Die Wohnung (The Flat)
Dokumentarfilm Israel 2011
Regie und Drehbuch: Arnon Goldfinger
„Die Wohnung“, ein preisgekrönter israelischer Dokumentarfilm von 2011 (mittlerweile als DVD erhältlich), wirft wichtige historische Fragen auf. Der Regisseur selbst, Arnon Goldfinger, ist zwar weder bereit, noch in der Lage, sie erschöpfend zu beantworten. Dennoch fördert die Story über die langjährigen Erfahrungen seiner in Deutschland geborenen Großeltern viel Interessantes zutage und wirft wichtige politische Fragen auf.
Der Dokumentarfilm beginnt im Tel Aviver Appartement von Gerda Tuchler. Ihr Enkel räumt zusammen mit seiner Mutter Hannah und anderen Verwandten die Wohnung seiner Großmutter auf, die im Alter von 98 Jahren verstorben ist. Siebzig Jahre lang lebte sie in dieser Wohnung, seitdem sie 1937 mit ihrem Mann Kurt aus Nazi-Deutschland nach Palästina geflüchtet war.
Während Arnon und seine Mutter mühsam die Andenken und Überbleibsel aus vielen Jahrzehnten sichten, machen sie eine überraschende, fast unglaubliche Entdeckung: Sie stoßen auf sorgfältig erhaltene, deutsche Zeitungsausschnitte aus den 1930er Jahren mit einer Artikelserie unter der Überschrift „Ein Nazi fährt nach Palästina“.
Diese Artikel aus dem Angriff, einer bekannten Nazizeitung, enthalten Berichte eines hochrangigen Nazifunktionärs, Leopold von Mildenstein, über eine Rundreise durch Palästina zusammen mit seiner Frau. Ihre Begleiter waren – ausgerechnet Arnon Goldfingers Großeltern, Kurt und Gerda Tuchler. In der Zeitung sind die Mildensteins und die Tuchlers in Palästina abgebildet, nebst vielen Fotos, die das Leben der jüdischen Siedler in positivem Licht darstellen.
Diese Entdeckung ist der eigentliche Auslöser für Goldfingers Dokumentarfilm. Die Frage: „Was macht die Nazi-Propaganda in der Wohnung meiner Großeltern?“, treibt ihn um, sie liegt dem Film zugrunde. Das offensichtliche Rätsel wird noch verzwickter, als er zahlreiche Fotos und Briefe findet, die belegen, dass die Tuchlers und die Mildensteins ihre Freundschaft sogar nach dem Krieg erneuerten. Seine Mutter wusste, wie sie sagt, nichts von diesen Freunden ihrer Eltern, und sie ist an ihnen auch nicht sonderlich interessiert.
Die Generation von Goldfingers Eltern wollte zuweilen gar nicht so genau wissen, was aus ihren Familienmitgliedern im Holocaust geworden war. So entdeckt der Filmemacher erst im Verlauf seiner Untersuchung über die Geschichte der Großeltern nach und nach Einzelheiten über das Schicksal seiner beiden Urgroßmütter. Kurts Mutter starb im Konzentrationslager Theresienstadt, und Gerdas Mutter, Susan Lehmann, wurde in das Ghetto von Riga deportiert, das sie ebenfalls nicht überlebte.
Das Rätsel der Freunde seiner Großeltern wird immer verstörender, als Goldfinger sich dem berühmten Kriegsverbrecherprozess gegen Adolf Eichmann von 1961 zuwendet. Er endete mit Eichmanns Verurteilung und Exekution. Wie dieser im Prozess aussagte, war Mildenstein, ein Befürworter der Ansiedlung deutscher Juden in Palästina, von 1934 bis 1937 Eichmanns Vorgesetzter im Sicherheitshauptamt für die Judenfrage.
Die Beziehung der Tuchlers zu den Mildensteins lässt Goldfinger keine Ruhe. Er kommt immer wieder auf die erwähnte Frage zurück, und seine Miene drückt im Film Verwirrung und Bestürzung aus.
