Die US-amerikanische Socialist Equality Party (SEP) hat vom 3. bis 9. August 2008 ihren Gründungskongress durchgeführt. Der Kongress diskutierte und verabschiedete ein Dokument über die "historischen und internationalen Grundlagen der Socialist Equality Party", das wir hier in deutscher Übersetzung in elf Teilen veröffentlichen. Bereits in deutscher Übersetzung erschienen sind ein Bericht über den Gründungskongress und die Grundsatzerklärung der SEP, die ebenfalls vom Gründungskongress verabschiedet wurde.
Nach der Spaltung: Bedeutung und Folgen der Globalisierung
202. Unmittelbar nach der Spaltung unterzog das Internationale Komitee die Auflösung der Workers Revolutionary Party einer detaillierten Analyse. In Wie die WRP den Trotzkismus verraten hat, 1973-1985 wird nachgewiesen, dass die Krise dieser Organisation eng mit ihrem Abweichen von jenen Prinzipien zusammenhing, die von den britischen Trotzkisten immer verteidigt worden waren, sowohl bei der Gründung des Internationalen Komitees, als auch später, bei ihrem Kampf von 1963 gegen die prinzipienlose Wiedervereinigung der SWP mit den Pablisten. Anschließend ging das Internationale Komitee daran, Michael Bandas Angriff auf die Geschichte der trotzkistischen Bewegung zurückzuweisen: Es veröffentlichte Das Erbe, das wir verteidigen : Ein Beitrag zur Geschichte der Vierten Internationale von David North.
203. Nachdem das IKVI die historischen Wurzeln und den politischen Ursprung der Spaltung im Internationalen Komitee analysiert hatte, begann es mit einer systematischen Untersuchung der Veränderungen in der Weltwirtschaft, die die objektive Grundlage für die Entwicklung des Klassenkampfs und den Aufbau der Vierten Internationale bildeten. Auf dem vierten Plenum des Internationalen Komitees im Juli 1987 wurden folgende Fragen gestellt: 1) Was sind die neuen Tendenzen der globalen wirtschaftlichen und politischen Entwicklung, deren bewusster Ausdruck das Wachstum des Internationalen Komitees der Vierten Internationale ist? 2) Auf welcher objektiven Grundlage kann die Entwicklung einer neuen globalen revolutionären Krise erwartet werden?
204. Bei seiner Antwort auf diese Fragen legte das IKVI die hauptsächliche Betonung auf die "explosive Expansion der Aktivitäten transnationaler Konzerne". Es erklärte:
"Das Ergebnis sind eine beispiellose Integration des Weltmarkts und die Internationalisierung der Produktion. Die absolute und aktive Vorherrschaft der Weltwirtschaft über alle nationalen Wirtschaften, einschließlich der der Vereinigten Staaten, ist eine Grundtatsache des modernen Lebens. Der technologische Fortschritt, der mit der Erfindung und Perfektionierung der integrierten Schaltkreise zusammenhängt, hat zu revolutionären Veränderungen im Kommunikationswesen geführt, die wiederum den Prozess der weltweiten wirtschaftlichen Integration beschleunigt haben. Aber diese ökonomischen und technologischen Entwicklungen, weit entfernt, dem Kapitalismus neue Zukunftsaussichten zu eröffnen, haben den grundlegenden Widerspruch zwischen der Weltwirtschaft und dem kapitalistischen Nationalstaatensystem, zwischen der gesellschaftlichen Produktion und dem Privateigentum verschärft wie nie zuvor in der Geschichte."[117]
205. Das Internationale Komitee stellte außerdem fest: "Die Phänomene riesiger transnationaler Konzerne und der Internationalisierung der Produktion hängen untrennbar mit einem weiteren Faktor zusammen, der tiefe revolutionäre Bedeutung hat: dem Verlust der globalen Wirtschaftshegemonie der Vereinigten Staaten, sowohl im relativen als auch im absoluten Maßstab. Diese historische Veränderung der Weltposition des US-Imperialismus, die durch die Verwandlung der USA vom weltgrößten Gläubiger - zum größten Schuldnerland symbolisiert wird, ist die zugrunde liegende Ursache für den dramatischen Niedergang des Lebensstandards der Arbeiter und muss zu einer Periode revolutionärer Klassenkonfrontationen in den USA führen."[118]
206. Eine weitere Entwicklung, die den Zusammenbruch der Nachkriegsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg widerspiegelte, und auf die das IKVI aufmerksam machte, war die Verschärfung der Gegensätze zwischen den Imperialisten. Zur damaligen Zeit war die rasche wirtschaftliche Entwicklung Japans die unmittelbarste, wenn auch keineswegs die einzige Ursache dieser neuen Spannungen. Das IKVI wies drauf hin, dass Pläne zur Schaffung eines gemeinsamen europäischen Marktes verwirklicht wurden, der in der Lage wäre, sowohl das amerikanische als auch das japanische Kapital herauszufordern. Das IKVI maß außerdem der enormen Zunahme des Proletariats in Asien, Afrika und Lateinamerika revolutionäre Bedeutung zu - ein Ergebnis des Exports von Kapital in seiner Jagd nach hohen Profitraten.
