Kurz vor Weihnachten, am 21. Dezember 1917, im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs, wurde Heinrich Böll geboren. Sein hundertster Geburtstag fällt in eine Zeit, in der man einen mutigen Mahner und scharfzüngigen Intellektuellen wie ihn sehr vermisst.
Den Zweiten Weltkrieg in all seiner Grausamkeit erlebte er als junger Soldat. Kaum heimgekehrt, noch mitten in der Not der ersten Nachkriegszeit begann er, das jüngst Erlebte und die unmittelbare Gegenwart in Kurzgeschichten zu verarbeiten. Er schlägt sich zu dieser Zeit als Gelegenheitsarbeiter durch und nimmt ein vor dem Krieg begonnenes Studium der Germanistik wieder auf.
Der achte Sohn eines durch die Inflation von 1923 und schließlich durch die Weltwirtschaftskrise total verarmten Schreiners und Holzbildhauers aus der Kölner Südstadt kennt Armut und das Leben ärmster Schichten nicht nur aus Büchern. Sein scharfer Blick für die Armut großer Teile der Bevölkerung, für Außenseiter und Sonderlinge beruht auf eigenen Erfahrungen. Sie haben seine Wahrnehmung der schreienden sozialen Gegensätze der Gesellschaft und der Heuchelei der Autoritäten von Staat und Kirche geprägt.
Nicht nur für das Elend der Kriegsheimkehrer, der Ausgebombten und Traumatisierten findet er eindrucksvolle Bilder und liebevolle oder grausame Detailschilderungen, bei denen es einem heute noch (oder gerade wieder) kalt den Rücken herunterläuft. Auch das Salbadern von Kirchenoberen, die Lügen der gewendeten Nazis oder von Vertretern von Kultur und Politik in der frühen Bonner Republik nimmt er kritisch oder satirisch aufs Korn. So karikiert er in „Dr. Murkes gesammeltes Schweigen“ bissig die pseudoreligiösen Predigten im Rundfunk der frühen Jahre der Bundesrepublik. Böll selbst war gläubiger Katholik, aber immer kritisch gegenüber der Institution der Kirche, aus der er schließlich sogar austrat.
Die Autorin dieser Zeilen erinnert sich daran, wie sie Mitte der 1950er Jahre ihrer unter dem Weihnachtsbaum versammelten Familie statt „Es begab sich aber zu dieser Zeit“ Bölls Satire „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ vorlas, zunächst auf Skepsis stieß, aber dann doch Beifall erntete. Böll rechnet in dieser Erzählung sowohl mit den erstarrten Ritualen des offiziellen Christentums als auch mit der Saturiertheit der Profiteure des Wirtschaftswunders ab.
In „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ beschreibt Böll, wie eine Familie der Mutter (Tante Mila) zuliebe Jahr für Jahr jeden Tag Weihnachten feiern muss. Wenn das Ritual nicht präzise stattfindet, bekommt sie Schreikrämpfe. So muss jeden Abend, auch im Hochsommer, die ganze Familie um den Tannenbaum sitzen und im Kerzenschein Weihnachtslieder singen. Allmählich aber wird das gesamte Personal, bis auf einen pensionierten Geistlichen aus der Nachbarschaft, durch Schauspieler oder gar durch Wachspuppen ersetzt, während die echten Familienmitglieder, um der Tortur zu entgehen, sich entweder ihren gewöhnlichen gewinnbringenden Geschäften und Vergnügungen zuwenden, zum Kommunismus konvertieren oder sogar auswandern. Der Zerfall der Familie ist unaufhaltsam. Schließlich wird der fremdgehende Familienvater (Onkel Franz) lebensmüde, und ein Vetter des Erzählers, Boxer von Beruf, geht als Laienbruder in ein Kloster.
Böll las diese Erzählung 1952 im Kreise der Gruppe 47 vor, deren Preis er ein Jahr zuvor für die Erzählung „Die schwarzen Schafe“ erhalten hatte.
Bölls Erzählstil, auch in seinen Romanen, ist in der Regel schlicht, was nicht heißen soll, dass er nicht auch mit überraschend neuen und anderen Formen experimentierte. So ist zum Beispiel sein letzter Roman „Frauen vor Flusslandschaft“ in Form von Dialogen und Selbstgesprächen geschrieben. In dem Roman stehen die Frauen und Lebensgefährtinnen von Bonner Politikern und deren Hintermännern im Zentrum. Die Politiker regieren zwar, aber die eigentlichen Herrscher, auch über die Kabinettsmitglieder, sind die Bankiers.
