Gegenüber Bild am Sonntag erklärte Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) am vergangenen Wochenende, er glaube nicht an eine Demokratisierung Afghanistans nach westlichem Vorbild. Wörtlich sagte der Minister: "Ich bin schon länger zu der Überzeugung gelangt, dass Afghanistan gerade wegen seiner Geschichte und seiner Prägung sich nicht als Vorzeige-Demokratie nach unseren Maßstäben eignet."
Bisher hatte die Bundesregierung versucht, die Beteiligung der Bundeswehr am Krieg in Afghanistan mit demokratischen und humanitären Argumenten zu rechtfertigen. Mehrmals hatten deutsche Politiker das brutale militärische Vorgehen der US-Armee im Rahmen der "Operation Enduring Freedom" (OEF) kritisiert und versucht, den Bundeswehreinsatz davon abzugrenzen. Die "International Security Assistance Force" (ISAF) wurde als "Friedensmission", "Stabilisierungseinsatz" oder "Wiederaufbaumission", das heißt, als eine Art "bewaffnete Entwicklungshilfe" dargestellt.
Noch im vergangenen Sommer hatte die Regierung behauptet, Hauptaufgabe der Bundeswehr in Afghanistan sei die Absicherung der Präsidentschaftswahlen, obwohl das Ausmaß der Korruption, Vetternwirtschaft und wachsenden Kriminalität der Karsai-Regierung in Kabul längst bekannt war.
Vor wenigen Wochen, am 3. Dezember, hat der Bundestag den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr mit großer Mehrheit um ein weiteres Jahr verlängert. Der Parlamentsabstimmung lag ein Antrag der Bundesregierung zugrunde, der die Schaffung demokratischer Verhältnisse in Afghanistan und den wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes als Hauptbegründung für die Mandatsverlängerung anführte.
Die Bundesregierung begründete ihren Antrag mit den Worten, sie verfolge das Ziel, "die Konsolidierung demokratischer Institutionen und Prozesse durch Unterstützung der Parlamentswahlen 2010 sowie Projektvorschläge zur Durchführung des geplanten Zensus zum Aufbau eines glaubhaften Wählerregisters zu unterstützen". Darüber hinaus strebe die Bundesregierung an, "ihre Beiträge im Bereich des wirtschaftlichen und sozialen Wiederaufbaus und der Entwicklung des Landes fortzusetzen".
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) beabsichtige die "Fortsetzung seiner eher langfristig orientierten Aufbauarbeit in den Schwerpunktsektoren der afghanisch-deutschen Entwicklungszusammenarbeit (Grund- und Berufsbildung, nachhaltige Wirtschaftsentwicklung sowie Wasser- und Energieversorgung)", heißt es im Antrag der Bundesregierung weiter.
Mit seiner knappen Erklärung, er halte eine demokratische Entwicklung in Afghanistan für unrealistisch, hat Verteidigungsminister Guttenberg die bisherige Kriegspropaganda beiseite gewischt. Seine Äußerung zeigt, dass die Begründung der Regierung für die Mandatsverlängerung nicht der Realität entsprach, und dass sie die Soldaten unter falschen Voraussetzungen und mit verlogenen Argumenten in den Krieg geschickt hat.
Nach acht Jahren lässt sich der wahre Charakter dieses Krieges nicht länger verheimlichen. Spätestens das Massaker bei Kundus, bei dem Anfang September nach heutigem Kenntnisstand mindestens 142 Menschen, darunter viele Zivilisten ums Leben kamen, hat deutlich gemacht, dass die Bundeswehr nicht als bewaffnete Hilfstruppe zur Absicherung wirtschaftlicher Aufbaumaßnahmen, sondern als Besatzungsarmee auftritt.
Der Krieg hat seine eigene Logik. Die Kriegsziele bestimmen die Methoden der Kriegsführung. Das gezielte Töten von Aufständischen unter Inkaufnahme zahlreicher ziviler Opfer ist charakteristisch für einen Kolonialkrieg, wie ihn Frankreich in Algerien oder die USA in Vietnam und im Irak geführt haben.
Verteidigungsminister Guttenberg hat zwar die bisherige Propaganda aufgegeben, die Bundeswehr verfolge demokratische und humanitäre Ziele, äußert sich aber nicht zu den wahren Zielen des Krieges. Diese werden deutlich, wenn man die Geschichte des gegenwärtigen Konflikts untersucht. Afghanistan befindet sich bereits seit mehreren Jahrzehnten im Zentrum der geostrategischen Interessen der USA in Zentralasien. Durch die militärische Besatzung und die Errichtung eines Marionettenregimes in Kabul will die US-Regierung ihre strategische und wirtschaftliche Vorherrschaft über die rohstoffreiche Region errichten.