207. Die Entwicklung der transnationalen Produktion und die globale Integration von Finanzwesen und Produktion unterhöhlte die Überlebensfähigkeit von sozialen und politischen Organisationen, die im nationalstaatlichen System verwurzelt waren. Wenngleich die globale Integration des Kapitalismus die objektiven Bedingungen für die Vereinigung der Arbeiterklasse schuf, so machte dieses revolutionäre Potential dennoch Organisationen und eine Führung erforderlich, die sich auf eine bewusste internationalistische Strategie gründen. Ohne eine solche Führung ist die Arbeiterklasse nicht in der Lage, sich gegen das global organisierte Kapital zu verteidigen. Das IKVI erklärt in seinem Perspektivdokument von 1988, Die kapitalistische Weltkrise und die Aufgaben der Vierten Internationale:
"Die massive Entwicklung transnationaler Konzerne und die sich daraus ergebende globale Integration der kapitalistischen Produktion haben dazu geführt, dass die Bedingungen, denen sich die Arbeiter der Welt gegenübersehen, einander gleichen wie nie zuvor. Der heftige Konkurrenzkampf nationaler Kapitalistengruppen um die Vorherrschaft auf dem Weltmarkt findet seinen brutalsten Ausdruck in dem allgemeinen Streben der herrschenden Klassen, die Ausbeutung der Arbeiterklasse im ‘eigenen’ Land zu verschärfen. Die Offensive des Kapitals gegen die Arbeiter äußert sich in einem Land nach dem anderen in Massenarbeitslosigkeit, Lohnkürzungen, der Zerschlagung von Gewerkschaften, der Kürzung von Sozialleistungen und verschärften Angriffen auf demokratische Rechte."[119]
208. Die Veränderungen in der Form der kapitalistischen Produktion brachten eine Veränderung der Form des Klassenkampfs mit sich:
"Es ist schon immer eine Grundaussage des Marxismus gewesen, dass der Klassenkampf nur der Form nach national, seinem Wesen nach aber international ist. Unter den gegebenen neuen Merkmalen der kapitalistischen Entwicklung muss jedoch auch die Form des Klassenkampfs einen internationalen Charakter annehmen. Selbst die elementarsten Kämpfe der Arbeiterklasse verlangen die Koordinierung ihrer Aktionen in internationalem Maßstab. Es ist eine Grundtatsache des Wirtschaftslebens, dass die transnationalen Konzerne zur Herstellung eines Endprodukts die Arbeitskraft von Arbeitern in verschiedenen Ländern ausbeuten, und dass sie auf der Suche nach der höchsten Profitrate die Produktion zwischen ihren Werken in verschiedenen Ländern und auf verschiedenen Kontinenten verteilen und verlagern....Durch die beispiellose internationale Mobilität des Kapitals sind so alle nationalen Programme für die Arbeiterbewegung der verschiedenen Länder hinfällig und durch und durch reaktionär geworden."[120]
Genau diese Entwicklung bildete die objektive Grundlage, von der das Wachstum des IKVI zwingend abhängig war. Dieser Standpunkt wurde in einem Bericht an den 13. Nationalen Kongress der Workers League im August 1988 entwickelt und herausgehoben:
"Wir gehen davon aus, dass sich das nächste Stadium der proletarischen Kämpfe unter dem gemeinsamen Druck der objektiven ökonomischen Tendenzen und des subjektiven Einflusses der Marxisten unvermeidlich in einer internationalistischen Richtung entwickeln wird. Das Proletariat wird mehr und mehr dahin tendieren, sich selbst in der Praxis als internationale Klasse zu definieren, und die marxistischen Internationalisten, deren Politik der Ausdruck dieser organischen Tendenz ist, werden diesen Prozess fördern und ihm eine bewusste Form geben."[121]
209. Das IKVI wies darauf hin, dass die neuen Formen der globalen Produktion die Gefahr eines neuen Weltkriegs nicht verringerten, sondern vielmehr verstärkten:
"Außerdem hat der globale Charakter der kapitalistischen Produktion die ökonomischen und politischen Gegensätze zwischen den wichtigsten imperialistischen Mächten enorm verschärft und erneut den unversöhnlichen Widerspruch zwischen der objektiven Entwicklung der Weltwirtschaft und der nationalstaatlichen Form, in der das ganze System des kapitalistischen Eigentums historisch wurzelt, in den Vordergrund gerückt. Gerade der internationale Charakter des Proletariats als einer Klasse, die an kein kapitalistisches ‘Vaterland’ gebunden ist, macht es zur einzigen gesellschaftlichen Kraft, die die Zivilisation aus den sie erwürgenden Fesseln des Nationalstaatensystems befreien kann.
Aus diesen fundamentalen Gründen kann kein Kampf gegen die herrschende Klasse in irgend einem Land der Arbeiterklasse bleibende Fortschritte bringen, geschweige denn ihre endgültige Befreiung vorbereiten, wenn er nicht von einer internationalen Strategie ausgeht, die die weltweite Mobilisierung des Proletariats gegen das kapitalistische System zum Ziel hat. Diese notwendige Vereinigung der Arbeiterklasse kann nur durch den Aufbau einer wirklich internationalen proletarischen, d. h. revolutionären Partei erreicht werden. Es gibt nur eine solche Partei; sie ist das Produkt eines jahrzehntelangen unablässigen ideologischen und politischen Kampfs. Es ist die Vierte Internationale, gegründet 1938 von Leo Trotzki und heute geführt vom Internationalen Komitee."[122]
Perestroika und Glasnost in der UdSSR
210. Der Kampf innerhalb des Internationalen Komitees von 1982 bis 1986 fand vor dem Hintergrund einer sich vertiefenden Krise in der Sowjetunion und seinen stalinistischen Regimes statt. Die Entwicklung dieser Krise war paradoxerweise eine Folge des gewaltigen Wachstums der sowjetischen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Expansion untergrub zusätzlich die Überlebensfähigkeit der national autarken Wirtschaftspolitik, die auf der stalinistischen Perspektive vom "Aufbau des Sozialismus in einem Land" basierte. Die zunehmende Komplexität der sowjetischen Wirtschaft forderte mit immer größerer Dringlichkeit den Zugang zur Weltwirtschaft und ihrer internationalen Arbeitsteilung. Die wachsenden wirtschaftlichen Probleme der Sowjetunion wurden durch die krasse Ineffizienz des bürokratisch verwalteten Systems verschärft, das dem Anspruch wissenschaftlicher Planung Hohn sprach - das erwies sich vor allem, als die Wachstumsraten der Weltwirtschaft immer stärker hinter dem allgemein sehr hohen Niveau der ersten zwei Jahrzehnte nach 1945 zurück blieben. Wie Trotzki 1936 betont hatte, setzt Qualität in einer Planwirtschaft "Demokratie für Erzeuger und Verbraucher, Kritik- und Initiativfreiheit voraus, d.h. Bedingungen, die mit einem totalitären Regime von Angst, Lüge und Kriecherei unvereinbar sind"[123]. Außerdem hatte Trotzki 1935 festgestellt: "Je komplizierter die Wirtschaftsaufgaben und je größer die Forderungen und Ansprüche der Bevölkerung werden, desto akuter werden auch die Widersprüche zwischen dem bürokratischen Regime und den Erfordernissen der sozialistischen Entwicklung..."[124] Der Widerspruch zwischen den politischen und sozialen Interessen der Bürokratie und den objektiven Anforderungen der wirtschaftlichen Entwicklung fand einen besonders grotesken Ausdruck in der krankhaften Furcht des Regimes vor der Computertechnologie. In einem Land, in dem die Einwohner gezwungen waren, alle Schreibmaschinen und Vervielfältigungsmaschinen zu registrieren, versetzten die politischen Folgen weit verbreiteter Computernutzung die stalinistische Obrigkeit in Angst und Schrecken.
