Die rechtsnationalistische Partei PiS (Prawo i Sprawedliwosc, Recht und Gerechtigkeit) hat nach bisherigen Hochrechnungen die polnischen Parlamentswahlen mit rund 37,7 Prozent der Stimmen gewonnen. Die PO (Bürgerplattform) ist nach zehn Jahren als Mehrheitspartei im Parlament mit 23,3 Prozent für ihre Kürzungspolitik abgestraft worden. Die Wahlbeteiligung war mit 51,5 Prozent die höchste seit 26 Jahren. Rund 30 der 38 Millionen Einwohner des Landes waren wahlberechtigt.
Nach den Hochrechnungen vom Montag wird PiS 242 Sitze im Sejm bekommen, mehr als jede andere Partei seit 1989. Die PO wird nur noch 133 Mandate halten. Die Bauernpartei PSL, die in einer Koalition mit der PO regiert hat, wird es vermutlich mit 5,2 Prozent der Stimmen gerade noch ins Parlament schaffen und etwa 18 Mandate bekommen. Die Spitzenkandidatin von PiS, Beata Szydło, wird nun Ewa Kopacz als Premierministerin ablösen.
Die Vereinigte Linke (Zajednona Lewica), ein neu gegründeter Zusammenschluss von Stalinisten, Sozialdemokraten und Grünen, hat mit 7,7 Prozent der Stimmen den Einzug ins Parlament nicht geschafft. Die Parlamentshürde für Parteibündnisse liegt in Polen bei 8 Prozent, für Einzelparteien bei 5 Prozent. Die ebenfalls neu gegründete Partei Razem, die sich an der spanischen Podemos und der griechischen SYRIZA orientiert, hat mit etwa 4 Prozent der Stimmen den Einzug in den Sejm verfehlt.
Neben PiS gehören die Parteien Kukiz15 (9 Prozent) des ehemaligen Punk-Musikers Paweł Kukiz und Nowoczesna (Moderne, 7,7 Prozent), eine neu gegründete Business-Partei, zu den unverdienten Profiteuren des Hasses auf die bisherige Regierung. Kukiz15 ist vor allem bei Jugendlichen unter 24 beliebt. Mitbegründer und Vorsitzender von Nowoczesna ist Ryszard Petru, ein Banker und Geschäftsmann, der enge Verbindungen zur Weltbank und zum Internationalen Währungsfonds hat. Ob die faschistische Partei KORWiN die Fünf-Prozent-Hürde schafft, ist noch nicht klar, nach bisherigen Hochrechnungen liegt sie bei 4,9 Prozent.
Der Ausgang der Parlamentswahlen in Polen bedeutet ein Anwachsen der nationalen Spannungen innerhalb der EU und eine Verschärfung des Kriegskurses Warschaus gegenüber Russland. PiS tritt für eine größere Unabhängigkeit Polens innerhalb der EU und vor allem gegenüber Deutschland auf und orientiert sich noch stärker als die PO auf die USA.
PiS konnte bei den Wahlen vor allem vom sozialen Unmut über die Kürzungspolitik der PO-PLS-Regierung profitieren, in deren Rahmen unter anderem das Renteneintrittsalter und die Mehrwertsteuer erhöht wurden und umfangreiche Privatisierungen stattfanden. In der verheerenden Niederlage von PO und PLS – beide Parteien haben zusammen deutlich weniger Stimmen bekommen als PiS – drückt sich auch eine Ablehnung der EU durch breite Schichten der Bevölkerung aus.
Da die PO seit 2005 die meisten Sitze im Sejm hatte und immer Teil der Regierungskoalitionen war, wird sie am stärksten mit der EU-Politik in Verbindung gebracht. Polen ist durch den Unionsbeitritt zu einer Billiglohnplattform besonders für deutsche Unternehmen geworden. Während die polnische Wirtschaft im vergangenen Jahrzehnt nach dem totalen Kollaps in den 1990er Jahren um 50 Prozent gewachsen ist, haben im selben Zeitraum geschätzte 2 Millionen von einer Gesamtbevölkerung von 40 Millionen Menschen das Land verlassen, um für höhere Löhne im Ausland zu arbeiten. Die soziale Ungleichheit ist weiter angestiegen. Insbesondere junge Menschen haben bei einer Jugendarbeitslosigkeit von 25 Prozent und Millionen von Billiglohnjobs oft keinerlei berufliche Perspektive.
Die größte Unterstützung hat PiS in der Landbevölkerung. Laut Angaben der Weltbank von 2013 leben immer noch gut 38,8 Prozent der Gesamtbevölkerung (etwa 10 Mio. Menschen) auf dem Land; von der arbeitsfähigen Bevölkerung sind 17,8 Prozent in der Landwirtschaft tätig. Die polnische Katholische Kirche, die besonders auf dem Land großen Einfluss hat, stellte sich uneingeschränkt hinter PiS und hat ihre Zeitungen und den Radiosender Maria, der in einigen ländlichen Regionen der einzig verfügbare ist, der Kampagne von PiS zur Verfügung gestellt. PiS konnte dabei auch an den Hass auf die EU unter Bauern und Landarbeitern appellieren, deren soziales Elend durch den Unionsbeitritt Polens 2004 noch verschlimmert wurde.
