Bestandsaufnahme Gurlitt in der Bundeskunsthalle in Bonn:

Das Ausmaß der NS-Raubkunst ist noch nicht abschätzbar

In der Bundeskunsthalle in Bonn ist seit vom 3. November 2017 bis zum 11. März 2018 mit mehr als 250 Bildern, Grafiken und einigen Skulpturen der zweite Teil der Bestandsaufnahme Gurlitt zu sehen. Obwohl bedeutende Gemälde und vor allem Druckgrafiken berühmter Künstler aus vielen Jahrhunderten gezeigt werden, ist die Ausstellung weniger von kunsthistorischer als von zeitgeschichtlicher Bedeutung.

Ihr Wert liegt vor allem darin, dass sie anhand der Lebens- und Wirkungsgeschichte von Hildebrand Gurlitt (1895–1956) und seiner Sammlung die Dimension der verheerenden Auswirkungen der NS Kulturpolitik aufzeigt. „Werke der bildenden Kunst waren ein wichtiger Bestandteil der nationalsozialistischen Herrschaftspraxis. Sie dienten als wesentliches Mittel zur sozialen Repräsentation und Distinktion, das die NS-Elite für sich beanspruchte, um ihren gesellschaftlichen Rang und ihren Bedeutungszuwachs zu zeigen und zu festigen.“ [1]

Die Ausstellung dokumentiert in allen Einzelheiten die Funktionsweise des gewaltigen Kunstraubs der Nationalsozialisten und der damit gemachten Geschäfte. Sie widmet sich exemplarisch Tätern und Opfern und fügt jedem Werk seine eigene Geschichte in Form aller bisher bekannten Fakten über seine Vorbesitzer hinzu.

Andererseits wird an Hildebrand Gurlitts Beispiel deutlich, wie die bundesdeutschen Eliten in der Nachkriegszeit ohne große Einbußen weiter von ihrem unter den Nazis angehäuftem Reichtum profitieren konnten. Das jüdischen Familien abgepresste Eigentum blieb in ihrem Besitz, während die Enteigneten und ihre Erben bestenfalls mit „Wiedergutmachung“ in vergleichsweise geringer Höhe abgefunden wurden. Das galt insbesondere für ihnen entzogene Kunstwerke, die sie zwangsweise verkaufen oder versteigern lassen mussten, um die gewaltigen Gebühren und Steuerabgaben zu begleichen, die die Nazis von ihnen verlangten, wenn sie Deutschland verlassen wollten.

Die Beschlagnahmung von Kunstwerken, die bereits seit 1933 erfolgte, wurde im Mai 1938 nachträglich mit einem „Gesetz über die Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst“ legitimiert. Dieses Gesetz wurde nach 1945 vom Alliierten Kontrollrat nicht aufgehoben. Es trat erst 1968 außer Kraft. In einer Empfehlung des Museumsrats Nordwestdeutschland wird bestätigt, dass die betroffenen Werke nicht zurückzufordern seien. Daran hielten sich Regierungen, Behörden, Museen, Justiz und Kunsthandel auch später noch lange. Selbst Erben, die nachweisen konnten, dass ein bestimmtes Werk ihrer Familie gehörte, gingen vor Gericht oft leer aus.

Durch die Ausstellung wird den ihrer Schätze beraubten jüdischen Familien und ihren Nachkommen die Möglichkeit geboten, ihnen abgepresste oder geraubte Kunstwerke zu entdecken und ihre Rückgabe zu fordern. Alle Bilder der Ausstellung sind mit Vorder- und Rückseite samt ihrer bisher bekannten Provenienz auch in einer Datenbank des Museums erfasst und öffentlich zugänglich. Auch in der offiziellen Lost Art Datenbank des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste (Magdeburg) können die Gemälde und Grafiken eingesehen werden.

Die „Entdeckung“ der Sammlung Gurlitt

Im November 2013 wurde bekannt, dass die bayrische Staatsanwaltschaft den sogenannten „Schwabinger Kunstfund“ von Cornelius Gurlitt (1932–2014) beschlagnahmt hatte, weil wegen angeblicher Steuerhinterziehung gegen Gurlitt ermittelte. Der zurückgezogen lebende Sohn des Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt hatte mehr als 1500 Kunstwerke von seinem Vater geerbt. Weitere Bilder wurden später in Gurlitts Haus in Salzburg entdeckt. Cornelius Gurlitt, selbst kein Kunsthändler, lebte offenbar vom gelegentlichen Verkauf einiger geerbten Werke.

