In der letzten Woche ist der Spielfilm „Im Labyrinth des Schweigens“ des deutsch-italienischen Regisseurs Giulio Ricciarelli in deutschen Kinos angelaufen. Er setzt sich mit der Vorgeschichte des ersten Auschwitzprozesses vor einem deutschen Gericht auseinander, der Anfang der 1960er Jahre in Frankfurt am Main stattfand.
Im Vernichtungslager Auschwitz waren mindestens 1,1 Millionen Juden, sowie Roma, Sinti, Homosexuelle und Polen umgebracht worden, ohne dass in Deutschland nach Kriegsende ein einziger KZ-Kommandant oder Mitverantwortlicher vor Gericht gestellt wurde. Lediglich in Polen wurden KZ-Verbrecher verurteilt und hingerichtet.
Am 20. Dezember 1963 begann dann nach mehrjährigen Ermittlungen im Frankfurter Rathaus, dem Römer, das „Verfahren gegen Mulka und andere“. Fast 19 Jahre nach der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee wurden 22 Aufseher, Blockführer und Ärzte angeklagt und 360 Zeugen vernommen. Es war der größte Strafprozess der deutschen Nachkriegszeit.
Nach den Nürnberger Prozessen, in denen ein Gericht der Alliierten einige Mitglieder der Führungselite der Nationalsozialisten verurteilt hatte, mussten sich im Auschwitzprozess zum ersten Mal persönlich an der Vernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus Beteiligte vor einem bundesdeutschen Gericht verantworten.
Dass es zu diesem Prozess überhaupt kam, ist vor allem das Verdienst des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer, einem der wenigen Juristen der Bundesrepublik, der keine Nazivergangenheit hatte. Bauer war nach Hitlers Machtübernahme seines Richteramtes enthoben und in das KZ Heuberg gesperrt worden. Nach seiner Entlassung floh er nach Skandinavien. Er war Sozialdemokrat und kannte Kurt Schumacher. 1968 starb er unter nie ganz geklärten Umständen, als er einen Prozess gegen die juristischen Schreibtischtäter der Euthanasie vorbereitete.
Der erste Frankfurter Auschwitzprozess endete am 19. August 1965. Von den bis zu 8.000 SS-Leuten, Befehlshabern, Tätern und Mittätern, die in Auschwitz Dienst getan hatten, standen nur 22 vor Gericht. Die Urteile fielen angesichts der ungeheuerlichen Verbrechen insgesamt relativ milde aus.
Es war kein leichtes Unterfangen, diese komplexen Vorgänge in eine Filmhandlung zu übersetzen. Weder dem Regisseur noch dem Hauptdarsteller waren die Vorgänge um den Auschwitzprozess und dessen Bedeutung vorher bekannt.
Ricciarelli, der zusammen mit Elisabeth Bartel das Drehbuch schrieb, sagte, er habe keinen persönlichen Bezug zum Thema gehabt, sei aber sofort fasziniert gewesen, als Bartel ihm davon berichtete: „Ich fand die Geschichte unglaublich. Vor allem konnte ich nicht glauben, dass viele Deutsche Ende der 1950er Jahre noch nie etwas von Auschwitz gehört hatten.“
Auch der Hauptdarsteller Alexander Fehling bekannte, er habe im Zusammenhang mit Auschwitz nur an die Nürnberger Prozesse gedacht. Von denen in Frankfurt habe er nichts gewusst.
Ricciarelli hat zusammen mit Elisabeth Bartel akribisch versucht, einen Eindruck von der Atmosphäre zu vermitteln, die Ende der 1950er Jahre in der Bundesrepublik herrschte. Die Nazizeit und ihre Verbrechen wurden verdrängt, der Holocaust weitgehend geleugnet. Eine ernsthafte Auseinandersetzung damit fand nur in relativ kleinen Kreisen statt. Wer sich engagierte, bekam zu hören, es müsse endlich ein Schlussstrich gezogen werden. In der Welt des Wirtschaftswunders dominierten Karriere, Mode, Konsum und Schlagermusik.
In der Justiz spielten Naziprozesse keine Rolle. Die meisten Juristen des Dritten Reichs hatten ihre Laufbahn in der Bundesrepublik unbehelligt fortgesetzt. Alle Verbrechen mit Ausnahme von Mord waren bereits verjährt. Verfolgt wurden keine Nazis, sondern eher Kommunisten, die manchmal den gleichen Richtern gegenüberstanden wie in der Hitlerzeit. Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU), in dessen Regierung ranghohe Nazis saßen, hatte die Devise ausgegeben: „Wir sollten jetzt mit der Naziriecherei einmal Schluss machen, denn, verlassen Sie sich darauf, wenn wir damit anfangen, weiß man nicht, wo es aufhört.“
Wie sehr die Naziverbrechen von den tonangebenden Eliten verdrängt wurden, lässt sich auch an der Filmgeschichte ablesen. Es gab zwar einige Spiel- und Dokumentarfilme, die die Naziverbrechen thematisieren, wie der Defa-Film „Die Mörder sind unter uns“ (1946) von Wolfgang Staudte, aber in den 1950er Jahren wurden vorwiegend Schnulzen und Heimatfilme gedreht und in den Kinos gezeigt.
