Das Bündnis der EU mit Libyen bei der Flüchtlingsbekämpfung

Die westlichen Großmächte bereiten derzeit ein militärisches Eingreifen gegen Libyen vor und führen dazu „humanitäre“ Vorwände ins Feld. Der deutsche Außenminister Guido Westerwelle hat erklärt, man könne „nicht zusehen, wie Menschen ermordet werden“. Doch genau das hat die Europäische Union über die letzten Jahre getan, als sie mit den Diktaturen in Libyen und Tunesien bei der Flüchtlingsabwehr eng zusammenarbeitete.

Seit 2003 ist in Nordafrika mit Hilfe der EU ein System von Flüchtlingslagern entstanden. Die Regime von Ben Ali und Gaddafi erledigten die Drecksarbeit für die EU und hinderten afrikanische Flüchtlinge auf brutale Weise daran, nach Europa zu gelangen. Die europäischen Regierungen unterstützten das und förderten es mit Millionen Euro.

Der britische Premierminister Tony Blair hatte 2003 angesichts steigender Asylbewerberzahlen im Vereinigten Königreich eine „neue Vision für Flüchtlinge“ vorgestellt, die aus zwei Kernpunkten bestand: Der Errichtung von Aufnahmelagern für Flüchtlinge außerhalb des Territoriums der EU und der militärischen Intervention in Krisengebieten, um Fluchtbewegungen in Richtung Europa schon im Keim zu ersticken.

Die EU-Innenminister und das Europaparlament lehnten solche Pläne zwar offiziell ab, doch auf dem EU-Gipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs im Juni 2003 in Griechenland wurde unter der Hand grünes Licht für Blairs Lagerpläne gegeben. Innerhalb von zwölf Monaten sollten erste Pilotprojekte gestartet und bewertet werden.

Ein Jahr später preschte der damalige deutsche Innenminister Otto Schily (SPD) im Zusammenhang mit der Rettung von 37 afrikanischen Flüchtlingen im Mittelmeer durch das Schiff „Cap Anamur“ mit einer ähnlichen Idee zur Auslagerung der Flüchtlingsabwehr vor, über die er sich mit seinem damaligen italienischen Amtskollegen Giuseppe Pisanu abgesprochen hatte.

Auf dem Treffen der EU-Innenminister im Oktober 2004 erntete Schily viel Zustimmung für seine Pläne. Die Innenminister beschlossen die Errichtung von fünf Aufnahmelagern in Nordafrika, die allerdings nicht unter Leitung der EU stehen sollten. Den Mitgliedsstaaten wurde damit faktisch ein Freibrief ausgestellt, mit den Staaten Nordafrikas auf bilateraler Ebene Abkommen zur Flüchtlingsabwehr zu schließen. Dass mit diesen Plänen eine massive Verletzung von Grundrechten und der Genfer Flüchtlingskonvention verbunden war, ignorierten die Innenminister.

Insbesondere die italienische Regierung schuf dann schnell Fakten. In Tunesien finanzierte Italien insgesamt 13 Abschiebegefängnisse, in denen Flüchtlinge gefoltert und misshandelt wurden.

Bereits im Jahr 2003 schloss die Regierung Berlusconi auch mit Libyen ein Geheimabkommen zur Rücknahme illegaler Einwanderer. Italien renovierte ein Flüchtlingslager im Norden des Landes und errichtete zwei neue im Süden mitten in der Wüste. Italien lieferte darüber hinaus 100 Schlauchboote, 3 Reisebusse, 6 Geländewagen, Nachtsichtgeräte, Unterwasserkameras, 12.000 Wolldecken und 6.000 Matratzen. Dass die libyschen Behörden nicht gerade zimperlich mit Flüchtlingen umgehen, war der italienischen Regierung voll bewusst, denn die Lieferung umfasste auch 1.000 Leichensäcke.

Die enge Zusammenarbeit mit Libyen war nicht nur bemerkenswert, weil das Regime von Gaddafi seit 1992 international geächtet war und erst durch die Anstrengungen der italienischen Regierung und später der gesamten EU wieder international hoffähig gemacht wurde. Libyen hatte auch, was den Flüchtlingsschutz angeht, einen äußerst schlechten Ruf.