In der Presse wurde zunächst spekuliert, bei den gefundenen Werken handle es sich ausnahmslos um viele Millionen werte NS-Raubkunst, weil Hildebrand Gurlitt einer der erfolgreichsten Kunsthändler des Dritten Reichs gewesen war. Er gehörte zu den rund 80 von den Nationalsozialisten bevollmächtigten Kunsthändlern und konnte in dieser Zeit ein riesiges Vermögen und eine große Kunstsammlung zusammenraffen.

Bei den in Bonn gezeigten Bildern handelt es sich im Gegensatz zur Ausstellung in Bern nicht um „entartete Kunst“, sondern um Werke, die im Verdacht stehen, NS-Raubkunst zu sein, sowie um persönlichen und Familienbesitz der Gurlitts.

Raubkunst oder nicht?

Um zu klären, ob es sich beim Gurlitt-Fund um Raubkunst handelt, setzte die Bundesregierung zunächst eine Taskforce ein, die die Provenienz der in München gefundenen Werke erforschen sollte. Inzwischen ist damit das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg beauftragt. Allerdings konnten bislang erst fünf Werke an die Nachfahren der rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben werden. Auch dies wird in Bonn dokumentiert.

Die Recherchen erweisen sich als äußerst schwierig, denn die Provenienzforscher müssen sich durch die umfangreichen schriftlichen Hinterlassenschaften Gurlitts arbeiten, die einerseits unvollständig, andererseits voller Vertuschungen und auch gezielter Unwahrheiten sind.

Zu den erst kurz vor der Eröffnung als Raubkunst identifizierten Werken gehört das in Bonn gezeigte „Portrait de jeune femme assise“ von Thomas Couture. Das Werk gehörte dem jüdischen Politiker und bekannten Nazigegner Georges Mandel, der im Juli 1944 von der französischen Vichy-Miliz im Wald von Fontainebleau ermordet wurde. Die NS-Kunstrauborganisationen hatten die Kunstwerke in seiner Wohnung schon früh im Visier. Eine kleine handschriftliche Notiz auf einer Verlustliste der Sammlung Mandels hatte erwähnt, dass sich in einem der zahlreichen Frauenbildnisse von Couture in Brusthöhe der Dargestellten ein winziges repariertes Loch befand. Diese Notiz brachte die Forscher auf die Spur.

Die Bonner Ausstellung zeigt auch exemplarisch Schicksale von Familien, Sammlern und Händlern auf, die ihrer Kunstwerke beraubt wurden. So wird in einer der Wandinschriften auf den jüdischen Pariser Kunsthändler Hans Lenthal (eigentlich Hans Löwenthal, 1914–1983) verwiesen, von dem Gurlitt angeblich 42 Bilder kaufte. Aus der Korrespondenz geht jedoch hervor, dass Lenthal nur zum Schein als Verkäufer auftrat, damit Gurlitt die nötigen Kaufbelege für den Export beibringen konnte. Lenthal wurde 1944 deportiert und überlebte als einer der Wenigen die Konzentrationslager Sachsenhausen und Auschwitz.

Hildebrand Gurlitt und seine Familie

Die ausführlich dargestellte Biografie Hildebrand Gurlitts zeigt auf, wie ein an moderner Kunst interessierter junger Mann aus einer bildungsbürgerlichen, nationalkonservativ eingestellten Familie zu einem Profiteur der Nazi-Kulturpolitik wurde.

Hildebrands Vater war ein angesehener Kunsthistoriker in Dresden. Seine jüdische Großmutter mütterlicherseits war eine geborene Lewald, deren Schwester Fanny Lewald sich als emanzipierte Frau und Schriftstellerin einen Namen gemacht hatte. In ihrem Salon verkehrten Berühmtheiten wie Ferdinand Lassalle und George Sand. Von Hildebrand Gurlitts Großonkel, Cornelius Gurlitt, einem bekannten Landschaftsmaler, befinden sich etliche Gemälde in seiner Sammlung.

Hildebrands ältere Schwester Cornelia – auch von ihr werden etliche Arbeiten gezeigt – war eine begabte expressionistische Künstlerin. Sie meldete sich im Ersten Weltkrieg zum Dienst als Krankenschwester. Traumatisiert, auch weil ihr Freund im Krieg fiel, verübte sie 1919 Suizid.