In grotesken Verquickungen erscheint das männliche Bonner Personal der „guten“ Gesellschaft als eine mehr oder weniger kriminelle Bande von Kriegsverbrechern und Aufsteigern, von denen die meisten etwas zu verbergen haben, während die wenigen Anständigen und die Frauen, ihre Opfer, sterben oder weggesperrt werden. Die Frauen gehen lieber in den Tod, als die alten Nazis im Dunstkreis ihrer Männer zu ertragen. Der Roman erschien erst nach Bölls Tod 1985.
Bölls Sprache bringt seine Anliegen klar und deutlich auf den Punkt. Ihm ging es darum, verstanden zu werden, und nicht darum, unter Intellektuellen zu brillieren. Er war immer, nicht nur in seiner Literatur, politisch engagiert, wenn auch nie parteipolitisch. Wo immer er sich einmischte, ging es um den Protest gegen Unterdrückung, Heuchelei und Kriegsgefahr. Partei ergreift er als Autor, als Essayist und in seinen Vorträgen als Anwalt der Schwachen und Wehrlosen. Er legt sich immer wieder, wie Hans Schnier in „Ansichten eines Clowns“ (1963), mit Autoritäten an und mit solchen, die vorgeben, welche zu sein.
Wer sich ein Bild der Gesellschaft der alten Bundesrepublik machen und ihre Stimmungen, Gegensätze und Befindlichkeiten verstehen möchte, sollte Bölls Romane und Erzählungen, aber auch seine unzähligen politischen, gesellschaftskritischen Aufsätze und Polemiken lesen. In der Gegenwart, die er schildert, schwingt immer auch deutlich die Vergangenheit mit, die zu den zwei Weltkriegen des 20. Jahrhunderts führte.
Bölls politische Haltung brachte ihn Ende 1971 dazu, für den Spiegel einen kritischen Aufsatz über die Hetze der Bild-Zeitung zu schreiben. Die hatte anlässlich eines Banküberfalls in Karlsruhe, ohne dass eindeutige Beweise vorlagen, getitelt: „Bader Meinhof-Bande mordet weiter.“
Bölls Aufsatz, zu Weihnachten geschrieben, sollte die Überschrift tragen: „So viel Liebe auf einmal. Oder: Will Ulrike Meinhof Gnade oder freies Geleit?“ Der erste Teil bezog sich auf die in der gleichen Bild-Ausgabe unter „So viel Liebe auf einmal“ aufgezählten Weihnachtsspenden. Der zweite Teil drückte Bölls Auffassung eines rechtsstaatlichen Umgangs mit der RAF aus.
Als der Spiegel Bölls Aufsatz in der Ausgabe vom. 10 Januar 1972 veröffentlichte, änderte er den Titel eigenmächtig in: „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“ Die Reduktion auf den Vornamen legte nahe, dass eine persönliche Bekanntschaft und ein Vertrauensverhältnis zwischen Böll und Meinhof existierte. Böll erklärt, er habe „die Nase voll“ von der Berichterstattung der Zeitung, die wohl „ein Witz“ sein solle, und „hoffe, dass Herrn Springer und seinen Helfershelfern dieser Witz im Hals steckenbleibt mit den Gräten ihres Weihnachtskarpfens“.
Böll wies in seinem Aufsatz auf das Manifest der Gruppe hin, das diese veröffentlicht hatte, als sie in den Untergrund gegangen war: „Es ist eine Kriegserklärung von verzweifelten Theoretikern, von inzwischen Verfolgten und Denunzierten, die sich in die Enge begeben haben, in die Enge getrieben worden sind und deren Theorien weitaus gewalttätiger klingen, als ihre Praxis ist.“ (Zumindest, als sie zum damaligen Zeitpunkt war.)
Er fährt dann fort: „Es kann kein Zweifel bestehen: Ulrike Meinhof hat dieser Gesellschaft den Krieg erklärt, sie weiß, was sie tut und getan hat, aber wer könnte ihr sagen, was sie jetzt tun sollte? Soll sie sich wirklich stellen, mit der Aussicht, als die klassische rote Hexe in den Siedetopf der Demagogie zu geraten? Bild, ganz und gar vorweihnachtlich gestimmt, weiß ja schon: ‘Baader-Meinhof-Gruppe mordet weiter.’ Bild opfert die Hälfte seiner kostbaren ersten und die Hälfte seiner ebenso kostbaren letzten Seite dem Kaiserslauterer Bankraub.“
Dann geißelt Böll die Aufzählung und Vermischung tatsächlicher und vermeintlicher Opfer der Gruppe und ihrer „Beute“. Er „kann nicht begreifen. dass irgendein Politiker einem solchen Blatt noch ein Interview gibt. Das ist nicht mehr kryptofaschistisch. nicht mehr faschistoid, das ist nackter Faschismus. Verhetzung, Lüge, Dreck.“ Diese Form der Demagogie sei „nicht einmal gerechtfertigt, wenn sich die Vermutungen der Kaiserslauterer Polizei als zutreffend herausstellen sollten. In jeder Erscheinungsform von Rechtsstaat hat jeder Verdächtigte ein Recht, dass, wenn man schon einen bloßen Verdacht publizieren darf, betont wird, dass er nur verdächtigt wird.“ Der Artikel der Bild sei „Aufforderung zur Lynchjustiz“. Er konfrontiert dies dann mit der unendlichen Nachsicht von Politik und Justiz mit Naziverbrechern.