Der Dokumentarfilm zeigt, wie Goldfinger die Geschichte seiner Großeltern weiter erforscht. Die Suche führt ihn bis nach Deutschland, nach Wuppertal, wo er Mildensteins Tochter, Edda Milz von Mildenstein, besucht. Edda, eine heute siebzigjährige Frau, lebte nach dem Krieg über dreißig Jahre lang in England und spricht perfekt Englisch. Sie nimmt ihn freundlich auf und erzählt ihm, sie habe seine Großeltern von deren Besuchen bei ihren Eltern in den 1950er und 1960er Jahren her gut gekannt.
Die kultivierte und gescheite Frau, die bei Kriegsende erst fünf Jahre alt war, behauptet, ihr Vater habe, obwohl anfangs ein NSDAP-Mitglied, die Partei später verlassen und noch während des Kriegs eine Journalistenkarriere aufgenommen. Später, in Westdeutschland, wurde er dann offizieller Vertreter von Coca Cola.
Goldfinger entdeckt jedoch Hinweise, die Eddas Darstellung widersprechen. Er konsultiert einen Journalisten im Rentenalter, den Autor eines Spiegel-Artikels von 1966 über von Mildenstein, und dieser bestätigt ihm dessen SS-Mitgliedschaft Mitte der 1930er Jahre. Darauf entdeckt der Filmemacher in einem historischen Archiv in Berlin Beweise dafür, dass Mildenstein den Nazis schon beitrat, ehe sie 1933 an die Macht kamen, und dass er keineswegs aus der Partei austrat, sondern während des gesamten Kriegs in Goebbels Propagandaministerium arbeitete.
Je mehr der Film fortschreitet, desto stärker verschiebt Goldfinger den Fokus von der Erforschung der Motive seiner Großeltern weg auf die Entlarvung von Mildensteins Rolle. Er besucht Edda noch einmal und konfrontiert sie mit dem Beweis der langen Karriere ihres Vaters als Nazifunktionär. Erst widerspricht sie, doch dann behauptet sie, sie sei niemals richtig informiert worden, was in der Tat stimmen könnte.
Mildenstein war ein langjähriger Nazifunktionär, unabhängig davon, ob er sich persönlich aktiv an der „Endlösung“ beteiligte. Wie Tausende, die nach dem Krieg in Industrie und Staatsapparat eine zweite Karriere aufnahmen, wurde Mildenstein niemals zur Rechenschaft gezogen. Dabei gab es andere ehemalige Nationalsozialisten, die im Nachkriegsdeutschland noch viel höhere Ämter bekleideten als er.
Die ganze Geschichte hat jedoch noch eine andere, keineswegs weniger wichtige Seite: Warum wurden Tuchlers und Mildensteins überhaupt so gute Freunde? Dafür bietet Goldfinger eine sehr beschränkte und oberflächliche Erklärung. Ein deutscher Experte vermutet in einem Gespräch im Film, der intensive deutsche Patriotismus der Tuchlers habe sie vielleicht veranlasst, ihre Verbindung zu den Mildensteins so hoch einzuschätzen, und „möglicherweise wussten sie nicht“, dass Mildenstein ein hochrangiger Funktionär war.
Das kann stimmen. Was Mildenstein betrifft, so ließ er die Freundschaft in der Nachkriegszeit vielleicht wieder aufleben, um sich damit gegen Vorwürfe wegen seiner Nazivergangenheit zu wappnen. Vielleicht verbarg er die Tatsache vor den Tuchlers, dass er bis zu Hitlers Niederlage Nazi geblieben war. All dies beantwortet aber nicht die wichtige Frage nach der politischen Grundlage einer Beziehung, die mehrere Jahrzehnte lang Bestand hatte. Warum verstanden sie sich so gut? Warum, wenn es denn so war, waren die Tuchlers gerne bereit, Mildensteins Erklärung seiner Kriegskarriere für bare Münze zu nehmen?
Die Tatsache bleibt bestehen, dass die zwei Paare 1933-34 mehrere Monate gemeinsam auf Reisen gingen. Damals hatte die Machtergreifung schon stattgefunden, und die Nazis waren dabei, die Gewerkschaften und Arbeiterparteien physisch zu vernichten. Sie nahmen tausende Kommunisten und politische Gegner gefangen und verschleppten sie in Konzentrationslager, und sie errichteten ein brutales Terrorregime. Dies alles hielt die Tuchlers nicht davon ab, gemeinsam mit ihren Nazi-Freunden quer durch Palästina zu fahren, eine Reise, über welche die faschistische Presse ausführlich berichtete.