Wie viele Männer aus seinen Kreisen meldete sich auch der 19-jährige Gurlitt als Kriegsfreiwilliger und brachte es zum Offizier. Im Kriegslazarett in Wilna, so erklärte er später in seinem Entnazifizierungsverfahren, habe er mit dem jüdischen Schriftsteller Arnold Zweig, wie auch mit Ludwig Renn (damals noch Arnold Vieth von Golßenau), dem späteren KPD-Schrifteller und Spanienkämpfer, Freundschaft geschlossen.

Ein weiterer Freund Gurlitts aus dieser Zeit war der expressionistische Maler Karl Schmidt-Rottluff. Aber auch der Literaturwissenschaftler und Journalist Paul Fechter, der später Adolf Hitlers „Mein Kampf“ zu einem bedeutenden Kunstwerk hochstilisieren sollte, gehörte zu seinen Wilnaer Bekannten.

In den Jahren nach seinem Studium der Kunstgeschichte in der Weimarer Republik kam Gurlitt in Kontakt zu linken Künstlerkreisen. Er fühlte sich damals berufen, Kunst als sozialpolitisch wirksames Mittel einzusetzen. „Hoch motiviert suchte er auf der Straße das Gespräch mit Arbeitern. Er besuchte Massenquartiere und sogenannte Fabrikausstellungen organisiert von Arbeitsrat für Kunst und der Novembergruppe – beides politisch aktive Vereinigungen, die mit ihrer avantgardistischen Kunst zur sozialen Revolution in Deutschland beitragen wollten.“[2]

In Dresden stand Gurlitt Mitgliedern der Dresdener Sezession, den Malern Conrad Felixmüller, Wilhelm Lachnit, Otto Dix und Otto Griebel nahe. Sein Einsatz für die künstlerische Avantgarde brachte ihn zeitweise mit rechtskonservativen und nationalsozialistischen Kreisen in Konflikt. Aus diesem Grund verlor er seine erste berufliche Stellung als Direktor des König-Albert-Museums in Zwickau, wo er eine Sammlung moderner Kunst, vor allem der Expressionisten und der Bauhaus-Künstler, anlegte und u. a. Bilder von Max Pechstein, Emil Nolde, Conrad Felixmüller, Karl Schmidt-Rottluff und Käthe Kollwitz ausstellte.

Auch als Leiter des Hamburger Kunstvereins, seiner nächsten beruflichen Stellung, musste er im Juli 1933 auf Druck der Nazis zurücktreten. Nun machte er sich als Kunsthändler selbständig, überschrieb jedoch sein Geschäft, das Kunstkabinett Dr. H. Gurlitt, sicherheitshalber seiner Frau, die im Gegensatz zu ihm keine jüdischen Vorfahren hatte.

„Sonderauftrag Linz“

Diese Vorgeschichte hinderte Gurlitt allerdings nicht, unter den Nazis erfolgreich Karriere zu machen. Von 1938 bis 1941 konnte er sich erfolgreich als einer von vier deutschen Kunsthändlern bei der Vermarktung der von den Nazis beschlagnahmten „entarteten Kunst“ etablieren. Dabei kamen ihm sein Sachverstand und seine Beziehungen zu Museen und zum Kunsthandel zustatten. Es wird angenommen, dass von den zum Verkauf oder zur Vernichtung bestimmten Werken auch einige in seinen persönlichen Besitz übergingen. (Siehe Artikel zur Berner Ausstellung.)

Das war jedoch erst der Anfang seiner engen Kollaboration mit den Nazis. Er wurde schließlich zum Chefeinkäufer für das geplante gigantische Führermuseum in Hitlers Heimatstadt Linz. Im Rahmen des „Sonderauftrages Linz“ erhielt er nahezu unbegrenzte Geldmittel und die Berechtigung, in den von Deutschland besetzten Gebieten, vor allem in Frankreich, wertvolle historische Kunstwerke aufzukaufen, die dem Kunstgeschmack der Nationalsozialisten entsprachen. Den Rechnungsunterlagen zufolge verkaufte Gurlitt im Rahmen des „Sonderauftrages Linz“ allein zwischen Mai 1941 und Oktober 1944 rund 300 Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Druckgrafiken, Gobelins und Skulpturen an Hitler.

Gurlitt rechtfertigte seine Geschäfte mit den Nazis als eine Art Vorwärtsverteidigung. Immerhin hatte die Reichkunstkammer 700 Kunsthändlern die Mitgliedschaft entzogen und sie gezwungen, ihr Geschäft aufzugeben. Davon profitierten jedoch seine Geschäfte wegen des verringerten Konkurrenzdrucks umso mehr.