211. Die Opposition gegen die stalinistischen Regimes in der Sowjetunion und Osteuropa wuchs während der 1960er und 1970er Jahre kontinuierlich an. Es gab Berichte über größere Streiks in der sowjetischen Industriestadt Novocherkassk, die von der Armee im Juni 1962 gewaltsam unterdrückt wurden. Die unerwartete Amtsenthebung Chrustschows im Oktober 1964, seine Ersetzung durch Leonid Breschnew und das scharfe Vorgehen gegen die nach 1953 erfolgte Entstalinisierungs-Kampagne waren ein verzweifelter Versuch, die Legitimität des Regimes aufrechtzuerhalten. Der Prozess und die Haftstrafen für die Schriftsteller Juli Daniel und Andrei Sinjawski, die darauf abzielten, die wachsende Dissidentenbewegung einzuschüchtern, führte dazu, dass das Regime diskreditiert wurde, genauso wie die folgende Verbannung von Alexander Solschenizyn. Der Regierungsantritt von Alexander Dubcek in der Tschechoslowakei im Januar 1968, der so genannte "Prager Frühling", versetzte die Bürokratie weiter in Schrecken. Die nachfolgende Invasion der Tschechoslowakei im August 1968 und die Amtsenthebung Dubceks vertiefte die Entfremdung beträchtlicher Teile der Arbeiterklasse und der Intelligenz in der Sowjetunion und Osteuropa, die an die Möglichkeit von demokratischen und sozialistischen Reformen geglaubt hatten. 1970 wurde die Regierung Gomulka in Polen durch Massenstreiks zu Fall gebracht. Gomulka selber war inmitten von Massenprotesten 1956 an die Macht gekommen. Angesichts dieser Herausforderungen versuchte Breschnew, eine stalinistische Orthodoxie durchzusetzen, die seinem Regime einen zutiefst sklerotischen Charakter verlieh. Bezeichnenderweise entwickelte sich in dieser Periode auch die "Entspannung" zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten - ein Prozess, der in den späten 1970er Jahren ein Ende fand, als die Carter-Regierung zu einer Konfrontationspolitik wechselte, die von der Reagan-Regierung weiterentwickelt wurde.
212. Als Breschnew im November 1982 starb, konnte das Regime die Zeichen einer schwerwiegenden Wirtschaftskrise und einer allgemeinen sozialen Stagnation nicht länger verbergen. Beträchtliche Teile der Sowjetbürokratie sahen die Entstehung der Massenbewegung Solidarnosc in Polen im Jahr 1980 als Warnung vor einer revolutionären Explosion auch in der UdSSR. Breschnews Nachfolger, der KGB-Direktor Juri Andropow, versuchte, diverse Anti-Korruptions-Reformen durchzusetzen, um die Glaubwürdigkeit des Regimes wiederherzustellen. Er setzte auch ein scharfes Vorgehen gegen Alkoholismus durch, in der Hoffnung damit die Produktivität der sowjetischen Industrie steigern zu können. Doch diese Maßnahmen waren reine Beruhigungspillen. Das grundlegende Problem blieb der national abgeschlossene Charakter der sowjetischen Wirtschaft. Jedenfalls starb Andropow, der schon ernsthaft erkrankt war, als er an die Macht kam, im Februar 1984 an einer Nierenerkrankung, nur fünfzehn Monate nach seinem Amtsantritt. Sein Nachfolger Konstantin Tschernenko war ebenfalls ein unheilbar kranker Sowjetbürokrat. Er war nur dreizehn Monate im Amt. Auf Tschernenko folgte Michail Gorbatschow, dessen krisengeschütteltes Regime mit der Auflösung der UdSSR endete.
