In der Welt am Sonntag erschien am Wochenende ein Artikel unter der Überschrift „Sicherheitsbeamte warten sehnsüchtig auf Merkels ‚Go‘“. Die Autoren berichten über „massiven Widerstand“ gegen die Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Geheimdienstkreisen und Sicherheitsbehörden.
„Vor allem beim Verfassungsschutz, im Bundeskriminalamt, beim Bundesnachrichtendienst (BND) und der Bundespolizei wachsen angesichts des Kontrollverlustes und der planlosen Masseneinwanderung täglich die Bedenken“, heißt es in dem Artikel. Ein Spitzenbeamter im Sicherheitsapparat, der seinen Namen „aus Angst vor Repressalien“ nicht nennen wolle, wird mit den Worten zitiert: „Der hohe Zuzug von Menschen aus anderen Weltteilen wird zur Instabilität unseres Landes führen.“
Der Beamte wirft Merkel vor, ihre „Politik der offenen Grenzen“ führe zu einer unkontrollierten Zuwanderung von Extremisten. Das habe eine Radikalisierung der bürgerliche Mitte zur Folge, „weil sie diese Zuwanderung mehrheitlich nicht will und ihr dies von der politischen Elite aufgezwungen wird“.
Dann zitiert der Artikel aus einem „unterschriftslosen Papier“, das unter hochrangigen Sicherheitsbeamten kursiere. Darin heißt es, eine Integration „Hunderttausender illegaler Einwanderer in Deutschland“ sei angesichts bereits bestehender Parallelgesellschaften gar nicht möglich. Stattdessen „importieren wir islamistischen Extremismus, arabischen Antisemitismus, nationale und ethnische Konflikte anderer Völker sowie ein anderes Rechts- und Gesellschaftsverständnis“.
Das namenlose Rundschreiben greift die Bundesregierung scharf an und behauptet, die Warnungen der Sicherheitsbehörden vor unkontrollierbaren Problemen würden auf politischer Ebene bedenkenlos in den Wind geschlagen. Die Regierung hindere die Sicherheitsorgane daran, ihre Arbeit zu machen, zu der sie per Gesetz verpflichtet seien.
Der Vorwurf geht so weit, der Regierung gesetzwidriges Handeln vorzuwerfen. Auf die Feststellung, die Grenzbehörden seien verpflichtet, illegale Einwanderer zurückzuweisen, folgt in dem anonymen Geheimdienstpapier die Drohung: „Entgegenstehende Weisungen sind rechtswidrig und führen zur Strafbarkeit … wg Anstiftung oder Beihilfe zur illegalen Einreise von Ausländern im Wiederholungsfall (Einschleusen von Ausländern).“
Dann zitiert der Artikel den früheren Innen-Staatssekretär und BND-Chef August Hanning. Der 69-jährige, „bis heute in Deutschland und der Welt exzellent vernetzte Sicherheitsexperte“ hat in der vergangenen Woche ein Zehn-Punkte-Programm vorgelegt, in dem er die Bundesregierung auffordert, in der „gegenwärtigen Migrationskrise“ zu einem gesetzlichen Handeln zurückzukehren.
Das Programm des Ex-Geheimdienstchefs, das er nach eigenen Angaben mit „aktiven und pensionierten Sicherheitsexperten“ abgesprochen hat, liest sich wie eine Anweisung an die Regierung. Es umfasst unter anderem folgende Punkte: Aufnahmestopp und Erklärung der Kanzlerin, dass die Aufnahmekapazität in Deutschland erschöpft ist; Weisung an die Bundespolizei, die Grenze für Migranten ohne Einreiserlaubnis sofort zu schließen und jeden Migranten ohne Einreiseerlaubnis konsequent und kompromisslos zurückzuweisen; sofortiges „Einfrieren“ der gegenwärtigen Migrationsströme auf dem Balkan; Beschränkung des Familiennachzugs; Residenzpflicht für Migranten, verbunden mit Leistungskürzungen und Ausschluss von Leistungen bei Verletzung der Residenzpflicht; sofortige Verstärkung der Sicherheitsbehörden.