Am deutlichsten zeigt die Geschichte des Dokumentarfilms „Nacht und Nebel“ („Nuit et brouillard“) von Alain Resnais, der von Paul Celan ins Deutsche übersetzt wurde, welche Angst die Regierenden hatten, an die Nazizeit erinnert zu werden.
1956 verlangte der deutsche Botschafter in Paris, Vollrath von Maltzahn, im Namen der Bundesregierung, dass der Film aus dem Wettbewerb der Festspiele in Cannes zurückgezogen wird, weil er die Atmosphäre zwischen Franzosen und Deutschen vergiften und dem Ansehen der Bundesrepublik schaden könnte. Gewöhnliche Zuschauer seien nicht fähig, zwischen den verbrecherischen Führern des NS-Regimes und dem heutigen Deutschland zu unterscheiden.
Im Mai 1957 beschloss die Landesbildstelle Baden-Württemberg, den vom Kultusministerium zur Vorführung an höheren Schulen empfohlenen Film abzulehnen, weil er „aus pädagogischen Gründen den Jugendlichen, die den Krieg selbst nur in vager Erinnerung haben, nicht zugemutet werden“ könne.
Kurz nach dieser Zeit setzt die Handlung von im „Labyrinth des Schweigens“ ein. Der junge, ehrgeizige Staatsanwalt Johann Radmann (Alexander Fehling) ist frustriert, weil er nur mit Verkehrsdelikten beschäftigt ist. Im Verkehrsgericht trifft er auf die künftige Modeschöpferin Marlene Wondrak (Friederike Becht), in die er sich später verliebt. Er besteht darauf, dass sie eine Geldstrafe bezahlen muss, leiht ihr aber den fehlenden Betrag aus eigener Tasche. Eine Episode, die auf seine Unbestechlichkeit aber auch auf Empathie hindeutet.
Da verursacht der Journalist Thomas Gnielka (André Szymanski) im Gerichtsgebäude einen Aufruhr. Er will Anzeige erstatten, weil sein Freund Simon Kirsch(Johannes Krisch) auf einem Schulhof einen ehemaligen KZ-Schergen wieder erkannt hat, der dort als Gymnasiallehrer tätig ist. Der Maler Kirsch ist ein ehemaliger KZ-Häftling, seine Zwillingstöchter sind den Menschenversuchen des Doktor Josef Mengele zum Opfer gefallen. Gnielka und Kirsch treffen auf taube Ohren. Kirsch ist resigniert und will aufgeben. „Dieses Land will Zuckerguss“, meint er.
Die versammelten Staatsanwälte lassen die beiden abblitzen, aber Radmann wird hellhörig und wittert eine Aufgabe. Er nimmt Kontakt mit Gnielka auf und besorgt sich von Kirsch – gegen dessen Willen – Unterlagen, aus denen hervorgeht, dass namentlich genannte KZ-Wächter etliche Häftlinge „auf der Flucht erschossen“ haben. Der Journalist Gnielka, eine reale Figur, war als Teenager mit seiner gesamten Schulklasse nach Auschwitz abgeordnet worden, um Häftlinge zu bewachen. Er hatte dort selbst erlebt, wie Häftlinge zur „Flucht“ an den Zaun getrieben und dann erschossen wurden. Er und Kirsch unterstützen Staatsanwalt Radmann.
Dieser wird von Fritz Bauer beauftragt, Ermittlungen gegen die Täter aufzunehmen. Bauer wird sehr überzeugend von dem im Juni 2014 gestorbenen Schauspieler Gert Voss gespielt, dem der Film gewidmet ist. Der Sozialdemokrat Bauer hatte schon lange auf eine solche Gelegenheit gehofft. Radmann stürzt sich in die Arbeit und verzweifelt bald an der Monumentalität der Aufgabe. Die Hindernisse, die ihm in den Weg gelegt werden, scheinen unüberwindlich zu sein. Er droht, sich in einem „Labyrinth des Schweigens“ zu verirren.
Im amerikanischen Document Center muss er 600.000 Akten durchforsten, um die von 8.000 Auschwitz-Tätern zu finden, von denen schließlich nur noch wenige zur Verantwortung gezogen werden können. Der verantwortliche Offizier dort rät ihm ab. Sein Anliegen sei nicht mehr zeitgemäß, der neue Feind seien jetzt die Sowjets.
Dann gilt es, die Adressen von überlebenden Zeugen und Tätern herauszufinden, aber die Einwohnermeldeämter und das Bundeskriminalamt verweigern die Auskunft. Schließlich müssen sämtliche Telefonbücher der Bundesrepublik gewälzt werden, um die Adressen ausfindig zu machen.