213. Gorbatschow initiierte eine zweigleisige Politik der begrenzten Ausweitung der Freiheiten im Inland (Glasnost) und der Wirtschaftsreformen (Perestroika). Das zentrale Bestreben des Teils der Bürokratie, die Gorbatschow anführte, bestand darin, die Massenopposition in der sowjetischen Bevölkerung in eine Politik zu kanalisieren, die den Kapitalismus wiederherstellen würde. Gorbatschow baute auf die Desorientierung der Arbeiter durch Jahrzehnte stalinistischer Herrschaft. Er rechnete zudem mit der politischen Unterstützung durch die kleinbürgerlich-radikale Linke. Dies war das einzige politische Kalkül, bei dem Gorbatschow ein bemerkenswertes Maß an Scharfsinn bewies. Nirgendwo sonst fand das Phänomen, das die bürgerliche Presse "Gorbimanie" taufte, einen solch hemmungslosen Ausdruck wie im Milieu des linken Kleinbürgertums. Ernest Mandel, der in Gorbatschow die Erfüllung der pablistischen Perspektive der bürokratischen Selbstreform sah, erklärte ihn zu einem "bemerkenswerten politischen Führer", einer sowjetischen Version von Franklin Delano Roosevelt.[125] Durch eine rosarote Brille in die Zukunft blickend, entwarf Mandel vier mögliche Szenarien der sowjetischen Entwicklung. Nicht eine davon enthielt die Möglichkeit einer Auflösung der UdSSR - ein außergewöhnliches Versehen für einen Autor, der gerade mal zwei Jahre vor ihrem endgültigen Zusammenbruch schrieb! Mandels Schüler, Tariq Ali, der Führer der pablistischen Organisation in Großbritannien, konnte seine Begeisterung für die Perestroika und ihre Autoren kaum im Zaum halten. Er widmete sein Buch Revolution von oben: Wohin geht die Sowjetunion?, das 1988 erschien, Boris Jelzin. Seine bewegende Hommage verkündete, dass Jelzins "politischer Mut ihn zu einem wichtigen Symbol überall im Land" gemacht habe.[126] Ali beschreibt seine Reisen in die Sowjetunion und teilt seinen Lesern mit: "ich habe mich wirklich zu Hause gefühlt."[127] Die Politik von Gorbatschow habe die revolutionäre Verwandlung der russischen Gesellschaft von oben eingeleitet, beteuert Ali. Da gebe es jene, bemerkt er zynisch, die "es vorgezogen hätten (ich auch!), wenn die Veränderungen in der Sowjetunion durch eine gigantische Bewegung der sowjetischen Arbeiterklasse zustande gekommen wären und die alten Organe der politischen Macht - die Sowjets - mit neuem Blut wiederbelebt hätten. Das wäre sehr schön gewesen, aber so ist es nicht gelaufen."[128] Ali bietet dann eine knappe Zusammenfassung der pablistischen Perspektive, die gleichermaßen politischen Impressionismus mit Naivität und persönlicher Dummheit vereint:
"In der Schrift Die Revolution von oben wird argumentiert, dass Gorbatschow eine progressive, reformistische Strömung innerhalb der sowjetischen Elite repräsentiere, deren Programm, wenn es erfolgreich wäre, eine gewaltige Bereicherung für Sozialisten und Demokraten im Weltmaßstab darstellen würde. Demnach sei die Größenordnung von Gorbatschows Taten tatsächlich vergleichbar mit den Leistungen eines amerikanischen Präsidenten des neunzehnten Jahrhunderts: Abraham Lincoln."[129]
214. Die Ex-Trotzkisten der Workers Revolutionary Party beurteilten Gorbatschows Regierung nicht weniger unkritisch. Healy erklärte, Gorbatschow sei der Führer der politischen Revolution in der Sowjetunion. Für Banda bedeutete der Amtsantritt von Gorbatschow die endgültige Widerlegung des Trotzkismus. "Gäbe es keine Restauration", so erklärte er, "dann müsste Trotzki sie erfinden! Die gesamte sowjetische Geschichte - während und nach Stalin - legt Zeugnis ab gegen diese kindische linke Spekulation und weist in die entgegengesetzte Richtung".[130]
215. Im Gegensatz zu diesen Auffassungen erklärte das IKVI bereits 1986 den grundlegend reaktionären Charakter von Gorbatschows Wirtschaftspolitik. In seinem Perspektivdokument von 1988 schrieb es:
"Durch den Versuch seiner reaktionären Perestroika gibt Gorbatschow indirekt den Zusammenbruch der gesamten ökonomischen Prämissen zu, auf denen der Stalinismus beruhte, nämlich dass der Sozialismus in einem einzigen Land aufgebaut werden könne. Die sehr reale Krise der Sowjetwirtschaft wurzelt in ihrer erzwungenen Isolation von den Quellen des Weltmarkts und der internationalen Arbeitsteilung. Es gibt nur zwei Wege, diese Krise anzupacken. Der Weg, den Gorbatschow vorschlägt, bedeutet die Auflösung der staatlichen Industrie, das Widerrufen des Planungsprinzips und die Verwerfung des staatlichen Außenhandelsmonopols, d.h. die Reintegration der Sowjetunion in die Struktur des Weltimperialismus. Die Alternative zu dieser reaktionären Lösung erfordert die Zerschlagung der Vorherrschaft des Imperialismus über die Weltwirtschaft durch eine gemeinsame revolutionäre Offensive der sowjetischen und der internationalen Arbeiterklasse mit dem Ziel, die Planwirtschaft auf die europäischen, nordamerikanischen und asiatischen Zitadellen des Kapitalismus auszudehnen."[131]
216. Die Glasnost-Reformen und die Lockerung der Beschränkungen bei der Zensur öffneten der Diskussion über politische und historische Fragen in der Sowjetunion Tür und Tor. Die Bürokratie "rehabilitierte" rückwirkend viele der alten Bolschewiki, darunter Bucharin, Sinowjew und Kamenjew und war gezwungen zuzugeben, dass die Moskauer Prozesse auf Lügen beruhten. Die Bürokratie konnte jedoch niemals Trotzki rehabilitieren, da seine Kritik die sozialen Interessen der Bürokratie als Ganze angriff. Wenn diese Ideen ein breites Gehör in der sowjetischen Arbeiterklasse finden sollten, dann würde das ernsthaft die Pläne zur kapitalistischen Restauration gefährden. 1987 beharrte Gorbatschow darauf, dass Trotzkis Ideen "auf ganzer Linie einen Angriff auf den Leninismus" darstellen.
