Seit Anfang Juli leben im etwas außerhalb gelegenen und von Armut gezeichneten Hamburger Stadtteil Jenfeld rund 800 Flüchtlinge in einer Zeltstadt, die in einem Park am Rande einer Wohnsiedlung errichtet wurde. Es ist eine von zahlreichen provisorischen Massenunterkünften, in denen in diesem Jahr bisher rund 10.000 Menschen in der Hansestadt eingepfercht wurden. Die größte Gruppe, die mehr als ein Drittel der Flüchtlinge ausmacht, kommt aus Syrien, gefolgt von Menschen aus Albanien, dem Irak und Eritrea.
Während eine politisch rechts stehende Initiative, die gegen die Errichtung der Zeltstadt im Jenfelder Moorpark protestierte, von den Medien, der Politik und den Behörden mit viel Aufmerksamkeit bedacht wurde, setzten sich zahlreiche Anwohner und benachbarte Einrichtungen mit großem Engagement für die Neuankömmlinge ein. Eine nahegelegene Schule stellte für eine selbstorganisierte Initiative eigens einen Raum für eine Kleiderkammer zur Verfügung. Am Lagereingang hängt dagegen ein großes Schild, das Spender abweist.
In den Großzelten, die das Deutsche Rote Kreuz aufgestellt hat, stehen den Insassen aufgereihte Klapp-Pritschen zum Schlafen zur Verfügung. Andere Räumlichkeiten gibt es für sie nicht.
Im August mussten alle Lagerbewohner geschlossen gegen die Hauterkrankung Krätze behandelt werden, weil ihre medizinische Versorgung nach dem Auftreten der ersten Fälle wochenlang verschleppt worden war. Ärzte und Helfer hatten wiederholt gegen die unzureichenden Behandlungsmöglichkeiten von Menschen auch mit anderen ansteckenden Krankheiten protestiert.
Das Lager ist umzäunt und streng bewacht. Besucher oder Medien haben keinen Zutritt. Durch die Stoffverkleidung am Zaun erkennt man schemenhaft, dass Menschen in kleinen Gruppen auf Holzbänken zusammensitzen oder herumlaufen. Kinderwagen werden über den Platz geschoben, größere Kinder fahren auf Drei- oder Fahrrädern herum. Zahllose Wäscheleinen sind gespannt, auch über dem Zaun hängen Decken und Schlafsäcke. Am inneren Zaunrand stehen einige Container, in denen offenbar Büros für die Lageradministration und sanitäre Anlagen untergebracht sind. Uniformierte Wachleute patrouillieren auf dem Gelände und kontrollieren den einzigen Zugang.
Auf dem Rasen vor diesem Tor vertreiben sich einige junge Männer die Zeit mit Ballspielen. Andere sitzen unter vereinzelten Bäumen oder auf dem Rasen – offenbar, um ein wenig für sich sein zu können, denn Privatsphäre gibt es im Lager nicht.
Hier sprechen wir einen jungen Mann an, der uns bedeutet, dass er aus Syrien gekommen ist. Er holt seinen Freund Lieth herbei, der Englisch spricht und uns seine Geschichte erzählt.
Lieth ist erst 19 Jahre alt, wirkt äußerlich aber noch jünger. Der Jugendliche hat sich allein mit seinem 16-jährigen Bruder von Damaskus bis Hamburg durchgeschlagen. In einem Jahr, erzählt er, wäre er mit der Schule fertig geworden.
„Wir wollten nicht zur syrischen Armee, deshalb sind wir geflohen“, berichtet er. Regierungsbeamte seien zu ihm nachhause gekommen und hätten seinen Pass mitgenommen, damit er das Land nicht verlassen und sich dem Militärdienst nicht entziehen könne. Daraufhin hätten seine Eltern gesagt: „Wenn du in den Krieg musst, wirst du sterben. Entweder in der Regierungsarmee oder in einer der Milizen. Irgendjemand wird euch zwingen zu kämpfen. Es gibt nur einen Ausweg: Ihr müsst hier weg.“
Die beiden Jungen reisten zunächst in die Türkei und suchten sich dort ein Schiff, das sie nach Griechenland brachte. Von Athen aus nahmen sie einen Zug bis nach Mazedonien. Die dortige Polizei verkaufte ihnen – teuer – Fahrkarten in Richtung Serbien. Etwa 6 km vor der Grenze wurden sie in einem kleinen Ort ausgesetzt.
Mitten in der Nacht überquerten sie querfeldein zu Fuß die mazedonisch-serbische Landesgrenze. Anschließend saßen sie drei Tage fest, bis sie Papiere hatten, die ihnen die Weiterreise ermöglichten. Wieder zu Fuß machten sie sich auf den mühsamen Weg quer durch Serbien nach Ungarn. Kaum angekommen, wurden sie von der ungarischen Polizei aufgegriffen, die sie erkennungsdienstlich behandeln wollte. Als sie sich aus Angst weigerten, ihre Fingerabdrücke abzugeben, wurde ihnen gedroht, dass sie ein halbes Jahr ins Gefängnis gesteckt würden. Da gaben sie schließlich nach. Das Ganze, so Lieth, sei sehr schlimm gewesen.
Nach einigen harten Tagen in Budapest gelang es ihnen, in einen völlig überfüllten Zug nach Wien zu kommen. In Wien ergatterten sie dann unter großen Schwierigkeiten eine Fahrkarte nach München.
In München hätten ihnen Freunde geraten, weiter nach Hamburg zu fahren. Dort sei es sicher besser, nicht so überfüllt wie in München. Nie hätte Lieth gedacht, dass er in Hamburg in einem Zeltlager enden werde.
„In Damaskus“, so die Bilanz des 19-Jährigen, „war es gefährlich, aber wir hatten wenigstens ein Haus. Wir hatten ein Dach über dem Kopf. Das hätte ich von Deutschland nicht gedacht, dass man hier nicht mal in einem Haus leben darf. Zwanzig Menschen sind in einem Zelt untergebracht, Männer, Frauen und Kinder, alle zusammen! In meinem Zelt ist sogar ein kleines Baby, das ist sechs Monate alt.
Nachts ist es so kalt, dass wir nicht schlafen können. Wir laufen die ganze Nacht herum, um nicht so stark zu frieren. Viele halten es nicht aus. Jeden Tag werden fünf bis sechs Menschen ins Krankenhaus gebracht. Wenn man einen Arzt braucht, dauert es sehr lange, bis jemand kommt, wenn überhaupt.
Wir bekommen hier nur etwas zu essen, aber überhaupt kein Geld. Deshalb können wir nichts machen. Wir können das Lager nicht verlassen, wir können nicht einmal in die Stadt hineinfahren, weil wir kein Geld für die Fahrkarte haben.
Wir haben keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Ich sage immer wieder, dass ich Deutsch lernen möchte. Aber ich werde nur vertröstet: Jetzt nicht, ein andermal. So geht das die ganze Zeit. Niemand klärt uns über irgendetwas auf. Jeden Tag sagen sie etwas anderes. Nicht nur mir geht es so, die Freunde, die ich hier gefunden habe, sind alle in derselben Lage. Wir möchten einfach nur lernen und arbeiten.
Nach all dem Geld, das wir ausgegeben haben, nach all den Mühen, nach der harten Reise, sitzen wir hier im Zelt fest und wissen überhaupt nicht, was werden wird. So kann kein Mensch leben. Ab und zu gelingt es mir, mit meiner Mutter in Damaskus zu sprechen. Sie bereut inzwischen, dass sie uns nach Deutschland geschickt hat.“