Eine Woche nach dem Scheitern der Sondierungen über ein Jamaika-Koalition sprechen sich immer mehr Vertreter der herrschenden Klasse gegen Neuwahlen und für eine Fortsetzung der Großen Koalition aus. Sie verfolgen damit das Ziel, ihre unpopuläre Politik des Militarismus, der Polizeistaatsaufrüstung und der sozialen Konterrevolution trotz des wachsenden Widerstands in der Bevölkerung fortzusetzen.
Sowohl der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer wie Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) plädierten am Sonntag für eine Große Koalition. Dies sei „die beste Variante für Deutschland“, sagte Seehofer der Bild am Sonntag, „besser jedenfalls als Jamaika, Neuwahlen oder eine Minderheitsregierung“. Kauder erklärte im Bericht aus Berlin, „die Abläufe im Parlament“ seien „mit einer Koalition viel besser zu steuern als mit Zufallsmehrheiten“.
Führende Wirtschaftsvertreter stießen ins gleiche Horn. So erklärte Volkswagen-Vorstand Herbert Diess im Handelsblatt, dass Neuwahlen „keine gute Lösung“ seien, „weil sie viel zu viel Zeit kosten würden“. Favorisieren würde auch er eine Neuauflage der Großen Koalition: „Das kennen alle Beteiligten. Da sind wahrscheinlich weniger Konfliktpunkte zu erwarten als in einem Jamaika-Bündnis. Zwei Partner sind einfacher als vier.“ Die SPD brauche dafür keine zusätzliche Legitimation durch Neuwahlen, „die müsste sich nur einen Ruck geben“.
Den geforderten „Ruck“ haben sich die Sozialdemokraten längst gegeben. Spätestens seit dem Gespräch zwischen SPD-Führer Martin Schulz und dem sozialdemokratischen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier am Donnerstag arbeitet die SPD-Führung fieberhaft daran, den neuen Kurs in den eigenen Reihen durchzusetzen.
Am Freitagabend redete Schulz den Jusos auf ihrem Bundeskongress in Saarbrücken ins Gewissen: „Wenn der Bundespräsident mich zu einem Gespräch auffordert, dann werdet ihr ja verstehen, dass ich einen Gesprächswunsch nicht abschlagen kann und will.“ Was danach komme, sei „offen“, aber die SPD müsse in vielen Politikbereichen Defizite beschreiben und überlegen, wie sie zu beseitigen seien. „Und dann stellt sich die Frage: Machen wir es auch, wenn wir die Machtmittel dazu bekommen, oder machen wir es nicht?“
Die Jusos, die sich zuvor noch „als Bollwerk gegen eine große Koalition“ bezeichnet hatten, reagierten auf Schulz‘ Ansprache mit tosendem Applaus. Zum Abschluss seines zweitägigen Kongresses forderte der Jugendverband die SPD allerdings auf, „aus der Opposition heraus“ eine neue Politik einzuleiten.
Auch Vertreter der sogenannten „Parteilinken“ signalisierten am Wochenende, dass sie für die weitere Zusammenarbeit mit der Union zur Verfügung stehen. „Neuwahlen wären ein Armutszeugnis,“ sagte Parteivize Ralf Stegner. Die bestehenden Mehrheiten im Bundestag müssten nun „kreativ genutzt werden“. Die SPD müsse „über neue Formen der Kooperation nachdenken“ und eine „konstruktive Rolle“ spielen.
Die Sozialdemokraten fürchten, dass mögliche Neuwahlen und eine längere Periode der politischen Unklarheit die Situation in Europa weiter destabilisieren und die Interessen des deutschen Imperialismus weltweit untergraben könnten. Bei einer Veranstaltung der Zeit am Sonntag in Hamburg erklärte der frühere SPD-Vorsitzende und amtierende Außenminister Sigmar Gabriel, die SPD habe die wichtige Aufgabe, dafür zu sorgen, „dass es eine stabile Lage in Deutschland gibt“. Neuwahlen halte er nicht für die beste Lösung, schließlich dürfe es kein Dauerzustand sein, „dass in der Mitte Europas eine instabile Lage ist“.
