Sieben Soldaten der Bundeswehr sind in den vergangenen zwei Wochen bei Gefechten in Afghanistan ums Leben gekommen. In der Bevölkerung nimmt die Opposition gegen den Krieg deutlich zu. Unter diesen Bedingungen gab Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gestern im Bundestag eine Regierungserklärung ab, in der sie den Bundeswehreinsatz erneut rechtfertigte und als "alternativlos" bezeichnete.
Ihre Rede vor den Abgeordneten war eine Ansammlung von Propagandaphrasen, Verdrehungen und offenen Lügen. Sie diente dazu, eine militärische Großoffensive gegen die Taliban im Norden Afghanistans vorzubereiten, die der Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte, US-General Stanley McChrystal, am Tag zuvor bei einem Besuch in Berlin angekündigt hatte.
Merkel begann ihre Rede mit einem Zitat von Altkanzler Helmut Schmidt (SPD). Schmidt habe bei der Vereidigung junger Soldaten gesagt, die Rekruten hätten großes Glück, weil sie einem Staat dienten, der ausschließlich friedliche Ziele verfolge. Seine Worte "Dieser Staat wird Euch niemals missbrauchen" hätten nach wie vor uneingeschränkte Gültigkeit, erklärte Merkel.
Diese Bezugnahme auf Helmut Schmidt ist in mehrerer Hinsicht aufschlussreich. Um der wachsenden Anti-Kriegsstimmung entgegenzutreten, stützte sich Merkel gleich zu Beginn ihrer Rede auf ein Bündnis mit den Sozialdemokraten. Der Kriegsopposition der Bevölkerung stellt sie die Große Koalition der Kriegsparteien entgegen.
Merkel, beziehungsweise ihre Redenschreiber, versuchen auch deshalb an Schmidt zu erinnern, weil sein Versprechen, die Soldaten würden nicht missbraucht, gegenwärtig so offensichtlich gebrochen wird. Seit acht Jahren wurden und werden Bundeswehrsoldaten unter Angabe völlig falscher und irreführender Kriegsziele nach Afghanistan geschickt. Die Soldaten und die Bevölkerung wurden und werden systematisch belogen.
Jahrelang wurde behauptet, es handele sich um eine "Aufbaumission". Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan diene ausschließlich dazu, den wirtschaftlichen Aufbau des Landes und die Entwicklung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen militärisch abzusichern. Von "Krieg" war keine Rede. In keinem der Bundestagsbeschlüsse, die das Afghanistan-Mandat Jahr für Jahr verlängerten, ist der Begriff "Krieg" zu finden. Obwohl die Zahl der ausländischen Besatzungssoldaten auf 130.000 erhöht wurde und Tausende von afghanischen Zivilisten ums Leben kamen, wurde an der Bezeichnung "Sicherheits- und Aufbaumission" festgehalten.
Auch in ihrer gestrigen Rede versuchte Merkel den verlogenen Mythos einer Aufbaumission aufrecht zu erhalten. Doch angesichts der Eskalation des Krieges und der wachsenden Zahl gefallener Soldaten wird das zusehends schwieriger. Deshalb erklärte Merkel, sie habe großes Verständnis, "wenn Soldaten vor Ort von Bürgerkrieg oder auch nur Krieg sprechen".
Welch ein feiges Argument! Nicht die Regierung sagt, wie der Militäreinsatz zu bewerten ist, welche Ziele er verfolgt und mit welchen Mitteln er geführt wird. Sie schickt die Armee unter beschönigenden und falschen Angaben in den Einsatz. Wenn die Soldaten dann sagen: Einen Moment mal, wir stehen hier im Kampf, wir werden als Besatzungsarmee wahrgenommen, der Gegner erhält mehr und mehr Unterstützung aus der einheimischen Bevölkerung, die Angriffe auf uns werden stärker, wir müssen immer häufiger töten und haben wachsende eigene Verluste, wir stehen hier im Krieg‘, dann antwortet die Regierung: Wir haben Verständnis für eure Sicht der Ding. Aber wir können hier nicht offen über Besatzung und Kolonialkrieg sprechen, denn das würde die Bevölkerung nicht akzeptieren.‘
Die zweite Lüge der Kanzlerin lautet: "Unsere gefallenen Soldaten haben ihr Leben gegeben für Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie."
