Perspektive

25 Jahre deutsche Einheit

Am 3. Oktober 1990 wurde die Deutsche Demokratische Republik, ein Staat mit 17 Millionen Einwohnern, 41 Jahre nach seiner Gründung aufgelöst und in die Bundesrepublik Deutschland eingegliedert.

Im Osten wie im Westen Deutschlands waren sich nur wenige Betroffene der Folgen dieses Schrittes bewusst. Es hatte darüber weder eine öffentliche Debatte noch eine Volksabstimmung gegeben. Stattdessen verkündeten sämtliche politische Parteien und Medien pausenlos, die Liquidation der DDR, die Privatisierung des gesellschaftlichen Eigentums und die Einführung des Kapitalismus seien gleichbedeutend mit Freiheit, Demokratie, Wohlstand und Frieden. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) versprach auf Großkundgebungen in der DDR, diese „in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt“.

Auch die DDR-Staatspartei SED unterstützte diese Kampagne. „Nach meiner Einsicht war der Weg zur Einheit unumgänglich notwendig und musste mit Entschlossenheit beschritten werden“, schrieb der letzte SED-Ministerpräsident Hans Modrow dazu in seinen Erinnerungen.

Gregor Gysi, der Ende 1989 den Vorsitz der SED übernahm und bis heute eine führende Rolle in der Linkspartei spielt, erklärt diese Woche in einem Interview, er habe damals die Aufgabe übernommen, die „Ost-Eliten – einschließlich der mittleren Funktionärsebene – in die deutsche Einheit zu führen“. Er sei stolz auf seinen Beitrag, „die ganze Funktionärsschicht der DDR … mit in die Einheit geführt zu haben“.

Gysi beschreibt damit sehr treffend die Rolle der SED. Sie vertrat nicht die Interessen der arbeitenden Bevölkerung, sondern die der „Ost-Eliten“, der parasitären stalinistischen Bürokratie, die das verstaatlichte Eigentum vor allem als Quelle ihrer eigenen Privilegien betrachtete. Diese war unter dem Druck von Massenprotesten zur Einsicht gelangt, ihre Privilegien ließen sich besser auf der Grundlage kapitalistischen Eigentums und unter dem Schutz des westdeutschen Staates verteidigen, als durch den Erhalt der DDR.

Für die Arbeiterklasse waren die Folgen der kapitalistischen Restauration dagegen verheerend. Bereits vor dem 3. Oktober fielen westliche Konzerne, Banken und Glücksritter wie Aasgeier über das vergesellschaftete Eigentum her. Die DDR-Industrie, die zu den führenden Osteuropas gezählt und Vollbeschäftigung sowie soziale Sicherheit garantiert hatte, wurde in kurzer Zeit dem Erdboden gleichgemacht. Die Treuhandanstalt, von der Regierung Modrow gegründet, wickelte insgesamt 14.000 volkseigene Betriebe ab. Einige verkaufte sie, die meisten legte sie still. Innerhalb von drei Jahren wechselten oder verloren 71 Prozent aller Beschäftigten ihren Arbeitsplatz.

Auch das gut ausgebaute Bildungs- und Sozialsystem sowie das dichte Netz kultureller Einrichtungen wurden zerschlagen. Allein Sachsen, das rund vier Millionen Einwohner zählt, legte seit der deutschen Einheit über 1.000 Schulen still.

Von den sozialen Folgen dieses Kahlschlags hat sich der Osten Deutschlands nicht wieder erholt. Die Arbeitslosigkeit liegt dort heute mit 9,8 Prozent deutlich über den 5,8 Prozent im Westen. Die Einwohnerzahl ist als Folge von Abwanderung und Geburtenrückgang um zwei Millionen geschrumpft. Da vor allem junge Arbeitssuchende abgewandert sind, ist die Gesellschaft stark überaltert. Entfielen 1991 noch 40 Jugendliche unter zwanzig Jahren auf hundert Einwohner im erwerbsfähigen Alter, sind es heute gerade noch 24. Der entsprechende Anteil der über 65-Jährigen stieg dagegen von 24 auf 33 und wird 2030 voraussichtlich 63 erreichen.

Der soziale Kahlschlag blieb nicht auf die ehemalige DDR beschränkt. Die deutsche Wirtschaft benutzte die niedrigen Löhne im Osten Deutschlands und Europas als Hebel, um auch im Westen die Löhne zu drücken. Mit den Hartz-Gesetzen schuf die SPD-geführte Regierung Schröder zehn Jahre nach der deutschen Einheit die Grundlage für einen ausgedehnten Niedriglohnsektor, in dem heute über ein Viertel aller Beschäftigten arbeiten.

Noch verheerender als die sozialen sind die politischen Folgen der deutschen Einheit. Nach den Verbrechen des Hitler-Regimes und der Niederlage im Zweiten Weltkrieg waren die deutschen Eliten gezwungen, sich militärisch zurückzuhalten. Doch mit der deutschen Einheit hat sich das geändert. Sie sind wieder mit demselben Dilemma konfrontiert wie Anfang des 20. Jahrhunderts. Zu groß für Europa und zu klein für die Welt, versuchen sie, Europa zu beherrschen, um die Rolle einer Weltmacht zu spielen.

Der deutsche Imperialismus tritt wieder mit seiner alten Arroganz und Aggressivität auf. Er beansprucht, Hegemon und Zuchtmeister Europas zu sein, diktiert Griechenland und anderen Ländern Sparprogramme, die an die Brutalität der Nazi-Besatzung erinnern, und rüstet militärisch auf.

