Was steckt hinter der Wulff-Affäre?

Seit mehreren Wochen veröffentlichen die Medien immer neue Einzelheiten über die enge Verbindung des Bundespräsidenten zu reichen Unternehmern. Als Ministerpräsident von Niedersachsen pflegte Christian Wulff (CDU) offenbar ein enges Verhältnis zu den Millionären der Hannoveraner Schickeria und Jetset-Society, und auch nach dem Einzug ins Schloss Bellevue zeigt sich das Präsidentenehepaar gern in Begleitung der Reichen und Schönen.

Am Montag titelte Der Spiegel mit der Frage: „Der falsche Präsident?“ und prognostizierte: „Der Hang zum Glamour könnte Wulff sein Amt kosten.“ Die Frankfurter Allgemeine Zeitung warnte vor einer wachsenden Unglaubwürdigkeit des Präsidenten und schrieb: „Dieser Bundespräsident wird künftig schweigen müssen.“ Die Süddeutsche Zeitung kritisierte Wulffs Krisenmanagement. Sie warf ihm „Wahrheits-Wurstelei“ vor.

Als Sachverständiger für Moral und Arbeitsethos meldete sich der erzkonservative Kölner Kardinal Joachim Meisner zu Wort. Er sagte im WDR-Fernsehen, Wulff solle erklären: „Ich bin ein armer Sünder, habe versagt“, und daraus Konsequenzen ziehen.

Dem Bild über Korruption und Filz zwischen Politik und Wirtschaft werden fast täglich neue Einzelheiten und Facetten hinzugefügt.

Hier ein Überblick: Vor zwei Jahren reiste Familie Wulff über Weihnachten nach Florida in den USA, um mit dem Unternehmerehepaar Geerkens die Feiertage zu verbringen. Sie reiste erste Klasse, bezahlte aber Economy. Air-Berlin-Chef Joachim Hunold, den Wulff persönlich kannte, hatte das kostenlose Upgrade abgesegnet. Als Wulffs Sonderkonditionen bei Air Berlin bekannt wurden, räumte er den Fehler ein, entschuldigte sich und zahlt 3.000 Euro nach.

Zur selben Zeit verdichtete sich das Gerücht, Wulff habe sein Eigenheim in Großburgwedel bei Hannover zu besonders günstigen Konditionen von einem befreundeten Unternehmer erworben. Der Spiegel reagierte auf das Gerücht und beantragte beim Amtsgericht Burgwedel Einsicht ins Grundbuch, doch die Behörde mauerte.

Zwei Monate später fragen die Grünen im Niedersächsischen Landtag, ob der Ministerpräsident geschäftliche Beziehungen zum Unternehmer Geerkens pflege. Wulffs Antwort lautete Nein. Dass er von Geerkens Frau Edith ein Darlehen über eine halbe Million Euro erhalten hatte, verschwieg Wulff. Wenig später nahm er einen Kredit bei der BW-Bank auf und zahlte damit das Darlehen bei Geerkens zurück.

Nach monatelangem juristischem Gezerre wies der Bundesgerichtshof (BGH) das Grundbuchamt Wedel im August 2011 an, dem Spiegel Einsicht ins Grundbuch zu gestatten. Wulff war inzwischen Bundespräsident. Die Recherchen der Spiegel-Redakteure ergaben, dass das Gerücht, Wulff habe die Immobilie von einem befreundeten Unternehmer gekauft, falsch war. Doch durch das juristische Gefecht um die Grundbucheinsicht war die Bild-Zeitung auf den Fall aufmerksam geworden. Das Boulevardblatt wollte nun von Wulff wissen, wer den Kauf finanziert habe.

Am 13. Dezember 2011 meldete Bild in sensationeller Aufmachung, Wulff habe sich eine halbe Million Euro von Edith Geerkens geliehen, um den Kauf seines Hauses zu finanzieren. Er habe im Landtag nicht die volle Wahrheit gesagt. Das Bundespräsidialamt bestätigte noch am selben Tag, dass sich Wulff 500.000 Euro von der Unternehmersgattin geliehen habe, widersprach aber dem Vorwurf, er habe die Unwahrheit gesagt.

Seitdem decken die Medien immer mehr Einzelheiten über „ein eigenartiges Netzwerk der Gefälligkeiten und Eitelkeiten“ (SZ) auf, das Politiker genauso einschließt wie Unternehmer, Künstler und Wissenschaftler. Eine Schlüsselrolle in dieser Vetternwirtschaft spielt der Milliardär und Gründer des Allgemeinen Wirtschaftsdiensts (AWD), Carsten Maschmeyer, der neben Wulff auch mit Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) befreundet ist.

Maschmeyer finanzierte 2007 eine teure Anzeigenkampagne, um ein Buch von Christian Wulff mit dem Titel „Besser die Wahrheit“ zu vermarkten. Andere Medienberichte schildern die mehrfachen Urlaubsreisen, die sich Wulff von befreundeten Unternehmern, wie etwa dem Aufsichtsratschef des Hannoveraner Versicherungskonzerns Talanx, Wolf-Dieter Baumgartl, finanzieren ließ.