217. Das IKVI bemühte sich, der sowjetischen Bevölkerung die Perspektive des Trotzkismus nahe zu bringen, indem es eine theoretische Zeitschrift auf Russisch herausgab und von 1989 bis 1991 mehrere Reisen in die Sowjetunion organisierte. Seine Arbeit konzentrierte sich darauf, Trotzkis Platz in der Oktoberrevolution, die Ursprünge und die Bedeutung von Trotzkis Kampf gegen den Stalinismus, das politische Programm der Vierten Internationale und das Wesen der Krise, mit der die Sowjetunion konfrontiert war, klarzustellen. Das IKVI wies wiederholt warnend darauf hin, dass die Liquidierung der UdSSR und die Wiederherstellung des Kapitalismus katastrophale Folgen für die sowjetische Arbeiterklasse haben würden. Bei einer Rede in Kiew im Oktober 1991 erklärte David North:
"In diesem Land kann die kapitalistische Restauration nur stattfinden, wenn die bereits herrschenden Produktivkräfte und die davon abhängenden gesellschaftlichen Einrichtungen auf breiter Grundlage zerstört werden. Mit anderen Worten, die Integration der UdSSR in die Struktur der imperialistischen Weltwirtschaft bedeutet nicht die langsame Aufwärtsentwicklung einer rückständigen, nationalen Wirtschaft, sondern die schnelle Zerstörung einer Wirtschaft, die zumindest für die Arbeiterklasse Lebensbedingungen geschaffen hat, die denen in den fortgeschrittenen Ländern weit ähnlicher sind als jenen in der Dritten Welt.
Wenn man die verschiedenen Pläne untersucht, die von den Befürwortern der kapitalistischen Restauration ausgeheckt worden sind, so muss man zu der Schlussfolgerung kommen, dass sie über die tatsächliche Wirkungsweise der kapitalistischen Weltwirtschaft genau so wenig wissen wie Stalin. Und sie bereiten eine soziale Tragödie vor, weit schlimmer als jene, die durch die pragmatische und nationalistische Politik Stalins geschaffen wurde.
Dies ist keine theoretische Voraussage; die Zukunft, die der Sowjetunion droht, ist in einem großen Teil Osteuropas schon Gegenwart. In allen Ländern, in denen der Kapitalismus gerade restauriert wird oder schon wieder besteht, ist ein katastrophaler Zusammenbruch der Wirtschaft die Folge."[132]
Diese Warnung wurde durch den tatsächlichen Lauf der Ereignisse nach der Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 voll und ganz bestätigt.
Das Ende der UdSSR
218. Die formelle Auflösung der Sowjetunion am 25. Dezember 1991, 74 Jahre nach der Oktoberrevolution, stellte das Internationale Komitee vor entscheidende theoretische, historische und politische Fragen. Die Ursprünge, der gesellschaftliche Charakter und das politische Schicksal des Staates, der aus der Oktoberrevolution hervorgegangen war, beschäftigte die Vierte Internationale seit ihrer Gründung in besonderem Maße. In zahllosen Kämpfen innerhalb der trotzkistischen Bewegung seit den 1930er Jahren stand die "russische Frage" im Zentrum heftiger Auseinandersetzungen, oft verbunden mit erbitterten fraktionellen Meinungsverschiedenheiten. Die Frage nach dem Charakter der Sowjetunion stand 1940 und 1953 im Zentrum der Spaltungen in der Vierten Internationale. Unmittelbar nach der Spaltung von 1985-86 tauchte die Frage der Klassengrundlage der Staaten, die in Osteuropa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs errichtet wurden, erneut als eine entscheidende historische und gegenwärtige Frage für das Internationale Komitee auf. In der einen oder anderen Form schrieben alle revisionistischen Tendenzen dem Stalinismus eine zentrale und dauerhafte historische Rolle zu. 1953 prophezeiten Pablo und Mandel, der Sozialismus werde durch Revolutionen verwirklicht, die von den Stalinisten angeführt werden, was zur Bildung von deformierten Arbeiterstaaten führe, die Jahrhunderte lang Bestand hätten. Im Jahr 1983, am Vorabend des Ausbruchs der politischen Krise in der WRP, erklärte Banda gegenüber North, das Überleben der Sowjetunion sei eine "feststehende Tatsache", und es sei unmöglich, dass sie, womit Trotzki gerechnet hatte, aufhören würde zu existieren. Weniger als ein Jahrzehnt nach Bandas Erklärung waren die stalinistischen Regimes in Osteuropa und der UdSSR Vergangenheit.
219. In den Monaten nach der Auflösung der UdSSR war keine der revisionistischen Organisationen in der Lage, eine glaubhafte Einschätzung der Bedeutung dieses Ereignisses zu geben. Viele der pablistischen Tendenzen ignorierten sie, als ob nichts geschehen wäre. Nachdem sie so innig an die politische Allmacht der Bürokratie geglaubt hatten, konnten sie sich kaum dazu aufraffen, anzuerkennen, dass die UdSSR nicht mehr existierte. Überdies argumentierten selbst diejenigen, die bereit waren zuzugestehen, dass die UdSSR aufgelöst worden war, immer noch, dies würde nicht notwendigerweise den Klassencharakter des Staates ändern. Selbst ohne die Sowjetunion bleibe Russland ein "Arbeiterstaat"! Dies blieb für mehrere Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion die Position der Spartacist-Gruppe von Robertson und eines der Bruchstücke der Workers Revolutionary Party.