Am Anfang kommt im Film ein kurzes, aber wichtiges Interview vor, auf das Goldfinger nicht näher eingeht. Wie ein älterer israelischer Historiker und Experte für deutsch-jüdische Palästina-Emigration erklärt, ist die Geschichte der Tuchlers keineswegs unglaubwürdig. Er spricht das „Interessenbündnis“ zwischen dem NS-Regime und den Zionisten an, das in den 1930ern entstand. Kurt Tuchler hatte in Berlin als Richter gearbeitet und war aktives Mitglied der deutschen Zionisten-Vereinigung, die ihn beauftragte, als Mildensteins Begleiter mit nach Palästina zu fahren.
Natürlich kann ein Familienrückblick solche historischen Fragen nicht erschöpfend beantworten, die eine weit gründlichere Untersuchung erfordern. Aber um die Geschichte der Tuchlers zu verstehen, ist es notwendig, die Rolle des Zionismus zu verstehen. In der damaligen Zwischenkriegszeit teilte nur eine kleine Minderheit der jüdischen Bevölkerung Deutschlands und anderer Länder die zionistische Ideologie. Der Mix aus Nationalismus und nationaler Ausschließlichkeit wurde hauptsächlich von kleinbürgerlichen Schichten vertreten, die keinerlei Assimilierung wollten. Vor allem lehnten sie jede sozialistische Massenbewegung ab, die alle Schichten der Arbeiterklasse eingeschlossen hätte.
Für deutsche Juden der oberen Mittelklasse, wie zum Beispiel für Kurt Tuchler, der seine Eisernen Kreuze aus dem ersten Weltkrieg mit Stolz trug, war ein gewisses „Verständnis“ für Programm und Anspruch der Nationalsozialisten keineswegs ungewöhnlich. Hinzu kam, dass die Tuchlers vermutlich die kultivierten Mildensteins durchaus von dem üblichen „Nazi-Pack“ unterschieden. Vielleicht hofften sie, Leute wie Baron Mildenstein könnten Einfluss auf die Nazi-Politik nehmen und einen „gemäßigteren“ deutschen Nationalismus bewirken.
Das tragische Schicksal der europäischen Juden im Holocaust hat dem Zionismus ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Als die Vernichtung von sechs Millionen Juden alle Zukunftshoffnungen zerstört hatte, wandten sich viele Menschen der Doktrin eines ausschließlich jüdischen Staates zu. Zudem genossen die Zionisten die Unterstützung wichtiger Schichten des Weltkapitalismus, vor allem in den Vereinigten Staaten, die als Hauptsiegermacht aus dem zweiten Weltkrieg hervorgegangen waren.
Man schrieb die Geschichte um und passte sie der zionistischen Mythologie an. Der Zionismus, bis dahin die Ideologie einer Minderheit, wurde mehr und mehr mit dem ganzen jüdischen Volk gleichgesetzt. Antizionisten wurden als Antisemiten verleumdet, oder als Juden, die sich angeblich selbst verleugneten. Vergessen war die führende Rolle der jüdischen Sozialisten und Kommunisten im Aufstand des Warschauer Ghettos und in anderen heldenhaften Widerstandsaktionen gegen die Nazis. Nicht nur wurde die zionistische Kollaboration mit den Nationalsozialisten unter den Teppich gekehrt, wie sie zum Beispiel in relativ harmloser Form bei den Tuchers vorkam, sondern das deutsche Volk als Ganzes wurde kollektiv für Hitler verantwortlich gemacht, wie in dem berüchtigten Buch „Hitlers willige Vollstrecker“.
Arnon Goldfinger und seine Generation wuchsen mit diesem Mythos auf, und das kann der Grund dafür sein, dass er so schockiert und verständnislos auf die Enthüllungen über seine Großeltern reagierte. Diese Geschichte zu verstehen, ist jedoch für israelische Juden entscheidend, um einen Weg aus der Sackgasse und der wachsenden Krise zu finden, in die der Zionismus sie in all den Jahrzehnten seit den in diesem Film behandelten Ereignissen bereitet hat geführt hat.