Diese Erklärung erschien 2002 vor der zweiten Runde der Präsidentenwahl am 5. Mai, in der sich der neofaschistische Kandidat des Front National (FN), Jean-Marie Le Pen, und der amtierende gaullistische Präsident Jacques Chirac gegenüberstanden. Im Gegensatz zur Sozialistischen Partei, der Kommunistischen Partei, den Grünen und anderen Organisationen lehnte es die WSWS ab, den Kandidaten der Rechten, Chirac, zu unterstützen. Sie rief stattdessen zu einem aktiven Wahlboykott auf, um so unabhängig vom Wahlausgang die Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen den zukünftigen Präsidenten vorzubereiten.
Das Studium der französische Präsidentenwahl 2002 ist von großer Bedeutung für die derzeitige Wahl zwischen dem früheren Banker und Wirtschaftsminister der Sozialistischen Partei (PS), Emmanuel Macron, und der neofaschistischen Kandidatin Marine le Pen. (Siehe „Nein zu Macron und Le Pen! Für einen aktiven Boykott der Frankreichwahl!”)
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Die französischen Präsidentschaftswahlen haben den Führern, Mitgliedern und Anhängern von Lutte Ouvrière (LO), Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) und Parti des Travailleurs (PT) eine große politische Verantwortung auferlegt. Über drei Millionen Menschen, mehr als jemals zuvor, haben Euren Kandidaten in der ersten Runde ihre Stimme gegeben. Doch daneben brachte die erste Runde auch einen Durchbruch für die Nationale Front. Der faschistische Kandidat Le Pen landete an zweiter Stelle und tritt in der Stichwahl am 5. Mai gegen Präsident Chirac an.
Die Millionen Menschen, die für Eure Kandidaten gestimmt haben, erwarten von Euch klare und eindeutige Stellungnahmen zu der jetzt entstandenen politischen Krise. Die Frage, die sich stellt und beantwortet werden muss, lautet: Wie verhalten sich Eure Organisationen zu der Abstimmung am 5. Mai? Wie können die französischen Arbeiter und Jugendlichen jetzt ihre gesellschaftlichen Interessen verteidigen und die faschistische Gefahr besiegen?
Die World Socialist Web Site ruft alle Organisationen, denen es um die Verteidigung der Arbeiterklasse geht, zu einer aktiven Kampagne für einen Boykott der Präsidentschaftswahlen am 5. Mai auf. Keine politische Unterstützung für Le Pen oder Chirac! Mobilisiert die arbeitenden Menschen und die Jugendlichen in Frankreich gegen diese undemokratische Scheinwahl!
Trotz der bekannten historischen und politischen Differenzen zwischen Euren drei Parteien und dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale, die wir gar nicht vertuschen wollen, fühlen wir uns verpflichtet, eine solche Kampagne vorzuschlagen und die politischen Grundlagen dafür darzulegen.
Ein Boykott ist notwendig, um diesen Scheinwahlen ihre Legitimität abzusprechen. Er ist notwendig, weil er der Arbeiterklasse eine unabhängige politische Linie gibt und weil ein aktiver und kühner Boykott die besten Voraussetzungen für die politischen Kämpfe schaffen wird, zu denen es nach den Wahlen kommen wird.
Ein Boykott, den Eure drei Parteien ausrufen und offensiv vertreten, wäre etwas ganz anderes als individuelle Enthaltungen. Die Masse und besonders die jungen Leute, die durch den Schock von Le Pens Erfolg in der ersten Runde in Bewegung geraten sind, könnten auf diese Weise politisch erzogen werden.
Diese neuen Kräfte haben viel über Politik zu lernen. Sie müssen lernen, die Lügen des gesamten bürgerlichen Politikbetriebs zu durchschauen – Regierungs-Rechte wie -Linke und auch die Medien. Alle behaupten sie, eine Stimmabgabe für Chirac bedeute die Verteidigung der Demokratie, die Rettung von Frankreichs „Ehre“, die Schaffung einer „antifaschistischen Front“, usw.
Doch die Arbeiterklasse kann sich nicht auf die korrupte und reaktionäre französische Bourgeoisie verlassen, wenn es um die Verteidigung demokratischer Rechte oder den Kampf gegen den Faschismus geht. Chiracs Kampagne, in der die Law-and-Order-Rhetorik Le Pens uneingeschränkt übernommen wurde, beweist dies eindeutig.
