Die Bewohner des geräumten Hochhauskomplexes „Hannibal II“ in Dortmund können frühestens in zwei Jahren in ihre Wohnungen zurückkehren. Im Zuge der Behebung von Brandschutzmängeln seien weitere Modernisierungsmaßnahmen geplant, sagte eine Sprecherin des Eigentümers.
Der Terrassenbau mit mehr als 400 Wohnungen war am 21. September aus Brandschutzgründen kurzfristig evakuiert worden. Viele der fast 800 Betroffenen mussten in städtischen Unterkünften, einigen kommunalen Wohnungen oder bei Freunden und Verwandten unterkommen.
Die Bauaufsicht der Stadt hatte bei einer Ortsbegehung mit der Feuerwehr nur zwei Tage zuvor festgestellt, dass in dem Gebäudekomplex kein Brandschutz mehr bestehe. Vor allem die Tiefgarage entspreche nicht mehr den Richtlinien. Es gebe keine ausreichende Trennung zwischen dem Parkdeck im Untergeschoss und den Wohnungen. Die Räumung sei „unumgänglich“, entschied ein Krisenstab.
Ähnlich wie beim Brand des Londoner Grenfell Tower im Juni die Fassade innerhalb von Minuten in Flammen stand und mindestens 100 Bewohner vor allem durch die Rauchentwicklung aufgrund fehlender zusätzlicher Rettungswege erstickten, würde ein Brand im „Hannibal“ in wenigen Minuten durch „nicht brandsichere Schächte mit direkten Verbindungen in die Wohnungen“ eine „akute Verrauchungsgefahr“ auslösen. Auch in dem Dortmunder Hochhauskomplex beanstandete die Stadt fehlende Rettungswege.
Der Brandkatastrophe des Grenfell Tower ist der Grund, dass auch in Deutschland verstärkt Brandschutzbegehungen durchgeführt werden. Ende Juni war wegen Brandgefahr ein Hochhaus in Wuppertal geräumt worden.
Eigentümer des Hochhauskomplexes in Dortmund ist der Finanzinvestor „Lütticher 49 Properties“ mit Sitz auf Zypern, der ihn 2011 ersteigert hatte. Der Investor steht wiederum mit dem Unternehmen Intown aus Berlin in Verbindung, dem auch andere heruntergekommene Immobilien in Deutschland gehören, auch das Ende Juni geräumte Hochhaus in Wuppertal. Laut Leipziger Volkszeitung gehört Intown „zum äußerst intransparenten Firmenreich des milliardenschweren Fonds-Experten Amir Dayan“. Er sei in Osteuropa, Schweden, den Benelux-Staaten und vor allem in Deutschland aktiv und nutze als Sitz von Gesellschaften häufig Zypern. „Dayan gilt als sehr öffentlichkeitsscheu, aus seinen Firmen dringt nur selten etwas nach außen.“
Sein Unternehmen investiert seit 2005 in Deutschland in Immobilien. Laut Sascha Hettrich, der seit März 2017 CEO der Berliner Intown Gruppe ist, verwaltet Intown in Deutschland rund 1,8 Millionen Quadratmeter Mietfläche. Das dürften rund 30.000 Wohnungen sein.
Wegen der abrupten Räumung hat die Eigentümer-Gesellschaft inzwischen die Stadt Dortmund verklagt. Intown-Chef Hettrich erklärte, man habe erst am Tag der Räumung „erstmals von den detaillierten Brandschutzbedenken und baurechtlichen Themen Kenntnis erhalten und keinerlei Zeit für eine Reaktion in der Sache gehabt“.
Das ist absurd. Die Mängel an der Hochhaus-Siedlung sind seit Jahren bekannt. Die Anwohner haben immer wieder darauf hingewiesen. Die Ruhrnachrichten berichten in einer Reportage, dass „die Schachtproblematik, die letztlich zur Räumung des Hannibals geführt hatte, seit spätestens 2009 bekannt war“. Die Gutachten und Nebengutachten stünden öffentlich einsehbar im Internet.