In dem Land leben rund zwei Millionen Flüchtlinge und Wanderarbeiter aus ganz Afrika, aber die Regierung hat die Genfer Flüchtlingskonvention nie unterzeichnet und weigerte sich daher auch, mit dem Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) zusammenzuarbeiten. Flüchtlinge und Arbeitsmigranten sind in Libyen grausamen Verfolgungen ausgesetzt und gegenüber den Sicherheitsbehörden völlig recht- und schutzlos.

Bereits im Jahr 2000 wurden bei rassistischen Pogromen rund 150 Schwarzafrikaner erschlagen. In den insgesamt 15 Flüchtlingslagern des Landes, in denen bis zu 60.000 Flüchtlinge zusammengepfercht sind, herrschen entsetzliche Zustände. Es gibt weder ausreichend Betten, noch Nahrung für die Insassen. Die Migranten sind Folter und Misshandlungen ausgesetzt, Abschiebungen werden ohne Ansehen der rechtlichen Situation der Betroffenen durchgeführt.

Die Lebensumstände in den Lagern waren so katastrophal, dass Insassen zum Teil ihr letztes Hab und Gut an ihre Wächter bezahlten, um den Lagern entfliehen zu können. Für viele endete die Reise durch die Wüste nach Niger jedoch tödlich. Menschenrechtsorganisationen sprechen von mehr als 1.600 Toten in der Sahara.

Trotzdem flog Italien seit 2003 regelmäßig Flüchtlinge, die auf der Mittelmeerinsel Lampedusa gestrandet waren, direkt wieder nach Libyen zurück. Es finanzierte den libyschen Behörden zwischen 2003 und 2005 außerdem 60 Abschiebeflüge, mit denen Flüchtlinge von Libyen weiter deportiert wurden. Wegen der guten Zusammenarbeit auf wirtschaftlicher Ebene und bei der Flüchtlingsbekämpfung pries Ministerpräsident Silvio Berlusconi Gaddafi im Oktober 2004 anlässlich der Einweihung einer Gaspipeline von Libyen nach Italien als „einen guten Freund und freiheitsliebenden Regierungschef“.

Doch nicht nur die italienische Regierung, auch die maltesische und die deutsche begannen nun Gaddafi in der Hoffnung zu hofieren, lukrative Verträge für die heimische Wirtschaft abzuschließen und die Zusammenarbeit bei der Flüchtlingsabwehr zu intensivieren. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) stattete Libyen 2004 zu diesem Zweck ein Besuch ab.

Die Europäische Union hob im Oktober 2004 das Waffenembargo gegen Libyen auf und betonte am selben Tag, sie wolle im Bereich der Migrationsregulierung enger mit Libyen zusammenarbeiten. Im selben Jahr machte sich eine „technische Mission“ der EU-Kommission auf den Weg nach Libyen und inspizierte die Grenzkontrollen und Flüchtlingslager. Sie kritisierte zwar die dort herrschenden Haftbedingungen, schlug aber eine Intensivierung der Zusammenarbeit vor, die sich zunächst in Schulungen für libysche Grenzpolizisten und Materiallieferungen niederschlug.

Im Jahr 2007 reiste eine Delegation der europäischen Grenzschutzagentur Frontex nach Libyen. In ihrem Bericht dokumentierte sie erneut massive Menschenrechtsverletzungen. Trotzdem empfahl Frontex die Lieferung von Kommandoständen, Überwachungsradars, Patrouillenbooten und anderen Ausrüstungsgegenständen nach Libyen.

Im selben Jahr unterzeichnete die EU eine Absichtserklärung mit Libyen, die von der damalige EU-Kommissarin für Außenbeziehungen Benito Ferrero-Waldner euphorisch gepriesen wurde: „Unsere Vereinbarung wird nicht nur die Beziehungen zwischen der EU und Libyen stärken, sondern auch wesentlich zu der aktuellen Politik Libyens beitragen, seine Position in der internationalen Gemeinschaft zu festigen.“

Das in der Absichtserklärung geplante Rahmenabkommen ist allerdings bis heute nicht zustande gekommen. Bisher führte nur die italienische Küstenwache auf bilateraler Ebene gemeinsame Patrouillenfahrten vor der Küste Libyens durch. Dabei wurden wiederholt Flüchtlingsboote abgedrängt und beschossen.