Dieser Artikel, in dem Böll im Grunde nichts als einen fairen Prozess für die Mitglieder der Baader-Meinhof-Gruppe forderte, löste eine Hexenjagd ohnegleichen auf den Autor aus.
Um nur einige Beispiel der folgenden Verunglimpfung Bölls zu nennen: Der Schriftsteller Hans Habe forderte Böll in der Welt am Sonntag auf, vom Amt des Präsidenten des Internationalen P.E.N. zurückzutreten, das er seit 1971 innehatte. In einem Tagesschau-Kommentar nannte Frank Ulrich Planitz vom Südwestfunk Böll einen „Anwalt der anarchistischen Gangster“ und „salon-anarchistischen Sympathisanten“. Im ZDF-Magazin wurde Böll vom Moderator der Sendung, Gerhard Löwenthal, zu einem „Sympathisanten dieses Linksfaschismus“ abgestempelt, der „nicht ein Deut besser [sei] als die geistigen Schrittmacher der Nazis“.
Der damalige Innenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) erklärte in einem Interview: „Es ist unbestritten, dass die Terroristen Unterstützung und Sympathie bei verschiedenen Leuten finden, nicht nur, dass man sie beherbergt, sondern auch dadurch, dass man ihre gewalttätigen Handlungen bagatellisiert oder beschönigt.“
In zahlreichen Artikeln und Fernsehkommentaren beschimpfte man Böll immer wieder als „linken Biedermann“, als „Sympathisanten“ der terroristische Gewalttäter zumindest moralisch unterstütze und so Mitschuld an der Eskalation der Gewalt trage. Auch unterstellte man ihm, dass er für verfolgte Kollegen in Osteuropa, besonders der UdSSR, nichts unternehme, was nachweislich nicht stimmte. Das Ganze gipfelte schließlich in Hausdurchsuchungen bei Böll und seinem Sohn durch schwer bewaffnete Polizeikommandos, um angeblich bei ihm versteckte Terroristen zu finden.
Böll ließ sich jedoch nicht entmutigen. Dazu trug sicher auch bei, dass er 1972 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Er war erst der fünfte Deutsche, der damit ausgezeichnet wurde. Es spricht für ihn, dass er große Skrupel hatte, erstmals in seinem Leben anlässlich der Verleihung einen Frack anzuziehen.
1974 erschien als Frucht der Auseinandersetzungen mit der Hetzjagd auf ihn und der Verschärfung des politischen Klimas in der Bundesrepublik Bölls bis heute wohl bekanntestes Werk, „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“. Darin setzt er sich scharf mit der Springer-Presse auseinander. Die Erzählung wurde in über 30 Sprachen übersetzt und von Volker Schlöndorff verfilmt. In völliger Fehlinterpretation seiner Kernaussage wurde das Buch aber vielfach als „Rechtfertigung von terroristischer Gewalt“ verleumdet.
Auch als Böll in den 1980er Jahren bereits schwer krank ist, lässt er es sich nicht nehmen, gegen Aufrüstung und Kriegsgefahr einzutreten. Er spricht im Oktober 1982 im Bonner Volksgarten vor Hundertausenden Gegnern des Nato-Doppelbeschlusses und nimmt 1983 mit etlichen anderen Prominenten an einer Sitzblockade einer Raketenstation in der Mutlanger Heide teil.
Damals entwickelte er Sympathie für die neu entstandene Partei der Grünen und erhoffte von ihnen eine Veränderung der politischen Landschaft. Die Grünen haben ihre parteinahe Stiftung, die mit jährlich 60 Millionen Euro aus Steuermitteln finanziert wird und weltweit das Geschäft des deutschen Imperialismus betreibt, nach Heinrich Böll benannt. Er wäre wohl zutiefst enttäuscht darüber, was diese heute vertritt. Er würde sich für sie schämen. Er starb am 16. Juli 1985.