze und Lohnsenkungen angekündigt, während die Profite und Managergehälter steigen.
Diese Entwicklung bestimmt die zukünftige Politik der Großen Koalition. Sie reagiert auf die Zuspitzung der internationalen und sozialen Konflikte, indem sie zu Großmachtpolitik und Militarismus zurückkehrt und einen Polizeistaat aufbaut. Von der großen Mehrheit der Bevölkerung wird das abgelehnt, doch das findet in der offiziellen Politik keinen Ausdruck. Die sogenannten Oppositionsparteien unterstützen ebenso wie die Gewerkschaften den Kurs der neuen Regierung.
Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) hat als einzige politische Tendenz die Große Koalition abgelehnt und Neuwahlen gefordert. Wir warnten, der deutsche Imperialismus kehre angesichts der tiefen globalen Krise des Kapitalismus „zu den verbrecherischen Methoden der Vergangenheit zurück“. Gestoppt werden, schrieben wir, könne „die rechte Verschwörung, die im Kern von allen Bundestagsparteien und weiten Teilen der europäischen Bourgeoisie unterstützt wird, nur durch die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms“.
Das gilt umso mehr, nachdem die neue Regierung die Amtsgeschäfte übernommen hat. Die tiefe Krise des globalen Kapitalismus setzt heftige Klassenkämpfe auf die Tagesordnung. Deren Ausgang wird davon abhängen, dass die SGP und ihre internationalen Schwesterparteien zu neuen, sozialistischen Massenparteien der Arbeiterkasse aufgebaut werden.