220. Das Internationale Komitee, das theoretisch und politisch von den Illusionen unbelastet war, die die pablistischen Tendenzen kennzeichnete, war in der Lage, zeitnah eine objektive und exakte Analyse der Auflösung der UdSSR zu geben. Am 4. Januar 1992 wurde die folgende Einschätzung getroffen:
"Nach den Ereignissen des letzten Monats, die den Höhepunkt der Politik der Bürokratie seit Gorbatschows Machtantritt im März 1985 darstellen, müssen die notwendigen Schlussfolgerungen aus der juristischen Auflösung der UdSSR gezogen werden. Man kann weder die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten als Ganze noch eine ihrer Republiken als Arbeiterstaaten bezeichnen.
Der Prozess der quantitativen Degeneration der Sowjetunion hat zu einer qualitativen Umwandlung geführt. Die Auflösung der UdSSR und die Bildung der GUS ist mehr als eine neue Abkürzung des Staatsnamens. Sie hat eine ganz bestimmte politische und gesellschaftliche Bedeutung. Sie ist die rechtliche Liquidation des Arbeiterstaats und seine Ersetzung durch Regimes, die sich offen und unzweideutig der Zerstörung der Überbleibsel der staatlichen Wirtschaft und des Planungssystems aus der Oktoberrevolution verschrieben haben. Die GUS oder ihre einzelnen Republiken als Arbeiterstaaten zu definieren, hieße, die Definition völlig von dem konkreten Inhalt zu trennen, den er in der vorigen historischen Periode zum Ausdruck brachte."[133]
221. Die Rolle, die die bürokratische Schicht in der UdSSR spielte, hatte weit reichende politische Bedeutung:
"Was in der ehemaligen Sowjetunion stattgefunden hat ist Ausdruck eines internationalen Phänomens. Überall auf der Welt ist die Arbeiterklasse mit der Tatsache konfrontiert, dass die Gewerkschaften, Parteien und sogar Staaten, die sie in einer früheren Periode geschaffen hat, in direkte Instrumente des Imperialismus verwandelt worden sind.
Vorbei sind die Tage, in denen die Bürokratien den Klassenkampf ‘vermittelten’ und die Rolle eines Puffers zwischen den Klassen spielten. Obwohl die Bürokratien die historischen Interessen der Arbeiterklasse verrieten, dienten sie in beschränktem Maße immer noch ihren praktischen Tagesbedürfnissen und ‘rechtfertigten’ in soweit ihre Existenz als Führer von Arbeiterorganisationen.
Das gilt nicht nur für die stalinistische Bürokratie in der UdSSR, sondern auch für die amerikanische Bürokratie in den Gewerkschaften. Auf unserem letzten Kongress haben wir diese Tatsache betont und wir können mit voller Berechtigung feststellen, dass die Führer der gegenwärtigen Gewerkschaften in keinem Sinne als eine Kraft bezeichnet werden können, die, wenn auch nur in beschränkter und verzerrter Weise, die Interessen der Arbeiterklasse verteidigen und vertreten würde. Die Führer der AFL-CIO als ‘Gewerkschaftsführer’ oder überhaupt den AFL-CIO als Arbeiterorganisation zu definieren, bedeutet, der Arbeiterklasse den Blick auf die Realitäten zu verstellen."[134]
Der Kampf gegen die postsowjetische Schule der historischen Fälschung
222. Die Auflösung der UdSSR führte bei der Bourgeoisie und ihren ideologischen Verteidigern zu einem Ausbruch von euphorischem Triumphgeheul. Der sozialistische Untergang war ein für alle Mal besiegelt! Die bürgerliche Interpretation des Untergangs der Sowjetunion fand ihren klarsten Ausdruck in Francis Fukuyamas Das Ende der Geschichte. Fukuyama benutzte eine verkürzte Version von Hegels idealistischer Phänomenologie und verkündete, der beschwerliche Gang der Geschichte habe sein letztes Stadium erreicht: eine liberal-bürgerliche Demokratie nach dem Vorbild der USA, die sich auf den freien kapitalistischen Markt stützt. Dies war der Gipfel der menschlichen Zivilisation! Dieses Thema wurde von leichtgläubigen und impressionistischen kleinbürgerlichen Akademikern in zahllosen Variationen vertieft - Akademiker, die immer begierig darauf sind, sich jedes Mal dort einzufinden, wo sie glauben, dass es die Gewinnerseite der Geschichte ist. Die Schlussfolgerung, die man aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion ziehen musste, war, dass der Sozialismus eine Illusion sei: "Zusammenfassend lässt sich also sagen, der Sozialismus ist eine Utopie im wörtlichen Sinn des Begriffs - ’kein Ort’ oder nirgends’, verstanden als das ideale Andere’."[135]
Das Triumphgeheul der Bourgeoisie wurde besonders von jenen auf der Linken nicht in Frage gestellt, die fast bis zum letzten Augenblick des endgültigen Zusammenbruchs die stalinistische Bürokratie als Garanten des Sozialismus angesehen hatten. Tatsächlich waren sie nicht weniger als Fukuyama und Malia davon überzeugt, dass das Ende der UdSSR das Scheitern des Sozialismus bedeutete. In vielen Fällen rührte die demoralisierte Zurückweisung des Sozialismus als legitimes historisches Projekt daher, dass sie nicht bereit waren, ihre vorherigen Prämissen und Perspektiven zu untersuchen. Nicht wenige von denen, die bestrebt waren, den Marxismus fallen zu lassen und zu verfluchen, verspürten keinen Drang, sich den politischen Fragen zu stellen, die hinter dem Zusammenbruch der UdSSR standen: wie z.B. die Frage, ob die Geschichte der Sowjetunion und des zwanzigsten Jahrhunderts sich in eine ganz andere Richtung entwickelt hätte, wenn das politische Programm Trotzkis in den entscheidenden innerparteilichen Kämpfen der 1920er Jahre die Oberhand gewonnen hätte.