Mancher wird vielleicht argumentieren, dass ein Boykott der Wahl am 5. Mai Le Pen und seine faschistische Bewegung stärken würde. Solche Behauptungen weisen wir zurück. Politik ist nicht dasselbe wie Arithmetik, und man muss nicht Chirac unterstützen, um gegen Le Pen zu sein. Im Gegenteil, gerade die offizielle Kampagne für Chirac, in der Regierungs-Linke und -Rechte zusammenstehen, wirkt als Bestätigung von Le Pens völlig falscher und demagogischer Behauptung, dass er als Einziger die Opposition der Bevölkerung gegen das politische Establishment zum Ausdruck bringe.
Eine breit angelegte Kampagne des Boykotts und der Opposition gegen den 5. Mai, an deren Spitze die sozialistische Linke steht und die Arbeiter und Jugendliche sowohl gegen Le Pen als auch gegen Chirac mobilisiert, würde Le Pens verlogene Pose zerstören und breiten Massen vor Augen führen, dass es eine progressive gesellschaftliche Kraft gibt, die der bestehenden Gesellschaft und Politik entgegentritt.
Wir müssen offen aussprechen, dass die bisherige Haltung der Vertreter von LO und LCR auf eine stillschweigende Befürwortung der Stimmabgabe für Chirac hinausläuft. Die LO „ruft Arbeiter nicht dazu auf, sich in der zweiten Runde zu enthalten“, erklärt die Präsidentschaftskandidatin der LO, Arlette Laguiller. In einer Erklärung des Politischen Büros der LCR heißt es: „Die LCR setzt sich dafür ein, dass Le Pen am 5. Mai so wenige Stimmen wie möglich erhält. Wir haben Verständnis für diejenigen Wähler, die aus Opposition gegen Le Pen für Chirac stimmen, aber wir glauben nicht, dass Chirac Schutz vor einem erneuten Aufstieg der extremen Rechten bieten kann.“
Vor der ersten Wahlrunde haben Eure Parteien den rechten Charakter von Chiracs Präsidentschaft aggressiv angeprangert und Chirac – sehr zu Recht – als Verkörperung der korrupten bürgerlichen Reaktion dargestellt. Wie könnt Ihr jetzt so tun, als ob die Stimmabgabe für Chirac zulässig, verständlich oder zu rechtfertigen sei? Sollte man Eure früheren Erklärungen und Warnungen nicht ernst nehmen?
Die Formulierungen in der Erklärung der LCR legen nahe, dass die Argumente zugunsten einer Stimmabgabe für Chirac in der zweiten Runde irgendwie unwiderlegbar seien, oder dass die Massen einen offenen Aufruf zum Boykott der Wahl zwischen Chirac und Le Pen nicht verstehen würden. Solche Vorstellungen beinhalten eine schwere Unterschätzung des politischen Potenzials der heutigen Lage.
Wer ist für Le Pens Erfolg verantwortlich?
Ohne die Gefahr herunterzuspielen, die von der Nationalen Front ausgeht, bedeuten die Stimmen für Le Pen keine Massenunterstützung für ein faschistisches Programm in Frankreich und schon gar nicht die Entstehung einer faschistischen Massenbewegung nach dem Vorbild Mussolinis oder Hitlers. Selbst unter Le Pens Wählerschaft unterstützt nur ein kleiner Teil sein sozialpolitisches Programm und die Errichtung eines rechten, autoritären Regimes.
Sollte Le Pen entgegen den Erwartungen die Präsidentschaftswahlen gewinnen, wäre er deshalb noch nicht in der Lage, die französische Bevölkerung einer totalitären Diktatur zu unterwerfen. Die Kampagne für Chirac von Seiten der Medien und des politischen Establishments enthält ein Element grotesker Übertreibung der unmittelbaren Bedrohung, die von Le Pen ausgeht. Auf diese Weise soll die Arbeiterklasse so verschreckt werde, dass sie eine Politik der Klassenkollaboration unterstützt. Um Le Pen zu bekämpfen, brauchen wir eine zutreffende Diagnose über die Ursache des politischen Übels, das er verkörpert. Diese Ursache liegt darin, dass der Weg zu einer sozialistischen Alternative zur kapitalistischen Politik bislang versperrt wurde.