Die Attacken der Geheimdienste und Sicherheitsbehörden auf die Kanzlerin und die Bundesregierung richten sich gegen die demokratische Struktur der Gesellschaft. Sie zeigen, dass sich der Sicherheitsapparat mehr und mehr verselbstständigt. Obwohl er aus weisungsgebundenen Behörden besteht, handelt er eigenmächtig wie ein Staat im Staat.
Diese Entwicklung zeichnet sich seit längerem ab. Sie steht in direktem Zusammenhang mit der Rückkehr zu einer deutschen Großmachtpolitik, die Bundespräsident Joachim Gauck und die Bundesregierung vor zwei Jahren angekündigt hatten. Damals forderten sie ein Ende der militärischen Zurückhaltung und ein stärkeres deutsches Eingreifen in den Krisenregionen der Welt.
Das Papier „Neue Macht – Neue Verantwortung“, das diese außenpolitische Wende vorbereitete, enthielt auch einen langen Absatz über die „innerstaatliche Dimension deutscher Außenpolitik“. Er befasste sich mit der Frage, wie „Legitimationsprobleme im Inneren“ und die Ablehnung durch eine „skeptische Öffentlichkeit“ überwunden werden können. Mit anderen Worten: wie sich der Widerstand gegen Militarismus und Krieg unterdrücken lässt.
Geheimdienste und Sicherheitsbehörden spielen dabei eine wichtige Rolle. Sie hatten schon in der Weimarer Republik ein Eigenleben geführt und maßgeblich zu deren Untergang beigetragen. Sie hatten enge Verbindungen zur Führung der Reichswehr unterhalten, die sich den zivilen Behörden ebenfalls nicht unterordnete, sowie zu rechten Terrororganisationen.
Berüchtigt war die Organisation Consul (O.C.), eine geheime, rechtsextreme Terrororganisation, die engen Kontakt zur Reichswehr und den Geheimdiensten pflegte und die Weimarer Republik durch politische Morde destabilisierte. Zu ihren bekanntesten Opfern zählte Außenminister Walther Rathenau.
Ein Führungsmitglied der Organisation Consul, Friedrich Wilhelm Heinz, baute nach dem Zweiten Weltkrieg einen neuen Geheimbund auf. Der nach ihm benannte Dienst (FHWD) arbeitete eng mit der Adenauer-Regierung zusammen und wurde Anfang der fünfziger Jahre in den Bundesnachrichtendienst integriert.
August Hanning, der das Zehn-Punkte-Programm formuliert hat, ist eine Schlüsselfigur der bundesdeutschen Geheimdienste. Bevor er 1998 die Leitung des BND übernahm, war er von 1986 bis 1990 Geheimschutzbeauftragter an der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin und in dieser Funktion für den Häftlingsfreikauf aus der DDR zuständig.
Als BND-Chef organisierte er dann den Umzug der Geheimdienstzentrale von Pullach bei München nach Berlin und baute die Behörde zu einer Mammut-Institution im Zentrum Berlins mit engstem Kontakt zur Regierung auf.
Hanning verteidigte die Geheimdienste vehement, als immer neue Einzelheiten über ihre enge Verflechtung mit der rechtsextremen Szene bekannt wurden. So weiß man inzwischen, dass im Umfeld des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), der über sechs Jahre hinweg angeblich unbemerkt neun Migranten und eine Polizisten ermordete, mindestens zwei Dutzend V-Leute der Geheimdienste aktiv waren.
Als Hanning im November 2012 vom NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags zur Verwicklungen des Geheimdiensts, zur Vernichtung von Akten und zur Behinderung der Aufklärung befragt wurde, erklärte er provokativ: „Bei neun toten Polizisten gäbe es keinen Ausschuss.“
Der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy reagierte entsetzt und rief Hanning zur Ordnung. Ein gutes Jahr später durchsuchte die Staatsanwaltschaft Hannover in Anwesenheit von Journalisten Edathys Wohnung und Büros und warf ihm vor, er habe kinderpornographisches Material bezogen. Der SPD-Politiker war damit politisch und persönlich ruiniert. Das Verfahren wurde später ohne Urteil eingestellt.
Die enge Verbindung der Geheimdienste mit dem Rechtsterrorismus, die Behinderung und Unterdrückung der Aufklärung dieser kriminellen Machenschaften und die jüngste Attacke des Sicherheitsapparat auf die Bundesregierung sind ein Alarmsignal, das ernst genommen werden muss.