Die Stadt verweist zudem darauf, dass Vertreter von Intown bei mehreren Ortsterminen im Dorstfelder Hochhauskomplex anwesend waren.
Die Hochhaus-Siedlung im Stadtteil Dorstfeld stammt aus den Siebzigerjahren. Die acht nebeneinander stehenden Terrassenhochhäuser mit bis zu 17 Etagen gelten als Armutsviertel. Hier leben viele Arbeitslose, die Einkommen derjenigen, die Arbeit haben, liegen unter dem Durchschnitt. Die Mieten sind niedrig, deshalb wohnen viele einkommensschwache Familien, Studenten und seit einiger Zeit auch Flüchtlinge in „Hannibal II“. Rund 500 der 800 Hannibal-Bewohner beziehen Hartz IV.
In Dortmund gibt es zwei dieser „Hannibal“ genannten Komplexe. Der Name soll sich von der äußeren Form der Hochhäuser herleiten, die an Elefanten erinnert. Karthagos Feldherr Hannibal hatte mit Elefanten die Alpen überquerte, um die Römer anzugreifen. Neben dem jetzt betroffenen steht ein weiterer kleinerer, aber baugleicher Komplex in der Dortmunder Nordstadt. Auch dort ist die Armut extrem hoch. Hier mussten im Januar 2016 Teile des Wohnkomplexes geräumt werden, nachdem mehrere Autos gebrannt hatten.
Die World Socialist Website sprach am Rande einer Informationsveranstaltung am 9. Oktober, zu der Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) eingeladen hatte, mit den Mietern.
Alle wollten ungenannt bleiben, weil sie Angst hatten, sie könnten Probleme bei der Wohnungssuche bekommen.
Ein älteres Ehepaar, das seit über 20 Jahren dort wohnte, sagte: „Für uns sieht es so aus, als ob Intown die Räumung bewusst ausnützt, um uns alle rauszubekommen, um alles Luxus zu sanieren und dann viel teurer vermarkten zu können. Die Stadt nutzen sie aus, um das durchzuziehen.“
Andere stimmten dem zu. Sie würden gern dort wohnen, die Mieten seien mit vier Euro pro Quadratmeter ausgesprochen günstig. Sie vermuteten, Intown könne mit diesen Mietpreisen und den langjährigen Mietern nicht so viel Gewinn machen, wie es möchte. „Wenn das Haus leer und saniert ist, können sie leicht mehr als das Doppelte bekommen.“
Viele berichteten, dass sie von der Räumungsanordnung überrascht worden sind. Ein junger Mann, der im Schichtdienst arbeitet, meinte: „Es war purer Zufall, dass ich die plötzliche Räumung überhaupt mitbekommen habe. Normalerweise schlafe ich nach meiner Spätschicht erst mal. Die hätten das doch sicher anders abwickeln können.“
Eine junge Frau sagte, dass niemand an die Tür gekommen sei und sie genau informiert habe. „Die Aufforderung, sich in den sozialen Medien, Twitter oder Facebook, zu informieren, war nicht in Ordnung. Da hat sich doch nicht jeder registriert.“
Ein anderer Mieter erzählte, dass ihm eine Wohnung angeboten wurde. „Sie fragten, ob wir sie haben wollten. Als wir fragten, ob wir sie uns anschauen könnten, sagten sie uns, dafür haben wir keine Zeit.“
Auf der Versammlung selbst, auf der Oberbürgermeister Sierau, der Leiter des Krisenstabes Ludger Wilde, die Leiter des Sozialamts und des Wohnungsamtes Fragen der rund 150 Versammelten beantworteten, wurden viele brutale Einzelschicksale deutlich. Intown selbst hatte sich geweigert, an der Versammlung teilzunehmen.