Le Pen profitiert politisch und ideologisch davon, dass die Parteien, die Anspruch auf die Vertretung der Arbeiterklasse erheben, sie und ihre Interessen fallen gelassen haben. Wie Jospin in seinem Wahlkampf zugab, mag sich seine Partei zwar „sozialistisch“ nennen, doch ihr Programm ist „nicht sozialistisch“. Die Sozialistische Partei versucht im Auftrag der Kapitalisten einen Sozialstaat zu verwalten, der keine Sozialleistungen mehr bietet, sondern im Gegenteil den Lebensstandard und die soziale Lage der Arbeiter ständig weiter verschlechtert. Die Jospin-Regierung hatte es sich zur Aufgabe gemacht, sämtliche Opfer an Arbeitsplätzen und Sozialprogrammen durchzusetzen, die als Voraussetzung für den Anschluss an die Europäische Währungsunion und für die Einführung des Euro galten.
Was die Kommunistische Partei angeht, so war sie viele Jahrzehnte lang die Hauptstütze des französischen Kapitalismus innerhalb der Arbeiterklasse. Diese stalinistische Organisation ist in erster Linie dafür verantwortlich, dass in jüngster Zeit das Gift der Ausländerfeindlichkeit in die Arbeiterklasse getragen wurde. Der Vorsitzende und Präsidentschaftskandidat der KP, Robert Hue, machte sich vor zwanzig Jahren erstmals als Bezirksbürgermeister in Paris einen Namen, indem er Hass und Angst vor Einwanderern schürte. Auf diese Weise ebnete er Le Pen den Weg in die Arbeiterviertel der Vorstädte und in die ehemaligen Hochburgen der KP im Norden des Landes.
Le Pen hat weitgehend deshalb an Stärke gewonnen, weil die sogenannten linken Parteien während der vergangenen zwanzig Jahre eine ausgesprochen rechte Politik gemacht haben. So entstand die Stimmung der Entfremdung und Enttäuschung, die von der Nationalen Front ausgenutzt wurde. Und doch soll die Antwort auf die faschistische Herausforderung – wenn man denselben bankrotten sozialdemokratischen Politikern glauben will – ausgerechnet darin bestehen, noch weiter nach rechts zu gehen und am 5. Mai Chirac zu unterstützen.
Jospin, Hollande, Chevènement etc. fällt es natürlich nicht schwer, zur Stimmabgabe für Chirac aufzurufen. Sie müssen sich dazu nicht groß umorientieren, weil sie ohnehin im selben politischen Fahrwasser schwimmen wie er. Sie haben während der fünf Jahre der Kohabitation eng mit Chirac zusammengearbeitet und dabei nicht nur eine reaktionäre Innenpolitik unterstützt, sondern auch die Beteiligung Frankreichs an einer Reihe imperialistischer Militärinterventionen – von Bosnien und dem Kosovo bis hin zu Afghanistan.
Das Argument von Jospin & Co., dass Le Pens Sieg auf die „Spaltung der Linken“ zurückzuführen sei, richtet sich nicht nur gegen die Kampagnen von LO, LCR und PT zu den Präsidentschaftswahlen, sondern generell gegen die Existenz von politischen Organisationen der Arbeiterklasse, die unabhängig sind von der Bourgeoisie. Seine Logik ist die Auflösung aller politischen Tendenzen, die sich auf den Sozialismus berufen, in einem einzigen breiten Strom, dessen politische Richtung von den rechtesten Kräften vorgegeben wird – vergleichbar mit der Demokratischen Partei in den Vereinigten Staaten, deren Rolle im Endergebnis George W. Bush ins Weiße Haus brachte.
Jospin und die Sozialistische Partei – und deren Apologeten wie Daniel Cohn-Bendit – behaupten, dass die sozialistische Linke an Le Pens Durchbruch Schuld sei. Dieses eigennützige Argument weisen wir mit Verachtung zurück. Die Tatsache, dass ein beträchtlicher Anteil an Arbeitern für ihren schlimmsten Feind stimmten, bereitet allen echten Sozialisten Kopfzerbrechen. Doch die Verantwortung für diese gefährliche Entwicklung liegt bei denjenigen, die die Arbeiterklasse über viele Jahre hinweg systematisch verraten haben.
