Das Amtsenthebungsverfahren und die politische Krise in Brasilien

Die Führung des Unterhauses im brasilianischen Kongress hat Schritte unternommen, um das Amtsenthebungsverfahren gegen die Präsidentin des Landes Dilma Rousseff zu beschleunigen. Auf den Straßen gehen derweil die Demonstrationen gegen und für ihre regierende Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores – PT) weiter.

Am Freitag gab es in allen Bundesstaaten Brasiliens Demonstrationen zur Verteidigung von Dilma – so wird sie allgemein genannt – und von Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, dem ehemaligen Führer der Metallarbeitergewerkschaft, der vor 35 Jahren Mitbegründer der Arbeiterpartei war.

Der Gewerkschaftsverband CUT, einer der Hauptorganisatoren der Demonstration, behauptete, 250.000 Menschen hätten sich in der Innenstadt von São Paulo versammelt, der wichtigsten Finanz- und Industriemetropole Brasiliens. Weitere 50.000 gingen Berichten zufolge in Recife im Norden des Landes auf die Straße. Die Demonstrationen, die von der PT-Bürokratie, der CUT und von regierungsnahen „sozialen Bewegungen“ sowie Studentenverbänden dominiert wurden, waren jedoch wesentlich kleiner als die Proteste, die letzten Sonntag überall im Land stattfanden und die den Sturz von Rousseff und der PT forderten.

Diese Demonstrationen wie auch schon ähnliche vor einem Jahr waren von wohlhabenderen Schichten der Mittelklasse beherrscht, die auf einer extrem rechten Grundlage mobilisiert wurden. Es gab Teilnehmer, die zu einer Wiederholung des Militärputschs von 1964 aufriefen, der eine 20 Jahre andauernde Militärdiktatur zur Folge hatte. Zu den Teilnehmern gehörte auch eine offen faschistische Jugendgruppe. Einige Teilnehmer forderten, der faschistische amerikanische Milliardär und Unternehmer Donald Trump, der Spitzenkandidat der Republikaner bei den US-Vorwahlen, solle Brasilien retten.

An diesen rechten Kundgebungen nehmen nicht viele Arbeiter teil. Aber sie beteiligen sich auch nicht in größerer Zahl an den Demonstrationen zur Unterstützung der PT. Die Arbeiter machen die prokapitalistische und korrupte Politik der PT für das Abgleiten der brasilianischen Wirtschaft in ihre schlimmste Krise seit den 1930er-Jahren verantwortlich, mit anhaltenden Entlassungswellen und einer eskalierenden Inflation, die den Lebensstandard drastisch senkt.

Auf der Kundgebung auf der Avenida Paulista in São Paulo kam es am Freitag zu einem kurzen Zusammenstoß, als eine kleine Gruppe von Regierungsgegnern ein Banner hoch hielt, auf dem Rousseffs Absetzung gefordert wurde. Das führte zu einem Angriff der Pro-Rousseff-Demonstranten, die von der Militärpolizei unter Einsatz von Pfefferspray zurückgedrängt wurden.

Am frühen Morgen vor der Kundgebung räumten Stoßtruppen der Polizei die Allee, die von Demonstranten blockiert wurde, die die Absetzung von Rousseff forderten. Die Polizisten setzten Tränengas, Wasserwerfer und Blendgranaten gegen die relativ kleine Gruppe von Demonstranten ein. Diese zogen sich zurück und versammelten sich vor der Federação das Indústrias do Estado de São Paulo (FIESP), dem führenden Unternehmerverband des Landes. Deren Vorsitzender kam aus dem Gebäude, um sie zu begrüßen und versorgte sie anschließend mit einem Mittagessen. Die FIESP hatte am Sonntag zuvor die Kundgebungen gegen Rousseff unterstützt.

Lula sprach auf der Kundgebung in Sao Paulo am Freitag und rief wiederholt: „Es wird keinen Putsch geben!“ Er beschuldigte die Opposition gegen Rousseff, sie versuche die Ergebnisse der Wahlen von 2014 zu revidieren. Lula erklärte, er trete der Regierung erneut bei, um Rousseff zu helfen, „den Frieden wiederherzustellen“.

Die Wut auf beiden Seiten der Auseinandersetzung um die Amtsenthebung steigerte sich noch – und die Teilnehmerzahl der Kundgebungen am Freitag nahm zweifellos zu – nachdem am letzten Mittwoch der Inhalt einer Unterredung zwischen Rousseff und Lula veröffentlicht wurde, die auf Veranlassung von Sérgio Moro heimlich aufgezeichnet wurde. Moro ist der Richter, der die Untersuchungen in der „Operation Autowäsche“ (Lava Jato) leitet, einem sich immer weiter ausdehnenden Korruptions- und Bestechungsskandal rund um den staatlichen Energiekonzern Petrobras.

In diesem abgehörten Gespräch erklärte die Präsidentin ihrem Vorgänger Lula, sie verfüge über ein Dokument für seine Ernennung zum Minister der Regierung, das man „im Notfall“ benutzen könne.

