Weitgehend unbeachtet von den großen Medien gab es im Skandal um die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) in den vergangenen Wochen wichtige neue Entwicklungen.
Bereits Mitte September kam es in Stuttgart zu einem mysteriösen Todesfall. Der 21-jährige Florian H. verbrannte in der Nähe des Cannstatter Wasen in seinem Auto. Für den Abend desselben Tages hatte ihn das baden-württembergische Landeskriminalamt (LKA) zu einer Befragung geladen. Der junge Mann aus Eppingen im Landkreis Heilbronn sollte über die rechtsextreme Szene Auskunft geben, wie die Berliner Zeitung berichtet.
Nach Polizeiangaben hat der junge Mann Selbstmord begangen. Das Motiv sei Liebeskummer. Allerdings wurde kein Abschiedsbrief gefunden. Die Beteiligung weiterer Personen hat die Polizei kurzerhand ausgeschlossen. Deswegen werde auch nicht weiter ermittelt, teilte Polizeisprecher Thomas Ulmer mit.
Zeugen haben allerdings berichtet, sie hätten, kurz nachdem Florian H. in sein Auto gestiegen sei, auch eine Explosion gesehen. Erst daraufhin sei der Wagen in Flammen aufgegangen und schließlich ausgebrannt.
Wie das Schwäbische Tagblatt schreibt, soll auch die Mutter des Toten an einem Suizid zweifeln. In einem Internet-Forum habe sie ihn als „lebenslustigen und kritischen Menschen“ beschrieben, der „Träume, Wünsche und Ziele“ hatte. „Wer ihn gekannt hat, geht nicht von einem Suizid aus.“
In welchem Zusammenhang stand Florian H. zur rechtsextremen Szene?
Die Polizei stufte ihn als Mitläufer der rechten Szene ein. Im Januar 2012 befragte sie H. zum ersten Mal zum Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter, nachdem sie einen anonymen Hinweis auf ihn erhalten hatte. Die Tat, die im April 2007 in Heilbronn begangen wurde, wird dem NSU zugerechnet. Bei der Befragung habe H. angegeben, nichts über den Mord an Kiesewetter zu wissen.
Stattdessen habe Florian H. berichtet, es gebe neben dem NSU eine weitere gefährliche rechtsextreme Gruppe, die sich „Neoschutzstaffel“ (NSS) nenne. Aktivisten von NSS und NSU hätten sich sogar einmal in Öhringen unweit von Heilbronn getroffen. Wann habe er nicht gewusst.
Das LKA habe die Angaben seinerzeit nicht verifizieren können, hielt sie aber offenbar für so plausibel, dass es H. ein zweites Mal befragen wollte. Öffentlich bekannt wurde die Auskunft von H. erst im August dieses Jahres, als sie in Form einer kurzen Notiz im Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags auftauchte.
Es ist bekannt, dass die Mitglieder des NSU auch enge Verbindungen nach Baden-Württemberg hatten. Es hatte unter anderem persönliche Besuche bei Neonazi-Kameraden in Ludwigsburg und Heilbronn gegeben.
Ungeklärt ist jedoch bis heute, in welchem Zusammenhang der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter mit der NSU-Mordserie an neun Migranten steht. Er passt nicht ins Bild rassistisch motivierter Morde. Auffällig ist auch, dass die Mordserie im April 2007 mit der Tat in Heilbronn ein abruptes Ende nahm.
Beachtlich ist jedoch das Umfeld der getöteten Polizistin. In ihrer Einheit arbeiteten auch zwei Polizeibeamte, die Anfang des Jahrtausends Mitglied im deutschen Ableger des rassistischen Ku-Klux-Klan (KKK) waren. Einer der beiden war sogar Gruppenführer der Einheit von Kiesewetter.
Der deutsche Ku-Klux-Klan selbst war, wie man inzwischen weiß, eine Gründung des baden-württembergischen Verfassungsschutzes. Nach Aussage des NSU-Ausschussvorsitzenden im Bundestag, Sebastian Edathy (SPD), bestand die Hälfte der Organisation aus V-Leuten der Geheimdienste. Mitglied im KKK war unter anderem auch Thomas Richter alias „Corelli“, der mehr als zehn Jahre lang als V-Mann für den Bundesverfassungsschutz arbeitete.