Die internationale Dimension
In der ersten Runde des Wahlkampfs wurden die internationalen Dimensionen der Krise, vor der die Arbeiterklasse steht, weitgehend außer Acht gelassen. Dennoch profitierten Le Pen und Mégret mit Sicherheit davon, dass sie sich als Gegner von Brüssel ausgaben, die Schuld an der wachsenden Arbeitslosigkeit und dem sinkenden Lebensstandard der Arbeiter auf die europäische Integration und die Einführung des Euro schoben und ausländische Arbeiter zum Sündenbock machten.
Die Arbeiterklasse muss eine vorwärts gewandte, keine rückwärts gerichtete Alternative zur kapitalistischen Globalisierung vertreten. Sie muss der chauvinistischen und ausländerfeindlichen Demagogie ein Programm entgegenstellen, das sich auf den sozialistischen Internationalismus begründet. Unter kapitalistischen Bedingungen bedeutet die Globalisierung nur für die Konzernchefs ein „Europa ohne Grenzen“, während die Arbeiter weiterhin innerhalb der nationalen Grenzen festsitzen. Wir lehnen die reaktionäre Utopie einer Rückkehr zur nationalen Eigenständigkeit Frankreichs ab – sie funktionierte schon vor zwanzig Jahren unter Mitterrand nicht mehr – und kämpfen für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa, in denen Arbeiter jeder Abstammung und Nationalität sich frei bewegen, arbeiten und wohnen können, wo immer sie möchten.
Der Internationalismus ist der Wesenskern des Sozialismus. Der Kampf zur Verteidigung der Interessen der französischen Arbeiter und Jugendlichen ist untrennbar mit dem Kampf gegen den Imperialismus verbunden – nicht nur in seiner amerikanischen, sondern auch in seiner französischen, britischen, deutschen und japanischen Form. Das größte Verbrechen der Koalition unter Führung der Sozialistischen Partei war ihre Unterstützung für den französischen Imperialismus in Afrika, im Nahen Osten, auf dem Balkan und jüngst in Afghanistan. Jospin stellte sich damit auf dieselbe Seite der Barrikaden wie Le Pen, der ehemalige Fallschirmspringer und Folterer in Algerien.
Lehren aus der Geschichte
Wenn die Linke das Recht hat, im Namen der „Verteidigung der Demokratie“ zur Stimmabgabe für den Reaktionär Chirac aufzurufen, dann ist es auch legitim, für das Programm seiner Regierung zu stimmen, sobald sie erst im Amt ist, oder dieser Regierung sogar als Gesetzgeber oder Minister beizutreten. Eine solche opportunistische Politik hat in der französischen Arbeiterbewegung eine lange und tragische Geschichte. Sie reicht zurück bis auf den berüchtigten Alexandre Millerrand, den ersten sozialistischen Politiker, der – vor hundert Jahren – einer bürgerlichen Regierung beitrat. Auch Millerrand gab als Motiv die Verteidigung der Demokratie gegen die Bedrohung der ultrarechten Dreyfus-Gegner an. Die Regierung, der er beigetreten war, verübte schließlich blutige Massaker an streikenden Arbeitern.
Dieselben Argumente wurden vorgebracht, als in Frankreich 1936 die Volksfront gegründet wurde – ein Bündnis aus Sozialistischer Partei, Kommunistischer Partei und den bürgerlichen Radikalen Sozialisten. Die Volksfrontregierung, die durch die Unterstützung der Arbeiterklasse an die Macht kam, setzte alles daran, die revolutionäre Bewegung, die sich in einem riesigen Generalstreik entlud, zu zerstreuen und den französischen Kapitalismus zu retten. Sobald sie ihre Aufgabe erledigt hatte, die Arbeiterklasse zu zügeln, zu verraten und zu demoralisieren, trat sie die Macht an die Rechten ab. So schuf sie die Voraussetzungen für den Zusammenbruch von 1940 und für die Errichtung des pro-faschistischen Vichy-Regimes.