Nach UN-Angaben haben seit Kriegsbeginn etwa 50.000 Menschen in Afghanistan ihr Leben verloren. Eine hochgerüstete Besatzungsarme, ausgerüstet mit modernsten Waffen, wütet gegen die Bevölkerung eines unterentwickelten Landes. Was hat das mit Freiheit zu tun?
Merkel bezeichnete die Rechtsstaatlichkeit als "höchstes Gut der Menschen" und verwies auf ihre negative Erfahrung in der DDR. Doch in Afghanistan unterstützt die Bundeswehr ein völlig korruptes Marionetten-Regime. Die Wahl im vergangenen Sommer war nachweislich manipuliert. Der Bruder von Präsident Karzai steht auf der Gehaltsliste des amerikanischen Geheimdienstes CIA und ist gleichzeitig eine Schlüsselfigur im Drogenhandel. Die Drogenproduktion hat im vergangenen Jahr mit 9.000 Tonnen Rohopium einen neuen Rekord erreicht. So viel über Rechtsstaatlichkeit.
In der Frage der Demokratie widersprach Merkel sich selbst. Es sei unrealistisch gewesen, in Afghanistan eine "Demokratie nach westlichem Vorbild" anzustreben, sagte sie. Stattdessen müssten auch Gremien wie die Loja Dschirga als berechtigte gesellschaftliche Institutionen anerkannt werden. Mit anderen Worten: die archaischen Formen mittelalterlicher Stammesgesellschaften sollen erhalten bleiben.
In diesem Zusammenhang betonte Merkel mehrmals, sie unterstütze die neue Afghanistan-Strategie, die im Januar auf einer Konferenz in London vereinbart wurde. Diese Strategie sieht die engere Zusammenarbeit mit lokalen Machthabern vor, darunter auch "gemäßigten Taliban", was Merkel als "Übergabe in Verantwortung" bezeichnete. In Wahrheit bedeutet die neue Strategie eine Stärkung der regionalen Clanführer und Warlords. Sie wird das Land in einen permanenten Stammes- und Bürgerkrieg stürzen und noch stärker paralysieren als bisher. Die ständige Manipulation regionaler Konflikte macht das Land auf Dauer zum Spielball imperialistischer Interessen. Was die Kanzlerin als "selbsttragende Sicherheitsstruktur" bezeichnete, ist in Wirklichkeit die älteste Taktik imperialer Kolonialpolitik: Teile und herrsche.
Aber nicht nur die Afghanistan-Strategie spricht demokratischen Verhältnissen Hohn. Auch hierzulande macht die Regierung deutlich, was sie von Demokratie hält. Sie führt mit Brachialgewalt einen Krieg fort, der von über 70 Prozent der Bevölkerung abgelehnt wird.
Die dritte Lüge der Kanzlerin lautete, der Krieg in Afghanistan diene der deutschen Sicherheit. Erneut stützte sie sich dabei auf einen sozialdemokratischen Kronzeugen. Sie zitierte den ehemaligen SPD-Verteidigungsminister Peter Struck, der behauptet hatte, die deutsche Sicherheit werde am Hindukusch verteidigt. "Bis heute hat es niemand klarer, präziser und treffender ausdrücken können, worum es in Afghanistan geht", lobte Merkel.
Ein Blick auf die Landkarte zeige, dass die geographische Lage des Landes mit seinen Grenzen zu Pakistan und dem Iran für eine internationale Sicherheitsstrategie große Bedeutung habe, fuhr Merkel fort. In Afghanistan seien gefährliche Attentäter ausgebildet worden und in den Nachbarländern bestehe die Gefahr, dass Terroristen in den Besitz von Atomwaffen oder Nuklearmaterial zum Bau von "schmutzigen Bomben" kämen.