Trotzdem hat die EU in den letzten Jahren rund 60 Millionen Euro in Libyen investiert, um die Flüchtlingsabwehr in Nordafrika zu perfektionieren. Geplant sind aber noch weitergehende Maßnahmen. So soll an den Südgrenzen Libyens zum Tschad und zum Niger ein Radar- und Satellitengestütztes Grenzkontrollsystem errichtet werden. Die Kosten von rund 300 Millionen Euro sollen zwischen Italien und der EU aufgeteilt werden. Die Durchführung soll die italienische Finmeccanica-Gruppe übernehmen, der größte italienische Rüstungskonzern.

Die Flüchtlingsabwehr der EU in Zusammenarbeit mit dem libyschen Regime haben Tausende Flüchtlinge mit dem Tod auf dem Mittelmeer und in den Wüsten Libyens bezahlt. Die Verantwortung dafür tragen in erster Linie die europäischen Regierungen. Sie haben nicht nur zugeschaut, wie das Regime Gaddafis Migranten und Flüchtlinge drangsaliert, foltert und in den sicheren Tod schickt, sondern die Regierung in Tripolis dabei auch nach Kräften logistisch und finanziell unterstützt.

Nun befürchten die europäischen Regierungen, dass der Aufstand gegen das Gaddafi-Regime eine neue Flüchtlingswelle über das Mittelmeer auslöst. Die EU hat darauf mit der Entsendung von Hubschraubern, Schnellbooten und Kriegsschiffen reagiert und eine schnelle Eingreiftruppe der Grenzschutzagentur Frontex an die libysche und tunesische Küste verlegt, um die Flucht auf das europäische Festland um jeden Preis zu verhindern.

Der Umgang mit den Flüchtlingen offenbart darüber hinaus die tiefe Zerstrittenheit innerhalb der Europäischen Union. Schon als vor zwei Wochen 6.000 Flüchtlinge aus Tunesien die kleine italienische Insel Lampedusa erreichten, entbrannte ein heftiger Streit über ihre Verteilung. Die Mittelmeeranrainerstaaten Italien, Malta, Spanien, Griechenland und Frankreich verlangten eine Aufteilung der auf der Insel Gestrandeten auf alle Staaten der EU mittels eines Quotenverfahrens, was von den nördlichen EU-Mitgliedsstaaten wie Großbritannien, Schweden, Österreich und vor allem Deutschland strikt abgelehnt wurde.

Der Umgang mit den Flüchtlingen war dabei bizarr. Der italienische Innenminister Roberto Maroni verhängte den Notstand über die Insel Lampedusa, sprach von einer „humanitären Katastrophe“ und malte das Schreckgespenst eines „Exodus von biblischem Ausmaß“ an die Wand, weigerte sich aber gleichzeitig, das leer stehende Aufnahmelager für Flüchtlinge auf Lampedusa zu öffnen. Die Flüchtlinge mussten zunächst im Freien campieren und waren auf die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung angewiesen, die die Gestrandeten mit Lebensmitteln und Unterkünften versorgte.

Die „Das Boot ist voll“-Strategie der EU-Innenminister führte dazu, dass sie sich nur auf einen Einsatz der Grenzschutzagentur Frontex einigen konnten. Hier beteiligt sich auch Deutschland mit der Entsendung von Hubschraubern zur Seeaufklärung.

Die Differenzen innerhalb der EU über die Aufnahme von Flüchtlingen blieben auch angesichts der dramatischen Ereignisse in Libyen bestehen. Während über 100.000 Arbeiter und Familien vor dem dort stattfindenden Gemetzel nach Ägypten und Tunesien fliehen, weigert sich die EU strikt, die Grenzen für diese Menschen zu öffnen. Flüchtlingsboote werden durch Frontex auf See abgedrängt und zur Umkehr gezwungen.

Die Forderung an das Regime in Libyen, die Menschenrechte zu achten und den Freiheitsdrang der Bevölkerung zu respektieren, wird völlig dadurch konterkariert, dass die EU das Recht auf Asyl und Sicherheit an Leib und Leben mit Füßen tritt.

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