223. Der englische Historiker Eric Hobsbawm, ein langjähriges Mitglied der Kommunistischen Partei, erklärt ausdrücklich, einem Historiker zieme es nicht, zu überlegen, ob auch eine andere Entwicklung als die tatsächlich Stattgefundene möglich gewesen wäre. "Der Russischen Revolution war es beschieden, den Sozialismus in einem rückständigen und alsbald völlig zerrütteten Land aufzubauen..."[136] Das revolutionäre Projekt selbst habe auf einer völlig unrealistischen Einschätzung der politischen Möglichkeiten basiert. Hobsbawm behauptet, es sei unsinnig, einen anderen Ausgang der russischen Revolution auch nur in Erwägung zu ziehen: "Die Geschichte muss von dem ausgehen, was sich tatsächlich ereignet hat. Alles andere ist Spekulation."[137]
224. In seiner Antwort auf Hobsbawms herablassende Ablehnung jeglicher Berücksichtigung von historischen Alternativen zum Stalinismus erklärt North:
"Diese Auffassung ist reichlich hausbacken, denn das, ‘was geschah’ - wenn man darunter nur die Zeitungsmeldungen des Tages versteht - ist mit Sicherheit nur ein kleiner Teil des historischen Prozesses. Die Geschichtsschreibung muss sich immerhin nicht einfach mit dem befassen, ‘was geschah’, sondern auch - und dies ist weitaus wichtiger - weshalb das eine geschah und das andere nicht, und was hätte geschehen können. Sobald man über ein Ereignis nachdenkt - d.h. darüber, ‘was geschah’ - sieht man sich sofort gezwungen, auch die Vorgeschichte und die Umstände einzubeziehen. Ja, die Sowjetunion machte sich 1924 die Politik des ‘Sozialismus in einem Land’ zu eigen. Das ‘geschah’. Aber die Opposition zum ‘Sozialismus in einem Land’ ‘geschah’ auch. Es ‘geschah’ weiter der Konflikt zwischen der stalinistischen Bürokratie und der Linken Opposition, über den Hobsbawm keine Silbe verliert. Insofern Hobsbawm die Kräfte der Opposition, die der Politik der Sowjetunion eine andere Richtung geben wollten, bewusst ausklammert oder als bedeutungslos abtut, besteht seine Definition dessen, ‘was geschah’, aus einer einseitigen, eindimensionalen, pragmatischen und vulgären Verflachung der äußerst komplexen historischen Wirklichkeit. Von dem auszugehen, ‘was geschah’, bedeutet für Hobsbawm, dabei stehenzubleiben, ‘wer obsiegte’."[138]
225. Die fatalistische Apologetik von Hobsbawm war ein verfeinerter und ausgefeilter Ausdruck einer gewaltigen Kampagne historischer Fälschungen, die dem Zusammenbruch der UdSSR folgte. Eine wichtige Rolle in dieser Kampagne spielten die Ex-Stalinisten aus der ehemaligen Sowjetunion, die sich fast über Nacht in die erbittertsten Antikommunisten verwandelten. Sie verkündeten unermüdlich, die russische Revolution sei eine kriminelle Verschwörung gegen das russische Volk gewesen. General Dmitri Wolkogonow war nur der bekannteste unter ihnen. In seiner Lenin-Biografie räumt Wolkogonow ein - und gibt damit vielleicht mehr zu, als er beabsichtigt hatte - dass die Änderung in seinem Verhalten zu Lenin "sich vor allem deshalb" entwickelt hat, "weil die 'Sache', die er in Gang gesetzt hat und für die Millionen ihr Leben ließen, eine bedeutende historische Niederlage erlitten hat".[139] Zu den "Verbrechen", deren Wolkogonow Lenin anklagt, gehört die Auflösung der Verfassungsgebenden Versammlung im Januar 1918, ein Ereignis, bei dem nicht ein Mensch verletzt wurde. Aber das hielt Wolkogonow nicht davon ab, in seiner Eigenschaft als Boris Jelzins Militärberater den Panzerbeschuss des russischen Weißen Hauses, dem Sitz des demokratisch gewählten russischen Parlaments, im Oktober 1993 anzuführen. Laut Schätzungen wurden dabei 2000 Menschen getötet.