Moro und andere Ermittler interpretierten diese Äußerung als Beweis, dass Rousseff bereit sei, die Ernennung vorzunehmen, um Lulas Anklage vor einem Strafgerichtshof zu unterbinden. Dadurch könnte sie seine Verurteilung und eine mögliche Gefängnisstrafe in Zusammenhang mit dem Korruptionsskandal verhindern. Minister der Regierung können nur vor Brasiliens Oberstem Gerichtshof angeklagt werden, was ihnen mehr Rechte verschafft; außerdem werden die Gerichtsverfahren dort sehr viel langsamer verhandelt als vor einem normalen Gericht.

Lula wurde Anfang des Monats kurz für Verhöre im Zusammenhang mit dem Petrobras-Skandal festgenommen. Die Ermittler werfen ihm vor zu verheimlichen, dass er ein Apartment am Strand außerhalb von São Paulo besitzt. Es wurde von einer der Baufirma erbaut, die beschuldigt wird, als Gegenleistung für lukrative Aufträge von Petrobras Bestechungsgelder zu zahlen.

Rousseff ernannte Lula am Donnerstag dennoch zu ihrem Kabinettschef und verurteilte Moros Abhöraktion sowie die Veröffentlichung des Inhalts. Sie warf dem Richter vor, „zweifelhafte Methoden“ und „fragwürdige Praktiken“ zu benutzen, die, wie sie sagte, „die Prinzipien und Garantien“ verletzen, „die durch die Verfassung geschützt werden, wie auch die Rechte unserer Bürger. Und darüber hinaus werden dadurch gefährliche Präzedenzfälle geschaffen. Genau so fangen Staatsstreiche an.“

Was die Veröffentlichung des abgehörten Gesprächs noch ungeheuerlicher macht, ist die Tatsache, dass die Aufzeichnung erst erfolgte, nachdem die richterliche Anordnung dafür schon abgelaufen war.

Moro hat die Veröffentlichung des abgehörten Gesprächs verteidigt. Er verglich sie mit der Verfügung des Obersten Gerichtshofs der USA von 1974, mit der Richard Nixon aufgefordert wurde, Aufzeichnungen des Weißen Hauses an den Kongress zu übergeben.

Marco Aurélio Mello, ein rechtes Mitglied von Brasiliens Oberstem Gerichtshof, beschrieb Moros Weitergabe der Aufzeichnung an die Medien als „Kavaliersdelikt“, das „das Beweismittel nicht entkräftet“.

Inzwischen hat das Amtsenthebungskomitee am letzten Freitag seine erste Sitzung abgehalten, als das Unterhaus des Kongresses zu einer höchst ungewöhnlichen Freitagssitzung zusammengetreten war. Die Abgeordneten und Senatoren in Brasilia verlassen die im Landesinneren gelegene Hauptstadt gewöhnlich am Freitag und kommen erst am Dienstag zurück. Der Sprecher des Repräsentantenhauses Eduardo Cunha hat verkündet, an jedem Arbeitstag der Woche Sitzungen einzuberufen, um den zehntägigen Zeitraum zu verkürzen, der Rousseff von der Verfassung gewährt wird, um sich gegen die Vorwürfe im Zusammenhang mit der Amtsenthebung zu verteidigen.

Das Amtsenthebungsverfahren wurde auf der Grundlage von Vorwürfen eingeleitet, Rousseff habe den Bundeshaushalt gesetzwidrig manipuliert, um im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen von 2014 die Staatsausgaben aufrechtzuerhalten. Cunha hat jedoch in das Verfahren noch Anklagepunkte eingebracht, die Teil eines Deals aus einem Strafverfahren gegen Delcídio do Amaral, dem ehemaligen PT-Führer im Senat, sind. Darin wird behauptet, dass Rousseff und Lula aktiv an den Bestechungsaktionen bei Petrobras beteiligt waren.

Dem 65-köpfigen Amtsenthebungskomitee gehören mindestens acht Abgeordnete an, gegen die Brasiliens Oberster Gerichtshof ebenfalls strafrechtlich ermittelt. Cunha selbst ist ein prominenter Verdächtiger im Petrobras-Skandal, dem vorgeworfen wird, mehrere dutzend Millionen Dollar an seine politischen Verbündeten weitergeleitet zu haben und heimlich mindestens fünf Millionen Dollar auf Schweizer Bankkonten deponiert zu haben.

Die wirtschaftliche und politische Krise hat alle großen Parteien und politischen Institutionen in Brasilien völlig diskreditiert, während die Regierung immer stärker auf eine umfassende Verfassungskrise zusteuert, bei der die Exekutive, die Legislative und die Justiz sich gegenseitig ihre Befugnisse streitig machen.

General Eduardo Villas Bôas, Kommandeur der brasilianischen Armee, erklärte am Freitag in einer bedenklichen Rede vor der militärischen Führung von Amazonia in Manaus, er finde es „bedauernswert, dass in einem demokratischen Land wie Brasilien die Menschen nur im Militär die Möglichkeit einer Lösung für die Krise sehen“.

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