Am vergangenen Freitag beschloss der Bundestag mit den Stimmen der Regierungskoalition von Union und FDP die Gesundheitsreform 2011. Damit sind die Weichen in Richtung Zwei-Klassen-Medizin und Privatisierung der Krankenversicherung gestellt. Kernstück der Reform ist die Einführung von unbegrenzten Kopfpauschalen, auch wenn die Koalition diesen Begriff meidet, da sie sich der Unpopularität der Reform bewusst ist.
Die jüngste Gesundheitsreform bedeutet eine Mehrbelastung der arbeitenden Bevölkerung mit unteren und mittleren Einkommen zu Gunsten der Arbeitgeber und der privaten Krankenversicherungen. Zunächst steigen die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung im kommenden Jahr von 14,9 auf 15,5 Prozent des Bruttolohns, wovon die Beschäftigten 8,2 Prozent zahlen. Der Arbeitgeberanteil an der Krankenversicherung wird auf dem Stand von 7,3 Prozent eingefroren. Künftige Kostensteigerungen sollen allein von den Beschäftigten bezahlt werden.
Die Steigerung des Beitragssatzes bedeutet, dass Beschäftigte bei einem Bruttogehalt von 1.000 Euro in Zukunft 82 statt 79 Euro, also 3 Euro mehr im Monat, für die gesetzliche Krankenversicherung aufbringen müssen. Wer 2.000 oder 3000 Euro brutto verdient, wird dementsprechend 6 bzw. 9 Euro monatlich mehr zahlen. Das Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze, die von 3.750 Euro auf 3.712,50 Euro leicht sinkt, bleibt jedoch beitragsfrei, was bei den betroffenen Einkommensgruppen zu einer minimalen Entlastung führt.
Da niemand davon ausgeht, dass die Beiträge die tatsächlichen Kosten der Gesundheitsversorgung decken, können und müssen die Krankenkassen künftig so genannte Zusatzbeiträge erheben. Tatsächlich handelt es sich dabei um nichts anderes als den Einstieg in die Kopfpauschale, die von der Bevölkerung mehrheitlich abgelehnt wird. Das Eintreten für Kopfpauschalen gilt spätesten seit der Bundestagswahl 2005 als Garant für eine Wahlniederlage.
Da die Zusatzbeiträge an die Krankenversicherungen als Pauschalbeiträge, unabhängig vom Einkommen zu zahlen sind, werden Gering- und Mittelverdiener deutlich stärker belastet als besser Verdienende. Ein späterer Ausbau der Kopfpauschale ist im Gesetz mit angelegt. Eine im Vorfeld diskutierte Obergrenze für die Zusatzbeiträge ist wieder verworfen worden.
Einige Krankenkassen haben bereits angekündigt, dass sie 2011 Zusatzbeiträge verlangen bzw. die schon 2010 erhobenen Pauschalen erhöhen werden. Der Verband der Ersatzkassen begründete dies mit den Ende Oktober von Schwarz-Gelb beschlossenen Änderungen an der Gesundheitsreform. So sollen die rund 150.000 niedergelassenen Ärzte zur ohnehin eingeplanten Honorarerhöhung von einer Milliarde Euro noch einmal rund 120 Millionen Euro zusätzlich erhalten, für die Kliniken sollen 400 Millionen und für die Zahnärzte etwa 27 Millionen Euro mehr ausgegeben werden. Diese zusätzlichen 547 Millionen Euro müssen die Kassen aufbringen, also faktisch die Versicherten über den Weg der Kopfpauschale.
Um der Kritik an der unsozialen Politik der Bundesregierung die Spitze zu nehmen, verweist Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) auf den geplanten „Sozialausgleich“, der Geringverdiener entlasten soll. Doch bei dieser Regelung handelt es sich weitgehend um Kosmetik: Wenn der „durchschnittliche Zusatzbeitrag“ mehr als zwei Prozent des Bruttoeinkommens beträgt, soll der Versicherte die Differenz als Sozialausgleich aus Steuermitteln erhalten. Beläuft sich also der „durchschnittliche Zusatzbeitrag“ auf 20 Euro, bekämen Versicherte mit einem Bruttoeinkommen unter 1.000 Euro einen Ausgleich.