Vor zwei Jahren hatte Bundespräsident Joachim Gauck am Tag der deutschen Einheit gefordert, Deutschland müsse außenpolitisch und militärisch wieder eine Rolle spielen, die „der Bedeutung unseres Landes entspricht“. Seine Forderung wurde von der Regierung und den Medien aufgegriffen. Berlin spielte seither eine führende Rolle beim rechten, pro-westlichen Putsch in der Ukraine und beim militärischen Aufmarsch der Nato entlang der russischen Grenze.

Nun bereiten sich Deutschland auch auf eine Intervention in Syrien vor, wo sich die beiden Atommächte USA und Russland direkt militärisch gegenüberstehen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung mahnt bereits „fundamentale eigene Interessen Deutschlands im Syrien-Konflikt“ an. Deutschland dürfe nicht mit Putin rechnen oder sich auf die verbündeten Amerikaner und Franzosen verlassen. „Also muss sich Deutschland selbst stärker engagieren“, forderte sie in dieser Woche. Ein nuklearer Weltkrieg, der während des Kalten Kriegs stets drohte, aber nie eintrat, wird damit wieder zur realen Gefahr.

Mit der Wiederkehr des Militarismus zerbröckelt auch die demokratische Fassade der Bundesrepublik. Selbst konservativen Juristen bleibt dies nicht verborgen.„Ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung steckt der durch das Grundgesetz verfasste Nationalstaat in einer Sinnkrise, der Rechtsstaat zeigt Erosionstendenzen, die Demokratie schwächelt, das Gewaltenteilungsgefüge hat sich weiter zugunsten der Exekutive verschoben,“ schreibt der Richter am Bundesverfassungsgericht, Peter M. Huber, in einem Gastbeitrag für die F.A.Z..

Um der Hilfsbereitschaft und Solidarität entgegenzuwirken, mit dem breite Bevölkerungsschichten den Kriegsflüchtlingen aus dem Nahen Osten begegnen, ziehen die herrschenden Eliten die Grenzen und Mauern in Europa wieder hoch und stärken ausländerfeindliche, rechte Tendenzen. Die Regierungspartei CSU hat sich sogar mit dem ultrarechten ungarischen Premier Viktor Orban zusammengetan.

In Frankfurt und Berlin feiern die herrschenden Eliten jetzt drei Tage lang mit salbungsvollen Phrasen und viel Unterhaltung die deutsche Einheit. Für die arbeitende Bevölkerung muss das Jubiläum Anlass sein, eine eigene Bilanz zu ziehen.

Viele betrachten die Folgen der Einheit inzwischen mit Verbitterung. Nach Erkenntnissen des Forschungsverbunds SED-Staat herrscht in Ostdeutschland heute „eine antikapitalistische Grundhaltung“. Acht von zehn Ostdeutschen setzen die Marktwirtschaft mit Ausbeutung gleich und jeder Zweite verbindet die Planwirtschaft mit Sicherheit. In Westen des Landes dürfte es nicht grundlegend anders sein.

Was aber fehlt, ist ein Verständnis der Ursachen für das Ende der DDR und eine politische Perspektive. Vor allem die Rolle des Stalinismus ist nicht verstanden. Er gelangte in den 1920er Jahren in der Sowjetunion als Repräsentant einer konservativen Bürokratie an die Macht, verdrängte die Führer der Oktoberrevolution und ermordete sie schließlich. Das gipfelte vor 75 Jahren in der Ermordung Leo Trotzkis.

Nach dem Zweiten Weltkrieg weitete die stalinistische Bürokratie ihr Herrschaftsgebiet zusammen mit den von der Oktoberrevolution geschaffenen Eigentumsverhältnissen auf den Osten Europas und Deutschlands aus, während sie gleichzeitig die revolutionären Bestrebungen der Arbeiterklasse in Frankreich, Italien und zahlreichen anderen Ländern unterdrückte. Auch in der DDR, in Ungarn und Polen schlug sie Arbeiteraufstände gewaltsam nieder. Der Stalinismus trug so maßgeblich zur Stabilisierung des Kapitalismus nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs bei.

Das nationalistische Programm des Stalinismus, das die Interessen der konterrevolutionären Bürokratie zum Ausdruck brachte, war dem internationalistischen Programm des Sozialismus diametral entgegengesetzt. Mit der Globalisierung wurde das stalinistische Programm, den „Sozialismus“ im nationalen Rahmen aufzubauen, zunehmend unhaltbar. Die Bürokratie, angeführt von der KPdSU unter Gorbatschow, reagierte, wie dies Trotzki bereits 1936 vorausgesagt hatte, mit der kapitalistischen Restauration.

Der Bund Sozialistischer Arbeiter, die Vorgängerorganisation der Partei für Soziale Gleichheit, hatte deshalb bereits im Oktober 1990, in einer Erklärung zur deutschen Wiedervereinigung gewarnt: „Der Zusammensturz der Nationalstaaten in Osteuropa war nur das erste Ergebnis einer tiefen, weltweiten Krise des Imperialismus überhaupt. Das internationale Gleichgewicht, in dessen Rahmen die Imperialisten mit Hilfe der stalinistischen und sozialdemokratischen Bürokratien ihre Herrschaft geregelt und ihre globalen Interessen verteidigt haben, ist zusammengebrochen. Die alten Konflikte zwischen den imperialistischen Mächten um die Neuaufteilung der Welt, die bereits zweimal in diesem Jahrhundert die Menschheit in das Gemetzel von Weltkriegen gestürzt haben, brechen wieder auf.“

Diese Warnung hat sich nun bestätigt. Die Antwort auf Krieg, Diktatur und Sozialabbau erfordert dringend den Aufbau neuer Parteien in der Arbeiterklasse, die für ein internationales sozialistisches Programm eintreten.

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