Auf die schmerzhafte Vernehmung der überlebenden Zeugen, die einer nach dem andern von Hermann Langbein (Lukas Miko) in Radmanns Büro geführt werden, wird im Film nur hingewiesen. Sie beginnen mühsam mit ihrer Aussage, dann sieht man nur noch, wie sie ihre Lippen bewegen. Aber die Musik von Niki Reiser deutet an, worüber sie sprechen. Im Gesicht der Sekretärin Schmittchen (Hansi Jochmann) spiegeln sich Entsetzen und Mitgefühl.
Wie wenig der junge Staatsanwalt von dem Ausmaß der Verbrechen ahnt, denen er auf der Spur ist, wird an seiner geradezu naiven Ausgangsfrage bei der ersten Zeugenvernehmung klar: „Haben Sie Straftaten beobachtet während Ihres Aufenthalts im Lager?“
Radmann und sein später hinzugezogener Kollege Otto Haller(Johann von Bülow), der ursprünglich zu den Skeptikern gehörte und Radmann lächerlich machte, sowie die Sekretärin Schmittchen stehen für das Team, das Fritz Bauer damals zusammenstellte und mit den Ermittlungen beauftragte.
Radmann versucht zunächst vergeblich, Dr. Mengele zu fassen, der zwar mehrmals bei seiner Familie in Günzburg auftaucht, aber immer wieder unbehelligt nach Südamerika ausreisen kann. Als er gegenüber Bauer bemerkt, Mengele müsse man fassen, denn dieser sei Auschwitz, entgegnet ihm Bauer: „Nein, alle, die mitgemacht haben, die nicht Nein gesagt haben, sind Auschwitz.“
Zu Radmanns Frustration trägt bei, dass nicht nur der Vater seiner Freundin Marlene ein Nazi war, sondern auch sein eigener, von ihm idealisierter und verehrter Vater der Partei angehörte. Sein Vorgesetzter, der Oberstaatsanwalt Walter Friedberg (Robert Hunger-Bühler), selber kein Ex-Nazi, fragt ihn schließlich: „Wollen Sie, dass jeder junge Mensch in diesem Land fragt, ob sein Vater ein Mörder war?“
Radmann will aufgeben und kündigt, aber die angebotene Stelle in der Wirtschaft verlangt von ihm juristische Kniffe und Rechtsverdrehung zugunsten des Unternehmens, zu denen er nicht bereit ist. Schließlich erkennt er, dass es nicht seine Aufgabe ist, die ungeheuren Verbrechen des Holocaust juristisch zu ahnden, sondern vor allem die Wahrheit aufzudecken, das Bewusstsein darüber zu verbreiten und den Deutschen die Augen darüber zu öffnen.
Ricciarellis Film hält sich weitgehend an die historischen Fakten, baut sie jedoch geschickt in eine fiktive Handlung ein. Dadurch wird jüngeren Zuschauern, für die nicht nur Auschwitz, sondern auch die 50er und 60er Jahre der Bundesrepublik Geschichte sind, ein lebendiger Zugang in diese Zeit ermöglicht. Das Filmteam hat die Prozessakten studiert und sich sowohl von dem letzten noch lebenden Staatsanwalt des Teams von Fritz Bauer wie von Historikern beraten lassen.
Daher ist der Film in allen wesentlichen Fragen authentisch und historisch korrekt. Auf einige Übertreibungen, wie die wilden Alpträume, in denen Radmann Mengele in finsteren Kellerräumen jagt, hätte verzichtet werden können.
Der Film geht der Frage nicht nach, wie es zum Nationalsozialismus und einer derartigen Brutalisierung von Menschen kommen konnte. Die Existenz des Nazi-Regimes, von Auschwitz, Rassismus und Vernichtungskrieg wird nicht hinterfragt, sondern als gegeben genommen. Der Film beschränkt sich auf die Fragen der individuellen Schuld und der Möglichkeit, als Individuum als Antwort auf Auschwitz das Richtige zu tun, wie es einer der Protagonisten im Film ausdrückt.
Aber die Dramatik der Ermittlungen für den Prozess, die der Film eindrucksvoll zeigt, lässt ahnen, wie es zur Aufbruchsstimmung der Jugend in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre kam. Die Enthüllungen des Frankfurter Auschwitzprozesses trugen zur Mobilisierung der Jugend gegen das Vergessen und Vertuschen der Nazivergangenheit bei und sensibilisierten sie gegen reaktionäre politische Entwicklungen, wie die Notstandsgesetze und das Auftreten von Alt- und Neonazis.
Es ist verdienstvoll, dass sich ein Film gerade heute, angesichts wachsender Kriegsgefahr, mit der Frage der Nazi-Verbrechen und ihrer Aufarbeitung auseinandersetzt.
Siehe auch: „Fünfzig Jahre nach dem Frankfurter Auschwitzprozess“