Der Trick liegt hier beim Wort „durchschnittlich“. Für den einzelnen Versicherten kann der Zusatzbeitrag nämlich durchaus über der Zweiprozentmarke liegen, wenn seine Krankenkasse einen Beitrag benötigt, der über dem Gesamtdurchschnitt der anderen Kassen liegt. Hinzu kommt, dass der Sozialausgleich aus Steuergeldern finanziert wird und daher unter dem Vorbehalt der Finanzierung durch die Bundesregierung steht.
Vertreter der Privaten Krankenversicherungen zeigen sich höchst zufrieden mit der Gesundheitsreform. „Gewinner der Gesundheitsreform 2011 ist ganz klar die Private Krankenversicherung (PKV)“, heißt es auf einer ihrer Websites (pkv-private-krankenversicherung.net). Denn Besserverdienende können nun leichter in die PKV wechseln. Der Nachweis eines Einkommens oberhalb der Versicherungspflichtgrenze für ein Kalenderjahr reicht dafür nun aus. Bislang musste der Einkommensnachweis für drei aufeinander folgende Jahre erbracht werden, ehe eine Befreiung von der Versicherungspflicht und damit ein Wechsel in die PKV erfolgen konnte. Die monatliche Versicherungspflichtgrenze soll zudem von derzeit 4.162,50 Euro auf 4.125 Euro Bruttoeinkommen herabgesetzt werden.
„Da die Privaten Krankenversicherungen chronisch Kranke oder alte Patienten gar nicht oder nur mit einem Risikozuschlag aufnehmen“, so die PKV-Website, verbleiben „kostentreibende“ Mitglieder in der gesetzlichen Krankenversicherung, „kostenarme“ Patienten wechseln in die PKV. „Damit steht die PKV als eindeutiger Gewinner der Gesundheitsreform 2011 fest.“
Die „Verlierer“ können ebenso klar benannt werden: die 70 Millionen Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen. Das Bundesversicherungsamt rechnet im kommenden Jahr mit einem Defizit von mindestens elf Milliarden Euro, das dann durch Kopfpauschalen von den Beschäftigten eingezogen werden muss.
Langfristig gehen alle Experten davon aus, dass die Kosten im Gesundheitswesen und damit die Kopfpauschalen weiter steigen. Dies ist von der Bundesregierung auch ausdrücklich so gewollt. Der 37-jährige Bundesgesundheitsminister Rösler (FDP) erklärte letzte Woche in der Bundestagsdebatte: „Diese Koalition will aus der Planwirtschaft heraus.“
Die solidarische (nach Einkommen gestaffelte) und paritätische (von Unternehmen und Beschäftigten zu gleichen Teilen getragene) Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung, die bis auf die Sozialpolitik Kanzler Bismarcks ins 19. Jahrhundert zurückgeht, gilt Rösler und der Bundesregierung als sozialistische „Planwirtschaft“, die im System des freien Marktes nichts verloren habe.
Röslers Wortwahl stellt einen recht verzweifelten Versuch dar, dieses äußerst unpopuläre Projekt der Bundesregierung zu rechtfertigen. Das ihm dies gelingt, darf bezweifelt werden. Immer wieder haben Umfragen ergeben, dass eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung die aktuelle Gesundheitsreform ebenso wie sämtliche Pläne zur Umstellung des Systems in Richtung Kopfpauschale ablehnt und Einsparungen im Gesundheitssektor lediglich bei den Profiten der Pharmakonzerne und den Verwaltungen der Krankenkassen befürwortet.
Als Warnung darf gelten, dass Rösler nun nach der Gesundheitsreform den Umbau der gesetzlichen Pflegeversicherung ankündigt. Er plane dies ebenfalls für das kommende Jahr, sagte er in der vergangenen Woche gegenüber dem Hamburger Abendblatt. Auch hier sei das zentrale Vorhaben die Privatisierung durch die Einführung einer Pflegezusatzversicherung: „Wir wollen eine kapitalgedeckte Zusatzversicherung als Ergänzung zur bestehenden Pflegeversicherung auf den Weg bringen.“
Rösler klagte, wer jetzt in die Pflegeversicherung zahle, „spart das Geld nicht für sich selbst an, sondern zahlt für die Generation, die jetzt Leistungen in Anspruch nimmt“. Diese generationenübergreifende solidarische Finanzierung der Sozialversicherungen – denn auch die Rentenversicherung funktioniert nach diesem Prinzip – ist Rösler ein Dorn im Auge. Er will auch im Pflegebereich die soziale Spaltung der Gesellschaft weiter vorantreiben, indem er die „Planwirtschaft“ bekämpft und den Privatversicherungen neue Profitmöglichkeiten eröffnet.