Armut in Deutschland verharrt seit Jahren auf hohem Niveau

Etwa zwölf Millionen Deutsche sind arm, das sind 14,5 % der Bevölkerung. Diese Zahlen gehen aus dem Armutsbericht 2011 des Paritätischen Wohlfahrtsverbands hervor. Besonders schlimm ist es um das Ruhrgebiet bestellt. Hier warnt Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Verbands, vor sozialen Unruhen.

Die Armut verharrt „seit nunmehr sechs Jahren auf einem Rekordniveau von über 14 %“, heißt es in dem Bericht. Trotz heftiger Konjunkturschwankungen haben sich die Quoten in diesem Zeitraum nicht einmal um einen Prozentpunkt bewegt.

Der Bericht benutzt den Begriff der Armutsgefährdung. Er trifft zu, wenn jemand weniger als 60 % des durchschnittlichen Einkommens zur Verfügung hat. 2010 lag diese Armutsgefährdungsschwelle für einen Single-Haushalt bei 826 Euro, für eine vierköpfige Familie betrug sie 1.735 Euro.

Der Bericht weist darauf hin, dass diese 60-Prozent-Grenze für den Single-Haushalt relativ deutlich über der durchschnittlichen Hartz-IV-Bedarfsschwelle von 701 Euro liegt, bei einer Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren die Differenz jedoch nur noch 39 Euro beträgt. Praktisch müsse hier „nicht mehr von Armutsgefährdung, sondern bereits von Armut gesprochen werden“.

Insbesondere die Bundesländer Berlin und Nordrhein-Westfalen, beide SPD-regiert, zeigen der Studie zufolge einen deutlichen Negativtrend. In Berlin stieg die Armutsgefährdungsquote von 17 % im Jahr 2006 auf 19,2 % im vergangenen Jahr, in NRW von 13,9 auf 15,4 %.

Der Anteil der Armen in Berlin und Nordrhein-Westfalen ist gestiegen, obwohl der Anteil der Hartz-IV-Empfänger an der Bevölkerung leicht gesunken ist. In Berlin war die Hartz-IV-Quote 2011 mit 21,1 % bundesweit am höchsten, lag aber etwas unter dem Niveau der Vorjahre. In Nordrhein-Westfalen war sie mit 11,3 % ebenfalls leicht gesunken.

Dass die relative Armut in diesen beiden Bundesländern trotzdem gestiegen ist, führt die Studie auf „eine Zunahme der armutsnahen und armen Bevölkerung außerhalb beziehungsweise oberhalb des Hartz-IV-Bezugs“ zurück. Mit anderen Worten, immer mehr Menschen, die kein Hartz-IV beziehen, sind von Armut betroffen. Verantwortlich dafür ist das Anwachsen des Niedriglohnsektors, wie Ulrich Schneider bei der Vorstellung des Berichts erläuterte.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband bezeichnet es als besorgniserregend, dass die Armut auch in Zeiten starken Wachstums wie 2006, 2007 oder 2010 nicht zurückging. Ein Anwachsen der Wirtschaft habe keine positiven Auswirkungen mehr auf die Einkommen der ärmeren Bevölkerung.

Das Phänomen „verhärteter Armut“ zeigt sich auch bei der bundesweiten Hartz IV-Quote. Auch sie blieb in den vergangenen sechs Jahren mit rund 10 Prozent nahezu konstant. „Allen arbeitsmarktpolitischen Erfolgsmeldungen der Bundesregierung zum Trotz“ könne in diesen sechs Jahren nicht von einer signifikanten Bewegung gesprochen werden, heißt es in der Studie,

Die Armut ist im Osten weiterhin höher als im Westen. Diese pauschale Aussage muss allerdings relativiert werden, wenn man die gravierenden Unterschiede zwischen einzelnen Bundesländern und einzelnen Regionen in diesen Ländern betrachtet. „Statt eines ‚sauberen Ost-West- Schnitts‘ erscheint Deutschland mehr und mehr als armutspolitischer Flickenteppich“, schreibt der Wohlfahrtsverband.

So schwankt die Armutsgefährdungsquote in den Ländern zwischen 10,8 % (Bayern) und 22,4 % (Mecklenburg-Vorpommern). Auch innerhalb der großen westdeutschen Flächenländer gibt es ein enormes Armutsgefälle. In der niedersächsischen Hauptstadt Hannover (21,3 %), dem Land Bremen (21,1 %) oder der Stadt Dortmund (19,7 %) liegt die Armutsgefährdungsquote deutlich über dem ostdeutschen Durchschnitt. Umgekehrt liegen ostdeutsche Regionen wie Südthüringen mit 14,4 % oder das Brandenburgische Havelland-Fläming mit 12,2 % unter dem gesamtdeutschen Durchschnitt.

Noch schärfer zeige sich das Bild regionaler Zerrissenheit beim Hartz-IV-Bezug. Der bayrische Landesdurchschnitt von 4,4 % beträgt weniger als die Hälfte der bundesweiten Quote von 9,8 %. Arme bayrische Städte wie Hof (13,3 %), Weiden in der Oberpfalz (12,7 %) oder Schweinfurth (12,3 %) liegen dagegen deutlich darüber.