So erzählte z. B. ein Mieter, der in einer Notunterkunft untergekommen ist: „Ich muss jeden Tag meine drei Kinder zur Schule und zum Kindergarten fahren, dann eine Stunde zur Arbeit. Deshalb komme ich oft zu spät. Mein Chef hatte bisher Verständnis, aber jetzt wird er ungeduldig und droht mit Kündigung. Ich halte das nicht mehr lange durch.“
Sein Problem trifft für viele Familien mit Kindern zu, weil die Unterkünfte oft in weit entfernten Stadtteilen und damit weit von Schulen und Kindergärten entfernt liegen. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln und selbst mit dem Auto sind die Strecken vor allem für Arbeitende kaum zu bewältigen.
Eine Familie beklagte sich über die Verhältnisse in der Notunterkunft. Sie müssten in winzigen Mehrbettzimmern hausen mit Gemeinschaftsdusche und Gemeinschaftsküche. Die Kinder hätten kaum Platz zum Spielen.
Viele schilderten Probleme mit dem Sicherheitsdienst, der den leerstehenden Wohnkomplex bewacht und jeden begleitet, der Privatsachen aus der eigenen Wohnung holen möchte. Dafür steht den ehemaligen Bewohnern nur eine halbe Stunde zur Verfügung. Bei Umzügen wurde ihnen ein Zeitraum von zwei Stunden zugebilligt.
Eine Frau, die mit ihrer Familie bei Verwandten untergekommen ist, meinte, dass sie in ihre Wohnung wollte, um Wäsche zu waschen und zu duschen, weil sie die Kosten dafür den Verwandten nicht zumuten wollte. Aber Duschen und Waschen sei nicht erlaubt. Ihr wurde versprochen, dass sie einen Waschsalon aufsuchen und die Quittung dem Sozialamt vorlegen könne.
Viele der Hannibal-Mieter waren sichtlich wütend darüber, dass sie die Leidtragenden der Geschäftemacherei Intowns sind.
Ihre jetzige Situation ist eine direkte Folge der Deregulierung des Wohnungsbaumarktes durch die Kommunen. Der Wohnbaukomplex „Hannibal II“ wurde vor 35 Jahren durch die kommunale Wohnungsbaugesellschaft Dogewo (Dortmunder Gesellschaft für Wohnen) erbaut. 2004 verkaufte der von SPD-Oberbürgermeister Gerhard Langemeyer geführte Stadtrat die Wohnungen – und viele mehr – an das börsennotierte, halbseidene Unternehmen Janssen & Helbing. Dieses meldete schon 2005 Insolvenz an, die Hochhäuser kamen unter Zwangsverwaltung. Mehrfach wechselten die Eigentümer, bis im Zuge der Zwangsversteigerung Intown den Komplex für sieben Millionen Euro kaufte, mehr als das Doppelte des eigentlichen Verkehrswerts.
Das ZDF berichtete, dass Experten schon 2013 warnten: „In Deutschland etabliere sich ein sogenanntes Hartz IV-Geschäftsmodell.“ Das zähle „auf die ‚gesicherte‘ Mietzahlung (ggf. direkt durch die Jobcenter bzw. Sozialämter) und die Hinnahme von Mängeln durch diese Mietergruppe“.
Gestützt wird dieses Geschäftsmodell nicht nur von den kommunalen Parteien, die ihre Immobilien an Investoren verscherbeln, sondern auch von den günstigen Krediten, die die Zentralbanken den Banken und Hedgefonds als Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 zur Verfügung stellen.
Eine Fachzeitung für die Immobilienwirtschaft berichtete am 21. September, dass Intown erneut für 1,2 Milliarden Euro ein Immobilienpaket gekauft haben solle. Firmen wie Intown sehen in ihren Investments eine Gelegenheit, auf die weitere Wertsteigerung der Immobilien zu spekulieren. Sanierungen sind aufgrund des aktuellen Runs auf Immobilien nicht notwendig. Leidtragende dieser neuen Spekulationswelle sind die Mieter.