Schon vor dreißig Jahren hatte sie islamistische Aufständische finanziert und mit Waffen versorgt, die gegen die damalige, von der Sowjetunion unterstützte afghanische Regierung kämpften. In den 1990er Jahren ermutigte die US-Regierung unter Präsident Clinton dann die mit ihr verbündete pakistanische Regierung, den Taliban in Kabul an die Macht zu verhelfen. Dies geschah im Glauben, das Taliban-Regime würde mit den großen amerikanischen Energieunternehmen zusammenarbeiten, die Öl- und Gasprojekte in Kasachstan und anderen zentralasiatischen Staaten verfolgten und Pipelines durch Afghanistan bauen wollten. Schließlich bereitete die US-Regierung eine direkte Eroberung des Landes vor. Die Terroranschläge vom 11. September dienten ihr als Vorwand, um diesen längst vorbereiteten Plan in die Tat umzusetzen.
Mit der militärischen Besetzung Afghanistans verfolgen die USA neben der Kontrolle der Rohstoffrouten noch ein weiteres Ziel. Die US-Regierung will damit einen militärischen Brückenkopf in der Region errichten, um ihre Rivalen - vor allem Russland, China, Indien und den Iran - einzudämmen.
Die Entscheidung der Obama-Regierung, die amerikanischen Truppen um weitere 30.000 Soldaten aufzustocken, den Krieg zu intensivieren und auf Pakistan auszuweiten, setzt die deutsche Regierung in doppelter Hinsicht, innen- wie außenpolitisch, unter Druck.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Innenpolitisch wird es zusehends schwieriger, einen Krieg zu rechtfertigen, dessen kolonialer Charakter offen in Erscheinung tritt. Bereits vor Guttenbergs Absage an demokratische und humanitäre Ziele hatte der soziale und politische Niedergang Afghanistans nach acht Kriegsjahren die Kriegspropaganda widerlegt.
Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen leiden acht Millionen Menschen an Hunger und Unterernährung. 75 Prozent der Bevölkerung haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Der Krieg richtet sich immer direkter gegen die einheimische Bevölkerung. Bereits jetzt befinden sich unter den offiziell 50.000 Kriegsopfern mehrheitlich Zivilisten.
Das korrupte Regime in Kabul, das durch die Nato-Truppen an der Macht gehalten wird, stützt sich einerseits auf die Milliarden der so genannten Geberländer und andererseits auf die Einnahmen aus dem illegalen, ständig wachsenden Drogenanbau. Mit 9.000 Tonnen Rohopium wurde im ablaufenden Jahr ein Rekord bei der Drogenproduktion erreicht.
Außenpolitisch haben alle Bemühungen der Regierung Merkel, auf die Regierung in Washington zuzugehen und eine engere Zusammenarbeit zu erreichen, nicht gefruchtet. Die transatlantischen Spannungen nehmen auf allen Ebenen zu. Die Hoffnungen, die vor einem Jahr mit der Amtsübernahme von Barak Obama verbunden wurden und eine so genannte "Obamamia" auslösten, sind längst verflogen.
Mit Enttäuschung wurde im Kanzleramt registriert, dass die US-Truppenaufstockung und Ausweitung der Kriegsstrategie in Washington ohne Rücksprache mit den Verbündeten beschlossen wurde. Auf wirtschaftlicher Ebene nutzt die US-Regierung den niedrigen Dollarkurs zu Handelskriegszwecken. In der Opel-Frage wurde die Kanzlerin brüskiert, und auf dem Klimagipfel in Kopenhagen, auf dem Merkel als frühere Umweltministerin punkten wollte, verhinderte Obama jegliche Einigung.
Bisher hat die deutsche Politik ihre Interessen im Windschatten der USA verfolgen können. Mit den wachsenden transatlantischen Spannungen wird die Frage nach der außenpolitischen Orientierung wieder virulent. Doch ein deutscher Rückzug aus Afghanistan könnte das Nato-Bündnis sprengen, und das will die Bundesregierung auf keinen Fall. Außerdem fürchtet sie die wirtschaftlichen und militärischen Konsequenzen einer offenen Konfrontation mit Washington.
Die Bundesregierung reagiert auf dieses Dilemma mit dem Versuch, den eigenen Einfluss nicht nur wirtschaftlich und politisch, sondern auch militärisch zu stärken. So wird der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan und das Massaker von Kundus zum Sprungbrett für eine intensive militärische Aufrüstung und Wiederbelebung des deutschen Militarismus.