Die erzwungene Landung des bolivianischen Präsidenten in Wien hat die Proteste europäischer Regierungen gegen die massiven Überwachungsmaßnahmen des US-Geheimdiensts NSA als Heuchelei entlarvt.
Evo Morales musste am Dienstag in Wien notlanden, weil mehrere europäische Länder – darunter Frankreich, Italien, Spanien und Portugal – ihren Luftraum für sein Flugzeug gesperrt hatten, das sich auf dem Weg von Moskau nach La Paz befand. Grund war der (falsche) Verdacht, der amerikanische Whistleblower Edward Snowden befinde sich an Bord der Präsidentenmaschine.
Vor allem für den französischen Präsidenten François Hollande war der Vorfall eine Blamage. Noch am Montag hatte er die Abhörmaßnahmen der USA kritisiert. „Wir können ein solches Verhalten unter Partnern und Verbündeten nicht akzeptieren. Wir verlangen, dass das sofort aufhört“, sagte er.
Am Dienstag betätigte er sich dann als Hilfssheriff für den US-Geheimdienst und gefährdete das Leben des bolivianischen Präsidenten, um den Mann an die USA auszuliefern, der die Abhörtätigkeit der NSA enthüllt hat.
Frankreich entschuldigte sich anschließend bei der bolivianischen Regierung. Dabei gab Hollande indirekt zu, dass er selbst die Entscheidung über die Schließung und Freigabe des Luftraums getroffen hat. Er sprach von „widersprüchlichen Infos über die Passagiere, die sich an Bord befanden“ – offenbar hatte er die Information erhalten, Snowden befinde sich an Bord. „Sobald ich wusste, dass es sich um das Flugzeug des bolivianischen Präsidenten handelt, habe ich sofort die Überflugsgenehmigung erteilt“, sagte er dann.
Ähnlich wie die französische verhalten sich auch alle anderen europäischen Regierungen. Obwohl sie sich öffentlich über die Abhörmaßnahmen der USA entrüsten, ist nicht eine von ihnen bereit, dem von der US-Regierung verfolgten Snowden Asyl zu gewähren.
Auch die skandalöse Behandlung des bolivianischen Präsidenten löste in den europäischen Hauptstädten keinen Protest aus. Jedes Land könne souverän über seinen Luftraum bestimmen, hieß es in vielen Kommentaren.
Als die CIA den europäischen Luftraum missbrauchte, um Terrorverdächtige zu entführen und zu foltern („extraordinary renditions“), galten ganz andere Maßstäbe. Nicht eine Regierung machte damals von ihrem souveränen Recht gebrauch, den Luftraum zu sperren, obwohl die Flüge eindeutig illegal waren. In Italien wurden 22 CIA-Agenten und der frühere Chef des italienischen Geheimdiensts Nicolo Pollari später wegen der Entführung eines ägyptischen Geistlichen zu langen Haftstrafen verurteilt. Einige EU-Länder – wie Polen und Rumänien – stellten der CIA sogar Folterzentren zur Verfügung.
Hinter dieser Haltung steckt mehr als Unterwürfigkeit und Feigheit gegenüber dem amerikanischen Imperialismus. Was die europäischen Regierungen mit Washington verbindet, ist ihr grundlegendes Klasseninteresse.
Sie sind zwar beunruhigt darüber, dass die amerikanische Regierung ihre Staatskanzleien, ihre diplomatischen Vertretungen und ihre Konzerne ausspioniert und die gesammelten Erkenntnisse bei Bedarf einsetzt, um sie zu erpressen. Doch sie arbeiten eng mit den amerikanischen Diensten zusammen und unterhalten ähnliche Überwachungsapparate, um die eigene Bevölkerung zu überwachen und jede soziale und politische Opposition zu unterdrücken. Je länger sich die Debatte über Snowdens Enthüllungen dahin zieht, desto mehr kommt davon ans Licht.
So enthüllte die französische Tageszeitung Le Monde am Donnerstag, dass der französische Auslandsgeheimdienst DGSE (Direction générale de la sécurité extérieure) „systematisch die elektromagnetischen Signale von Computern und Telefonen in Frankreich sowie den Austausch zwischen Franzosen und dem Ausland sammelt“.
„Die Gesamtheit unserer Kommunikation wird ausspioniert“, schreibt die Zeitung. „Die Politiker wissen es, Geheimhaltung ist aber die Regel: dieser französische Big Brother arbeitet im Geheimen. Er entzieht sich jeder Kontrolle.“
Der Geheimdienst suche nach den Metadaten, nicht den Inhalten der Meldungen. „Die DGSE sammelt so die Telefonauszüge von Millionen Abonnenten, die Mails, die SMS, die Faxe … und die gesamte Internetaktivität über Google, Facebook, Microsoft, Apple und Yahoo“, schreibt Le Monde. „Die Einrichtung ist wertvoll für den Kampf gegen den Terrorismus. Sie ermöglicht es aber auch, zu jeder beliebigen Zeit jede beliebige Person auszuspionieren.“
Die DGSE sammle so Milliarden von Milliarden Daten, die in den Untergeschossen ihres Sitzes in Paris auf drei Etagen gespeichert würden. Der Superrechner des Geheimdiensts könne Dutzende Millionen Gigabites bearbeiten.
Laut Le Monde haben die anderen französischen Geheimdienste diskreten Zugriff auf diese gigantische Datenbank. Unter dem Mantel „anonymer Auskünfte“ dürfe selbst die Kriminalpolizei bestimmte Informationen nutzen. Die Einrichtung sei völlig ungesetzlich, da es keine gesetzliche Grundlage für die massive Speicherung technischer Daten durch die Geheimdienste gebe.
Auch der deutsche Auslandsgeheimdienst BND sammelt umfangreiche Datenmengen, wie dessen ehemaliger Chef Hans-Georg Wieck in einem Interview mit dem Deutschlandfunk bestätigte. Ihn überrasche das Ausmaß der Internetüberwachung durch britische und amerikanische Geheimdienste überhaupt nicht, sagte Wieck. So ein Vorgehen sei „das natürliche, tägliche Brot von Geheimdiensten“ – auch des BND.