Ausstellung dokumentiert auch die Nachkriegszeit

Dass Gurlitt seine Karriere nach 1945 ohne große Probleme wieder aufnehmen konnte, passt in die verbreitete Schlussstrich-Mentalität der bundesdeutsche Nachkriegszeit, die auch in zahlreichen Behörden, Gerichten und Universitäten Altnazis in ihren Ämtern beließ. Alte NS-Seilschaften existierten auch im Kulturbetrieb weiter. Hildebrand Gurlitts Geschichte und seine Sammlung waren in Kreisen des Kunsthandels und des Kunstmarkts und unter seinen Kunden durchaus bekannt, wurden aber im Interesse des Geschäfts nicht an die große Glocke gehängt.

Nach 1945 durchlief Hildebrand Gurlitt unbeschadet zwei Entnazifizierungsverfahren. Es gelang ihm offenbar, durch Lügen und Beschönigungen seine Rolle im NS-Kunstraub herunterzuspielen. Er behauptete zum Beispiel, dass keines seiner Bilder, die der Central Collecting Point (CCP) beschlagnahmt hatte, aus jüdischem Besitz oder aus dem Ausland stamme. Er wurde als unbelastet, bzw. als Mitläufer eingestuft, weil es ihm offenbar gelang, seine Tätigkeit für den verbrecherischen nationalsozialistischen Kunstbetrieb zu verharmlosen. Den größten Teil seiner Sammlung hatte er vorher versteckt. Alles, was der CCP beschlagnahmt hatte, erhielt er zurück.

Gurlitt war bald wieder ein erfolgreicher und anerkannter Kunsthändler und wurde schon 1948 Direktor des Düsseldorfer Kunstvereins. Unter Nutzung seiner alten Netzwerke war er in der Lage, auch seinen Kunsthandel wieder aufzunehmen. Etliche in Frankreich deponierte Werke wurden erst in den 1950er Jahren nach Deutschland transportiert.

Erst seit den 1990er Jahren, besonders nach der Washingtoner Erklärung vom Dezember 1998, setzte in Deutschland eine systematischere Provenienzforschung ein. In dieser Erklärung vereinbarten 44 Staaten und Opfervereinigungen, die von 1933 bis 1945 beschlagnahmten Kunstwerke als Raubkunst zu identifizieren, deren Vorkriegseigentümer oder Erben ausfindig zu machen und eine „gerechte und faire Lösung“ zu finden.

Durch den Gurlitt-„Fund“ erhielt die Provenienzforschung einen wichtigen Impuls. Erst angesichts des großen Aufsehens dieser Entdeckung wurden dafür einigermaßen ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt. Die Bonner Ausstellung gibt Einblicke in die mühselige Arbeit der Forscher, die „Biografie“ und die Vorbesitzer jedes Werks herauszufinden, eine Arbeit, deren Ende nicht absehbar ist und die noch lange die Kunstgeschichte beschäftigen wird.

Die Ausstellung macht deutlich, warum es so schwierig ist, den lückenlosen Nachweis der Herkunft und der Vorbesitzer zu erfassen. Dass diese Forschung so spät einsetzte und so schleppend voranging, dass keine Opfer oder Zeitzeugen mehr direkt zu befragen waren, macht sie heute zu einer Sisyphusarbeit.

Trotz oder gerade wegen der angestrebten Transparenz und der exakten Beschriftung jedes einzelnen ausgestellten Bildes, in der alles über seine Herkunft dokumentiert wird, was bisher erforscht werden konnte, bleibt so ein Gefühl der Ohnmacht und Wut. Vieles wird wohl immer unaufgeklärt bleiben, weil wesentliche Unterlagen kriegs- oder verfolgungsbedingt verloren gegangen, gefälscht oder bewusst vernichtet wurden. Auch wenn Gurlitt etliche Werke „legal“ erworben haben mag, so hat er diese doch mit Geld bezahlt, das er vor allem durch seine Dienstleistungen für Hitler und seine Gefolgsleute verdient hat.

Ausstellungskatalog: Bestandsaufnahme Gurlitt. Entartete Kunst – Beschlagnahmt und verkauft, (Kunstmuseum Bern) Der NS-Kunstraub und die Folgen (Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn), Hirmer Verlag, München 2017

Anmerkungen:

[1] Johannes Gramlich und Meike Hopp: „Gelegentlich wird Geist zu Geld gemacht“ –Hildebrand Gurlitt als Kunsthändler im Nationalsozialismus, a.a.O. S. 38

[2] Meike Hoffmann: „Die langen Schatten der Vergangenheit“, in: Katalog Bestandaufnahme Gurlitt, S. 19f

Loading