Der Patenonkel von Michèle Kiesewetter, der selbst Polizist ist, hatte bereits kurz nach dem Mord vermutet, dass dieser in Verbindung mit den „Döner-Morden“ stehen könne. Seinerzeit gab es noch keinerlei offizielle Verbindung zwischen den Morden und der rechtsextremen Szene. Wusste Michèle Kiesewetter zu viel? Hatte sie möglicherweise etwas aufdecken wollen und sich ausgerechnet an die „falschen“ Kollegen gewandt?
Bis heute ist fraglich, ob Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe tatsächlich unmittelbar hinter dem Mord an Kiesewetter stecken. Als Beleg für ihre Verbindung wird stets angeführt, die Dienstwaffe der Polizistin sei im November 2011 im ausgebrannten Wohnmobil von Böhnhardt und Mundlos gefunden worden.
Es gibt jedoch Hinweise, dass der Mord von ganz anderen Personen begangen worden sein könnte. Neben Kiesewetter wurde auch der Polizist Martin Arnold Opfer des Anschlags, überlebte jedoch mit einer Schussverletzung. Die nach seiner Erinnerung angefertigten Phantombilder werden bis heute von den Behörden unter Verschluss gehalten. Sie sind erst seit einigen Wochen einsehbar und zeigen Personen, die mit den drei NSU-Terroristen keinerlei Ähnlichkeit haben.
Man muss die ernste Frage aufwerfen, was hier von Seiten staatlicher Stellen verheimlicht werden soll – und welche Methoden dafür benutzt werden.
Nach Medienberichten soll der V-Mann Michael See, das Terror-Konzept entwickelt haben, an dem sich der NSU orientierte. Laut einem Bericht der Berliner Zeitung habe See das theoretische Konzept für den Aufbau von „autonomen Zellenstrukturen“ ausgearbeitet. In seiner Postille „Sonnenbanner“ soll er zum Gang in den Untergrund aufgerufen haben, berichtet Zeit Online.
Schon in den frühen 1990er Jahren habe See im thüringischen Leinefelde die örtliche Kameradschaft geführt, deren Wehrsportgruppe geleitet und gute Kontakte zum Thüringer Heimatschutz (THS) unterhalten, aus dem später der NSU hervorging. In einem Schreiben des BfV an das Bundeskriminalamt (BKA) vom Februar dieses Jahres heißt es, dass ein „Kennverhältnis“ zwischen See und Uwe Mundlos „nicht gänzlich ausgeschlossen werden“ könne.
Als V-Mann für das Bundesamt für Verfassungsschutz kassierte See, der wegen versuchten Totschlags vorbestraft war, zwischen 1995 und 2001 mindestens 66.000 D-Mark.
Über die Brisanz dieser Umstände war sich sein Dienstherr, das BfV, voll bewusst. Nur eine Woche nach Auffliegen des NSU im November 2011 vernichtete man im zuständigen Referat die Akte des V-Mannes „Tarif“, wie See beim Geheimdienst genannt wurde. Auch die Akten von sechs weiteren V-Leuten wurden in jenen Tagen zerstört. Nach außen ließ das BfV verlauten, es habe sich nur um Mitläufer oder Randpersonen der Szene gehandelt.
Von Woche zu Woche wird deutlicher, dass staatliche Stellen mit Straftätern kooperiert, sie gedeckt und dabei eine rassistische Mordserie zumindest ermöglicht haben, die neun Immigranten und einer Polizistin das Leben kostete.
Dazu gehört auch, dass eine effektive Aufklärung rechtsextremer Straftaten unterbunden wurde. So erklärte der LKA-Beamte Sven Wunderlich, der nach dem Untertauchen von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe im Februar 1998 als Zielfander damit beauftragt war, sie ausfindig zu machen, kürzlich vor dem Erfurter NSU-Untersuchungsausschuss, seine Arbeit sei durch den Verfassungsschutz behindert worden.
Das Thüringer LfV, mit dem die Fahnder des LKA zusammenarbeiteten, habe Informationen und eigene Maßnahmen verheimlicht. „Unsere Arbeit wurde sabotiert“, sagte Wunderlich. Er habe dafür nur zwei mögliche Erklärungen: „Entweder sollten wir die Drei damals nicht finden, vielleicht weil einer von ihnen bereits Verbindungen zum LfV unterhielt. Oder der Verfassungsschutz wollte das Trio vor uns finden, um mit denen bestimmte Dinge ohne Polizei und Justiz zu klären.“