Auf der anderen Seite gibt es in den ostdeutschen Ländern, die alle hohe Hartz-IV-Quoten aufweisen, Regionen mit 7 bis 7,5 % (Eichsfeld und Wartburgkreis in Thüringen; Potsdam Mittelmark in Brandenburg).

Als „neue Problemregion mit besorgniserregender Dynamik“ bezeichnet die Studie das Ruhrgebiet, das mit fast 5 Millionen Einwohnern größte deutsche Ballungsgebiet. In Städten wie Dortmund und Duisburg ist die relative Armut seit 2005 um einen Viertel gestiegen und liegt jetzt deutlich über 20 Prozent.

„Diese dramatische Entwicklung des Ruhrgebiets wird durch die Hartz IV-Zahlen noch unterstrichen“, so der Bericht des Wohlfahrtsverbands. Im Juli 2011 waren in Dortmund und Duisburg 17,8 % der Einwohner unter 65 auf Hartz IV angewiesen, in Essen waren es 18,2 % und in Gelsenkirchen sogar 21,6 %. „Besonders besorgniserregend dabei ist, dass diese Quoten in den einzelnen Städten und Landkreisen entweder auf sehr hohem Niveau verharren oder sogar im Trend nach oben zeigen, wie etwa in Mülheim an der Ruhr, in Hamm, in Essen oder in Gelsenkirchen.“

„Es gibt kein Licht am Ende des Tunnels“, sagte Verbandschef Schneider. Er warnte vor sozialen Unruhen wie in London und weiteren britischen Großstädten, wenn die Menschen im Ruhrgebiet weiter keine Perspektive hätten und „aus Hoffnungslosigkeit die soziale Kontrolle verlieren“. Er fügte hinzu: „Wenn dieser Kessel mit fünf Millionen Menschen einmal zu kochen anfängt, dürfte es schwer fallen, ihn wieder abzukühlen.“ Ausdrücklich warnte er davor, „diese Region kaputt zu sparen“.

Doch genau das tut die rot-grüne Landesregierung unter Hannelore Kraft (SPD). Darin besteht der Sinn und Zweck des von ihr beschlossenen „Stärkungspakts Stadtfinanzen“. Er verpflichtet die Kommunen als Gegenleistung für bescheidene Hilfen aus der Länderkasse zu drastischen Spar- und Sanierungsmaßnahmen.

Von den 396 Städten und Gemeinden in NRW haben nur acht einen ausgeglichenen Haushalt. 138 Kommunen befinden sich derzeit dauerhaft im Nothaushaltsrecht. Sechs Kommunen, vier davon im Ruhrgebiet, sind überschuldet, d. h. ihre Schulden übersteigen das gesamte Vermögen. 28 weiteren Kommunen droht in den nächsten zwei Jahren die Überschuldung.

Diese 34 überschuldeten Kommunen sind verpflichtet, Hilfen aus dem „Stärkungspakt“ der Landesregierung anzunehmen und im Gegenzug einen klaren Sparkurs einzuschlagen. Der „Stärkungspakt“ gleicht in dieser Hinsicht den „Hilfen“ für Griechenland von IWF, EZB und EU. Die Gelder, die in den Kassen der Banken landen, werden durch drastische Sozialkürzungen bei der Bevölkerung wieder eingetrieben.

So muss Duisburg ab dem Jahr 2017 jährlich 75 Millionen Euro einsparen. Wie das angesichts der weit verbreiteten Armut gehen soll, weiß derzeit niemand. Schon jetzt lehnt die Grüne Anne Lüttkes, die Präsidentin der Bezirksregierung Düsseldorf, die als Aufsichtsbehörde den Haushalt Duisburgs kontrolliert, jede auch noch so geringe soziale Abfederung der schlimmsten Armut rigoros ab und verlangt vom Duisburger Stadtrat immer neue Kürzungen.

In Oberhausen, der Stadt mit der größten Pro-Kopf-Verschuldung in Deutschland, macht man gute Miene zum bösen Spiel. Anfangs hatte Oberbürgermeister Klaus Wehling (SPD) noch vorgerechnet, dass die verlangten Einsparungen nur zu verwirklichen seien, wenn beispielsweise alle städtischen Beschäftigten entlassen würden, Nun sieht er nach kosmetischen Änderungen am Pakt Positives für die Stadt, „auch wenn er im Ergebnis für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, für Bürgerinnen und Bürger, aber auch für Oberhausener Unternehmen mit Einschränkungen und Mehrbelastungen verbunden sein wird“.

Mit herkömmlichen Methoden lasse sich das noch zu definierende Sparziel nicht erreichen, heißt es auf der städtischen Website. „Wir werden sämtliche Aufgaben, Dienstleistungen und Standorte der Kernverwaltung neu bewerten und prüfen müssen. Dasselbe gilt für die städtischen Beteiligungsgesellschaften, von denen wir gleichermaßen erhebliche Sparbeiträge erwarten.“

Der Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands ist online hier nachzulesen.

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