Hie und da trifft man auf den zynischen und falschen Versuch, die Stimmabgabe für Chirac zu rechtfertigen, indem auf das Vorbild von Leo Trotzkis Kampf gegen die ultralinke Politik der stalinistischen „dritten Periode“ verwiesen wird, insbesondere in Deutschland in den Jahren von Hitlers Aufstieg zur Macht. Trotzki widersetzte sich der Gleichsetzung von Sozialdemokratie und Faschismus, die damals die Politik der stalinistischen Führung der Kommunistischen Partei Deutschlands bestimmte. Die KPD wies jedes Bündnis der Arbeiterorganisationen gegen die Bedrohung durch die Nazis zurück.
Trotzkis Kampagne für eine kämpfende Einheitsfront der Arbeiterklasse hatte aber nichts gemeinsam mit der späteren Rechtswende der Stalinisten zur Volksfront, mit der sie im Namen der „Verteidigung der Demokratie“ die Arbeiterklasse den bürgerlichen Parteien unterordneten. Eben diese Politik – die die spanische Revolution ruinierte und in Frankreich, Chile und Dutzenden weiteren Ländern zu Katastrophen führte – wird jetzt in der Kampagne für Chirac wiederbelebt.
Es wäre falsch, Frankreich im Jahr 2002 mechanisch mit Deutschland im Jahr 1932 gleichzusetzen oder Le Pen auf eine Stufe mit Hitler zu stellen. Abgesehen von den ideologischen und politischen Ähnlichkeiten zwischen der Nationalen Front und den Nazis ist Le Pens Bewegung gegenwärtig weitaus schwächer. Ihre Zugewinne ergaben sich nicht aus einer breiten Radikalisierung ruinierter Schichten des Kleinbürgertums infolge eines globalen Zusammenbruchs des Kapitalismus. Sie sind weitgehend eine Folge der Desorientierung in der Arbeiterklasse, die durch den langjährigen Verfall und Bankrott ihrer alten Parteien ausgelöst wurde.
Dennoch lassen sich aus der historischen Parallele bestimmte Lehren ziehen. Wer heute dafür eintritt, Chirac zu wählen, um „Le Pen zu verhindern“, folgt den Fußstapfen der deutschen Sozialdemokraten, die in den Wahlen von 1932 für das Amt des Reichspräsidenten den reaktionären Militaristen Hindenburg unterstützten, um „Hitler zu verhindern“. Im Januar 1933 war es Hindenburg, der Hitler zum Reichskanzler ernannte. Durch den gesamten Verlauf der deutschen Katastrophe hindurch beugte sich die Sozialdemokratie unterwürfig den bürgerlichen Parteien und dem bürgerlichen Staat und widersetzte sich jedem Versuch, die Arbeiterklasse unabhängig davon gegen den Faschismus zu mobilisieren.
Chirac hat keine grundlegenden politischen Differenzen mit Le Pen. Wenn er es künftig einmal für politisch opportun hält, dann kann er Le Pen durchaus auffordern, seine Regierung zu unterstützen oder ihr sogar beizutreten, um sie gegenüber der Arbeiterklasse zu stärken.
Die zentrale historische Frage ist die Notwendigkeit, dass die Arbeiterklasse einen eigenständigen politischen Standpunkt bezieht und in Bezug auf jedes Thema, einschließlich der brennenden Frage des Kampfs gegen den Faschismus, ihre unabhängige Stärke entfaltet. Denn letztlich taugt nur die eigenständige politische Kraft der Arbeiterklasse – und nicht die Institutionen und Parteien des bürgerlichen Staates – zur Verteidigung demokratischer Rechte.
Der Weg vorwärts
Eine aggressive Kampagne für einen Boykott der zweiten Runde ist die beste Vorbereitung der Arbeiterklasse auf den Kampf gegen den Kandidaten – egal welchen – der die Wahl gewinnen wird. Diejenigen, die zur Stimmabgabe für Chirac aufrufen, tun so, als ob der 5. Mai der Anfangs- und Endpunkt aller Politik sei. Sie ignorieren sogar die Auswirkungen einer Kampagne für Chirac auf die Parlamentswahlen im nächsten Monat, ganz zu schweigen von den Klassenkämpfen und sozialen Auseinandersetzungen, zu denen es nach den Wahlen unweigerlich kommen wird.