Was sie nicht sagte, ist, dass die Verschärfung und Ausweitung des Kriegs in den vergangenen acht Jahren die Sicherheitslage in der Region nicht verbessert, sondern deutlich verschlechtert hat.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Aussagen einiger Soldaten, die der Spiegel in seiner jüngsten Ausgabe zu Wort kommen lässt. Der 30-jährige Hauptmann Jan S., dessen Fallschirmspringerbataillon am Karfreitag in einen Hinterhalt geriet und drei Tote zu beklagen hatte, vergleicht den jetzigen Einsatz mit einem früheren, drei Jahre zuvor: "Damals konnten wir uns noch bewegen, aus den Fahrzeugen raus, ran an die Menschen. Heute ist alles anders. Bei unserer Einweisung Anfang April waren auf den Karten für unser Einsatzgebiet mehrere Gegenden als No-go-Area markiert. Für meine Männer und mich ist das frustrierend."
Ohne es offen auszusprechen, macht diese Aussage deutlich, dass der Militäreinsatz das Gegenteil von dem erzielt hat, was die Kanzlerin und ihr arroganter Verteidigungsminister mit ihrer verlogenen Kriegspropaganda behaupten.
Eine wichtige Bemerkung machte Merkel in ihrer Regierungserklärung in einem knappen Nebensatz. Sie wolle und könne nicht über die Ereignisse der Jahre 1989 und 1990 sprechen, sagte die Kanzlerin. Damals waren die sowjetischen Truppen nach einem zehnjährigen verlustreichen Einsatz aus Afghanistan abgezogen.
Der Grund, weshalb Merkel nicht auf die Geschichte des Landes eingehen will, ist nicht schwer zu verstehen. Sie müsste dann darüber sprechen, wie Al Qaida und verschiedene islamistische Milizen von der CIA in den achtziger Jahren aufgebaut und bewaffnet wurden, um gegen die sowjetischen Truppen zu kämpfen. Sie müsste über den Sicherheitsberater des US-Präsidenten (1977-1981) und derzeitigen Obama-Berater Zbigniew Brzezinski sprechen, der in seinen Büchern der Kontrolle über die "eurasische Landmasse" - und hier wiederum über Afghanistan - eine Schlüsselrolle für die Verteidigung der amerikanischen Weltherrschaft zuschreibt. Oder sie müsste erklären, dass der Krieg gegen die Machthalter in Kabul lange vor dem Attentat vom 11. September 2001 geplant war, dass Berlin unter keinen Umständen eine alleinige US-Kontrolle in der Region akzeptieren will und dass Deutschland seit Jahrzehnten zu den unterschiedlichen Regierungen in Afghanistan enge wirtschaftliche und politische Beziehungen unterhielt.
Kurz gesagt: Wenn Merkel über die Geschichte sprechen würde, wäre schnell klar, dass es sich bei dem gegenwärtigen Militäreinsatz um einen kolonialen Eroberungskrieg handelt. Doch das soll unter keinen Umständen ausgesprochen werden.
In der Aussprache nach der Regierungserklärung stellte sich SPD-Chef Gabriel uneingeschränkt an die Seite der Kanzlerin. Er warnte lediglich davor, offen von Krieg zu sprechen. Wenn man die bisherige Propaganda fallen lasse, werde es noch weit schwieriger, den Krieg gegenüber der Bevölkerung zu rechtfertigen.
Auch Jürgen Trittin unterstützte im Namen der Grünen die Kanzlerin, vertrat aber den umgekehrten Standpunkt. Er forderte die Regierung auf, alle Beschönigungen fallen zu lassen und den Krieg offen beim Namen zu nennen.
Als Sprecher der Linkspartei kritisierte Gregor Gysi den Krieg und hielt der Kanzlerin einig UN-Zahlen vor, die deutlich machen, dass das Gerede vom wirtschaftlichen und sozialen Aufbau völlig verlogen ist. Aber auch Gysi sagte kein Wort über den wahren Charakter dieses Kolonialkriegs. Angesichts des wachsenden Widerstands in der Bevölkerung spielt die Linkspartei die Rolle des politischen Sicherheitsventils im Bundestag. Ihre Kritik soll die Opposition unter Kontrolle halten und politisch einbinden. Damit bildet die Linkspartei den linken kritischen Flügel der Kriegskoalition.