Die zahlreichen Enthüllungen zeichnen Wulff als einen Politiker, der sich von seinen Unternehmerfreunden begünstigen und aushalten lässt. Allerdings wurden ihm bisher weder Bestechlichkeit und Korruption noch andere offene Gesetzesverstöße nachgewiesen. In den meisten Fällen handelt es sich um Gefälligkeiten, wie sie auch bei vielen anderen Politikern üblich sind. Schließlich unterhalten alle etablierten Parteien enge Verbindungen zu Konzernen und Banken und vertreten deren Interessen. Viele Einzelheiten über Wulffs Beziehungen waren zudem bereits vor der Bundespräsidentenwahl im Juni vergangenen Jahres bekannt.

Bleibt die Frage, welche politische Absicht mit der Medienkampagne verfolgt wird. Manche Kommentare rechtfertigen sie mit dem hohen moralischen Anspruch, der mit dem höchsten Staatsamt verbunden sei. Doch das erklärt nicht, warum nicht, wie sonst üblich, einfach der Mantel des Schweigens über Wulffs Beziehungen gebreitet wird.

Noch sind nicht alle Einzelheiten bekannt, und es lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, wer im Hintergrund mit welcher Absicht die Berichterstattung steuert. Sie sollte aber im Zusammenhang mit den gegenwärtigen tiefgreifenden politischen Veränderungen und der rapiden Verschärfung der Wirtschaftskrise betrachtet werden.

Das zu Ende gehende Jahr war von der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise geprägt. Die Finanzmärkte trieben die Regierung und EU-Institutionen vor sich her. Ein Euro-Rettungsgipfel jagte den nächsten, doch alle Entscheidungen, die getroffen wurden, waren bereits nach wenigen Tagen wieder Makulatur.

Die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, warnte in der vergangenen Woche vor einer neuen Weltwirtschaftskrise. Es gäbe gegenwärtig keine Volkswirtschaft, die immun gegen die Krise sei, sagte Lagarde in Washington. Die wirtschaftliche Krise befinde sich im „Stadium der Eskalation“. Die frühere französische Finanzministerin verglich die gegenwärtige Gefahrensituation mit der Großen Depression vor dem Zweiten Weltkrieg. Der größte Krisenherd befinde sich derzeit in den Ländern der Euro-Zone.

Die Bundesregierung drängt in Deutschland und Europa auf immer schärfere soziale und politische Angriffe auf die Bevölkerung. Gleichzeitig schwindet ihre innere Stabilität. Der Koalitionspartner FDP liegt nach dem Rücktritt von Generalsekretär Lindner in jüngsten Wählerumfragen nur noch bei zwei Prozent.

In dieser Situation wird der Ruf nach einem starken Präsidenten laut. Einflussreiche Teile der herrschenden Klasse hätten gerne einen Bundespräsidenten, der die Beschränkung auf repräsentative Aufgaben überwindet und dem Amt mehr Macht und Einfluss verleiht.

Die Sparpolitik der Bundesregierung wird oft mit den Sozialkürzungen der Brüning-Regierung am Ende der Weimarer Republik verglichen. Brünings Notverordnungen stützten sich auf den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, der seine Macht zu einer Präsidialdiktatur ausbaute.

In diesem Zusammenhang ist ein „Acht-Punkte-Plan zum Schuldenabbau“ bemerkenswert, den der ehemalige CDU-Generalsekretär und langjährige sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf im Handelsblatt vorstellte. Er fordert darin einen sehr viel stärkeren Abbau der Schulden, als er von der gegenwärtigen Regierung beschlossen wurde.

Der Plan sieht unter anderem vor, dass der Staat neu aufgenommene Schulden innerhalb von drei Jahren zurückzahlen soll, also eine Art verschärfte Schuldenbremse. Außerdem fordern Biedenkopf und seine Mitstreiter die Gründung einer Stiftung mit dem Namen „Deutsche Finanzagentur“, die direkt dem Bundespräsidenten unterstehen soll. Diese Finanzagentur soll alle Schulden des Staates übernehmen und mit den Mitteln, die der Stiftung zugewiesen werden, die anfallenden Zinsen und die Tilgung bezahlen. Die Tilgungsrate soll anfangs bei fünf Milliarden Euro liegen und dann nach zehn Jahren bereits 70 Milliarden betragen.

Im Handelsblatt ist dazu folgendes zu lesen: „Von entscheidender Bedeutung ist aus Sicht der Autoren, dass der Schuldenabbau unabhängig von den Beschlüssen des Parlaments stattfindet, dass also das Budgetrecht eingeschränkt wird... Aus demokratietheoretischer Sicht mag es schmerzlich sein, das Königsrecht des Parlaments einzuschränken. Aus finanzpolitischer Sicht allerdings scheint ein solcher Schritt geboten: Bislang hat noch jeder Kanzler Sparsamkeit versprochen – und dieses Versprechen anschließend gebrochen.“

Die Finanzoligarchie fordert einen starken Präsidenten, der mit größerer Autorität gegenüber der Bevölkerung auftritt und die verfassungsmäßigen Rechte des Präsidentenamts in vollem Umfang ausschöpft.

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