Dieser Kurs wird auch von der Linkspartei unterstützt. Am Samstag forderte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) von SPD und CDU/CSU, sich möglichst rasch auf eine Regierungskoalition zu einigen. „Eine monatelange Selbstbeschäftigung würde ich für eine große Belastung unserer Demokratie empfinden“, warnte Ramelow auf dem Landesparteitag seiner Partei in Ilmenau. „Ich höre, dass die SPD eine Mitgliederbefragung machen will – dann sollen sie es bitte schnell machen.“
Die Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei im Bundestag äußerten sich ähnlich. Sahra Wagenknecht polterte in der NDR-Sendung DAS!, Neuwahlen seien unter den gegeben Verhältnissen „eine Farce“, die man „den Menschen nun nicht zumuten“ solle. Sie finde es zwar nicht „gut“, dass die SPD „wieder auf dem Trip in die Große Koalition“ sei, aber im Grund sei ja ihr gesamter Wahlkampf „großkoalitionär“ gewesen.
Ihr Kollege Dietmar Bartsch hat sich ebenfalls bereits mit der Fortsetzung der Großen Koalition abgefunden. „Auf harten Druck der linken, sozialen Opposition könnte sich Schwarz-Rot einstellen,“ erklärte er gegenüber der Welt.
Ursprünglich hatte sich die SPD-Führung dagegen ausgesprochen, die unpopuläre Koalition mit der Union fortzusetzen. Getrieben hat sie dabei vor allem die Furcht vor einer sozialistischen Entwicklung in der Arbeiterklasse. Unter dem Druck der Ereignisse – allein in der letzten Woche demonstrierten tausende Arbeiter bei Siemens, Air Berlin und Thyssen-Krupp gegen Massenentlassungen und Werksschließungen – orientiert sich die SPD und die gesamte herrschende Klasse neu. Alle kapitalistischen Parteien schließen die Reihen, um die wachsende Opposition in der Arbeiterklasse mit Hilfe der Gewerkschaften zu unterdrücken.
In den nächsten Tagen lädt Bundespräsident Steinmeier, die Führer aller Bundestagsparteien zu weiteren Geheimverhandlungen ins Schloss Bellevue. Am heutigen Montagmittag sind die Grünen-Fraktionschefs Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter geladen, danach Kauder (CDU) und am frühen Abend Wagenknecht und Bartsch (Die Linke). Am Dienstagmorgen folgt dann die SPD-Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles. Und am Donnerstag kommt es zum direkten Treffen zwischen der amtierenden Kanzlerin Angela Merkel, CSU-Chef Seehofer und SPD-Chef Schulz.
Um ihre Kürzungs- und Aufrüstungspolitik in die Tat umzusetzen, setzt die herrschende Klasse wie in den 1930 Jahren auch wieder auf rechtsextreme Kräfte. Medienberichten zufolge empfängt Steinmeier am Donnerstag auch den AfD-Fraktionsvorsitzenden Alexander Gauland, der im Wahlkampf offen eine positive Bewertung von Hitlers Wehrmacht gefordert hatte. Auch im neu eingerichteten Hauptausschuss des Bundestags, der die Handlungsfähigkeit des Bundestags gewährleisten soll, bis eine neue Regierung steht, ist die AfD vertreten. Eine Fortsetzung der Großen Koalition würde die AfD zur Oppositionsführerin im Bundestag machen.
Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) lehnt das Geschacher aller Bundestagsparteien hinter dem Rücken der Bevölkerung strikt ab und fordert Neuwahlen. Für die Fortsetzung der Großen Koalition und der damit verbundenen militaristischen und asozialen Politik gibt es keinerlei demokratische Legitimation. Bei den Wahlen im Herbst haben die Union und die SPD ihre jeweils schlechtesten Ergebnisse seit der Gründung der Bundesrepublik erzielt und gemeinsam knapp 14 Prozent der Stimmen eingebüßt.
In ihrem Aufruf erklärt die SGP, dass die politische Rechtsentwicklung nur durch den Aufbau einer sozialistischen Partei in der Arbeiterklasse gestoppt werden kann. Die SGP erhebt die Forderung nach Neuwahlen, „um die wirklichen Ziele der bürgerlichen Parteien – darunter SPD, Linkspartei und Grüne – zu entlarven und eine sozialistische Alternative zu Kapitalismus, Krieg und Autoritarismus aufzubauen“.