Gegenüber dem Guardian begründete die 69-jährige Dorfbewohnerin Maria Kulesza ihre Unterstützung für PiS mit den Worten: „Am Ende eines jeden Monats habe ich mehrere Kunden, die ihr Brot nur noch kaufen können, wenn ich es ihnen auf Kredit anbiete. Hier im Dorf kümmern wir uns noch um einander, deswegen kann mein Laden überleben. Aber in den Städten und Großstädten haben die Supermärkte alles übernommen. Die kleinen Läden mussten zumachen. Ich will eine Regierung, die in die heimische Industrie investiert, so dass die jungen Leute aufhören, Polen zu verlassen, um woanders zu arbeiten.“
Von den rund 10 Millionen polnischen Immigranten in den USA haben 24.000 ihre Stimme abgegeben. Davon ging eine überwältigende Mehrheit (18.000 Stimmen oder 75,4 Prozent) an PiS.
Auch in Industriegebieten wie Schlesien, wo es in den vergangenen Monaten immer wieder zu Streiks und Protesten der Bergarbeiter kam, lag PiS an erster Stelle.
Laut Angaben der lokalen Zeitung Dziennik Zachodni (Westliche Tageszeitung) vom Montag bekam PiS hier 36 Prozent der Stimmen und die PO 25,5 Prozent. Kukiz'15 erhielt was mehr als 11 Prozent und die Nowoczesna fast 7 Prozent. Die Vereinigte Linke und Razem erhielten etwas weniger Stimmen als im Landesdurchschnitt.
Dass PiS mit ihrem zutiefst reaktionären Programm auch hier Unterstützung finden konnte, ist vor allem die Verantwortung der Gewerkschaft Solidarność. Der Führer der Gewerkschaft, Piotr Duda, hatte sich bei den Präsidentschaftswahlen hinter den PiS-Kandidaten Andrzej Duda gestellt und dazu aufgerufen, nicht für die bisherigen Regierungsparteien zu stimmen.
Er erklärte, seine Gewerkschaft habe „eine programmatische Vereinbarung“ mit dem Präsidenten Duda, und sprach sich für eine „stabile“ Regierung aus. Solidarność half der Regierung in den vergangenen Monaten, den Bergarbeiterstreik zu unterdrücken. Ein zentrales Wahlversprechen von PiS war, die Kohleindustrie in Polen am Leben zu erhalten und einen Bankrott von Kompania Weglowa (KW), dem größten europäischen Kohlekonzern, zu verhindern.
Dass PiS und Solidarność unter den Bedingungen einer wachsenden sozialen Krise in der Lage waren, sozialen Unmut in die rechten Kanäle von PiS zu lenken, kann nur vor dem Hintergrund der politischen Verwirrung und Desorientierung erklärt werden, die Jahrzehnte des Stalinismus hervorgebracht haben. Die stalinistische Bürokratie hat in Polen jahrzehntelang unter dem Banner des Marxismus und Kommunismus Nationalismus geschürt, bis sie schließlich selbst die Restauration des Kapitalismus in die Wege leitete.
In Wahrheit ist das Programm von PiS zutiefst arbeiterfeindlich. Die Partei orientiert sich auf das Erbe des autoritären Regimes unter Józef Piłsudski, das in der Zwischenkriegszeit als Bollwerk des Imperialismus in Osteuropa gegen die Sowjetunion fungierte und gleichzeitig mit aller Härte gegen die polnische Arbeiterbewegung vorging.
Auch PiS will nun ein autoritäres Präsidialregime errichten und dafür die Verfassung ändern. Ein Verfassungsentwurf der Partei von 2010 sah vor, den Präsidenten mit weitreichenden Vollmachten auszustatten und die Bedeutung des Sejm deutlich zu verringern.
Auch die Gewaltenteilung in Exekutive (Regierung), Judikative (Gerichtsbarkeit) und Legislative (Gesetzgebung) will PiS aufheben. Dazu soll unter anderem der Posten des Staatsanwalts abgeschafft und seine Funktionen vom Justizminister übernommen werden. PiS hat unlängst angekündigt, den Staatsapparat zu säubern, aber es wird erwartet, dass es auch in der Wirtschaft und anderen Bereichen weitreichende personelle Änderungen geben wird.
Darüber hinaus will PiS ein Verbot von Abtreibungen einführen und die Trennung von Kirche und Staat aufheben. Führende Politiker der Partei sind zudem wiederholt mit rassistischen und anti-semitischen Äußerungen aufgefallen. Viele Medien in Deutschland und im angelsächsischen Raum warnten, Polen könnte in der EU ein „zweites Ungarn“ werden.