Erinnern wir uns, was das letzte Mal geschah, als Jacques Chirac zum Präsidenten Frankreichs gewählt wurde. Weniger als sechs Monate nach seinem Einzug in den Elysée-Palast wurde Frankreich von den größten Streiks und Studentenprotesten seit Mai-Juni 1968 erschüttert. Die Kämpfe vom November/ Dezember 1995, die durch den Angriff der Juppé-Regierung auf Renten und andere Sozialleistungen ausgelöst wurden, erschütterten die französische Bourgeoisie, unterhöhlten die Juppé-Regierung und schufen die Voraussetzungen für die Niederlage der Gaullisten und die Wahl einer von den Sozialisten geführten Regierung – zur großen Überraschung von Jospin und anderen Führungsfiguren der offiziellen Linken.
Vor dem Hintergrund dieser Geschichte entpuppt sich die gegenwärtige Kampagne, „100 Prozent für Chirac“, als Versuch, die französische Arbeiterklasse im Vorfeld von Kämpfen, die weitaus größere Dimensionen annehmen werden als 1995, in eine Zwangsjacke zu stecken. Das Ergebnis einer großen Stimmenzahl für Chirac wäre eine deutliche Steigerung seiner politischen Autorität als quasi bonapartistische Figur. Er würde diese Autorität rücksichtslos gegen die Interessen der Arbeiterklasse einsetzen.
Vieles deutet darauf hin, dass sich die Führer der Sozialistischen Partei und die übrigen Organisationen der „Regierungslinken“ über diesen Zweck vollständig bewusst sind. Daher drängen sie auf ein Ende der Massendemonstrationen gegen Le Pen, denn sie fürchten, dass diese Proteste nach den Wahlen die Umsetzung des Programms der Rechten – Privatisierungen, schlechtere Arbeitsbedingungen, Arbeitsplatzabbau und Lohnsenkungen – erschweren könnten.
Die große Lehre aus dem letzten Vierteljahrhundert ist die Notwendigkeit, den reaktionären politischen Einfluss der alten, überlebten, versteinerten Organisationen zu bekämpfen, die einst für die Arbeiterklasse sprachen. Diese Organisationen sind heute hohl. Sie werden nur noch durch bürokratischen Eigennutz und Staatsgelder aufrechterhalten.
Gerade Jospins politische Laufbahn ist ein Beispiel für die schädlichen Folgen einer Jahrzehnte langen Anpassung an diese alten Organisationen. Er ist ein Lehrbeispiel für das Schicksal einer Person, die ihren Opportunismus hinter den politischen Prinzipien und der historischen Größe Leo Trotzkis verstecken wollte. Seine politische Karriere endete nun mit einem würdelosen Rückzug. Er legt seine politische Verantwortung gerade in dem Moment nieder, in dem der französischen Arbeiterklasse sehr ernste Gefahren drohen.
Die französische Politik – und die Weltpolitik – befindet sich an einem historischen Wendepunkt. Alles hängt, wie Trotzkis bereits vor langer Zeit erklärte, vom „subjektiven Faktor“ ab, d. h. von der revolutionären Führung und dem politischen Bewusstsein der Arbeiterklasse. Mit einer Führung, die sich nicht von der bürgerlichen öffentlichen Meinung benebeln lässt, die auf die Arbeiterklasse und ihre politische Kraft vertraut, wird das Debakel Jospins und der Sozialistischen Partei zum Auftakt für die Entwicklung einer unabhängigen politischen Massenbewegung der Arbeiterklasse, die sich auf ein sozialistisches und internationalistisches Programm stützt.
Die Stimmen, die am 21. April für LO, LCR und PT abgegeben wurden, sind nur ein schwacher Abklatsch der wirklichen Gefühle von Millionen Arbeitern und Jugendlichen. Man muss den Mitgliedern und Anhängern dieser Parteien gegenüber offen sprechen: Nach den Erklärungen und Taten Eurer Führer zu urteilen haben Eure Organisationen bislang nicht erkennen lassen, dass sie verstehen, welche entscheidende Verantwortung jetzt auf ihren Schultern liegt. Ihr seid aufgerufen, in der gegenwärtigen Krise eine klare Führung zu geben. Konkret heißt das: Übernehmt den Aufruf zu einem Boykott der Präsidentschaftswahlen am 5. Mai. Die World Socialist Web Site ruft alle Sozialisten in Frankreich dringend dazu auf, diese Forderung aufzustellen und dafür zu kämpfen.