226. Auf seinem Plenum im März 1992 diskutierte das Internationale Komitee die Beziehung zwischen der Entwicklung der Krise des Kapitalismus und dem Klassenkampf als objektivem Prozess und der Entwicklung von sozialistischem Bewusstsein:
"Die Verschärfung des Klassenkampfs liefert die allgemeine Grundlage für die revolutionäre Bewegung. Aber sie schafft an sich nicht direkt und automatisch die politischen, intellektuellen und, könnte man hinzufügen, kulturellen Voraussetzungen für ihre Entwicklung, die insgesamt die historische Bühne für eine wirklich revolutionäre Situation vorbereiten. Nur wenn man diesen Unterschied zwischen der allgemeinen objektiven Grundlage der revolutionären Bewegung und dem komplexen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Prozess versteht, durch den sie zu einer bestimmenden historischen Kraft wird, kann man die Bedeutung unseres Kampfes gegen den Stalinismus und die Aufgaben, vor denen wir heute stehen, begreifen."[140]
227. Die Wiederbelebung der sozialistischen Kultur in der internationalen Arbeiterklasse machte einen systematischen Kampf gegen die Geschichtsfälscher notwendig. Es war notwendig, die Arbeiterklasse mit der tatsächlichen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts bekannt zu machen, ihre Kämpfe erneut mit den großen Traditionen des revolutionären Sozialismus zu verbinden, einschließlich der russischen Revolution. Nach dem März-Plenum von 1992 startete das IKVI eine Kampagne zur Verteidigung der historischen Wahrheit, um die Behauptungen der postsowjetischen Schule historischer Fälschungen zu widerlegen. Von 1993 an begann das IK eine enge Zusammenarbeit mit Wadim Rogowin, einem führenden sowjetischen marxistischen Soziologen und Historiker. Unter Bedingungen, unter denen große Teile der sowjetischen Akademikerwelt sich scharf nach rechts bewegten und die kapitalistische Restauration unterstützten, hatte Rogowin begonnen, Trotzki und die Linke Opposition zu rehabilitieren. 1993, als er gerade ein Buch mit dem Titel Gab es eine Alternative? fertig gestellt hatte, welches die Entstehung der Linken Opposition untersuchte, kam Rogowin zum ersten Mal mit Vertretern des Internationalen Komitees zusammen. Er hatte zuvor schon seit mehreren Jahren das russischsprachige Bulletin der Vierten Internationale des IKVI gelesen. Er begrüßte mit Begeisterung den Vorschlag, eine internationale Kampagne gegen die postsowjetische Schule der historischen Fälschung zu führen. Mit Unterstützung des Internationalen Komitees stellte Rogowin, der bereits schwer an Krebs erkrankt war, vor seinem Tod im September 1998 sechs weitere Bände von Gab es eine Alternative? fertig.
228. Auf der Grundlage seiner Analyse auf dem März-Plenum von 1992 über die Probleme, mit der die Entwicklung von sozialistischem Bewusstsein in der Arbeiterklasse konfrontiert ist, weitete das Internationale Komitee seine Arbeit an kulturellen Fragen aus. Dabei versuchte es, die intellektuellen Traditionen der Linken Opposition wiederzubeleben, die diesen eine enorme Bedeutung beigemessen hatte. Diese Anschauung fand ihren vollendeten Ausdruck in Werken wie Leo Trotzkis Probleme des Alltagslebens und Literatur und Revolution und in Alexander Woronskis Die Kunst, die Welt zu sehen. Im Rahmen und auf Grundlage dieser Tradition erkannte das Internationale Komitee, dass die Entwicklung von revolutionärem Bewusstsein nicht in einem intellektuellen Vakuum vonstatten geht und dass sie kulturelle Nahrung braucht. Die marxistische Bewegung muss eine wichtige Rolle dabei spielen, ein fortschrittlicheres, intellektuell kritischeres und sozial empfindsameres Umfeld zu schaffen. In einem Vortrag im Januar 1998 erklärte David Walsh:
"Die Marxisten stehen vor der großen Herausforderung, ein Publikum zu schaffen, das ihr politisches Programm und ihre Perspektiven versteht und darauf reagiert. Unter den heutigen Bedingungen die Notwendigkeit einer Bereicherung des Bewusstseins der Volksmassen herabzumindern - das erscheint mir äußerst verantwortungslos.
Wie kommt es zu einer Revolution? Ist sie lediglich das Ergebnis sozialistischer Agitation und Propaganda, die unter günstigen objektiven Umständen zum Tragen kommt? Kam es so zur Oktoberrevolution? Über diesem Problem hat unsere Partei in den letzten Jahren viel Zeit verbracht. Eine unserer Schlussfolgerungen lautete, dass die Revolution von 1917 nicht einfach das Ergebnis eines nationalen oder auch internationalen politischen und gesellschaftlichen Prozesses war, sondern auch das Ergebnis jahrzehntelanger Bemühungen um die Schaffung einer internationalen sozialistischen Kultur, die die wichtigsten Leistungen des bürgerlichen politischen und gesellschaftlichen Denkens, der bürgerlichen Kunst und Wissenschaft in sich aufnahm und verarbeitete. Die wesentlichen geistigen Grundlagen für die Revolution von 1917 wurden natürlich von jenen politischen Theoretikern und Revolutionären gelegt, die sich bewusst die Abschaffung der kapitalistischen Herrschaft zum Ziel gesetzt hatten. Aber die zahllosen Strömungen und Nebenflüsse, die in die revolutionäre Sturmflut eingingen und sie ermöglichten, bilden ein komplexes Geflecht wechselseitiger Einflüsse, die sich gegenseitig verändern, einander entgegenwirken oder verstärken.
Die Schaffung eines Umfelds, in dem es plötzlich möglich wird, dass eine große Anzahl Menschen sich erheben und bewusst an die Abschaffung der alten Gesellschaft schreiten, indem sie die über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte angehäuften Vorurteile, Gewohnheiten und erlernten Verhaltensweisen abschütteln, die ja immer ein scheinbar unerschütterliches, festgefahrenes Eigenleben annehmen - die Überwindung dieser historischen Trägheit und die Schaffung eines aufrührerischen Klimas kann unmöglich als nur politische Aufgabe aufgefasst werden.
Wir wissen, dass der ganzheitliche sozialistische Mensch erst in der Zukunft - der nicht allzufernen, wie wir meinen - geschaffen werden kann. Aber das heißt nicht, dass sich die Herzen und das Denken der Bevölkerungsmassen nicht ändern müssten, bevor die soziale Revolution Wirklichkeit werden kann. Wir leben in einem Zeitalter der kulturellen Stagnation und des kulturellen Niedergangs, in dem die Wunder der Technik vor allem eingesetzt werden, um die Masse der Bevölkerung zu benebeln und zu betäuben und sie für die rückständigsten Auffassungen und Stimmungen empfänglich zu machen.
Die Schärfung des kritischen Verstandes der Bevölkerung - ihrer kollektiven Fähigkeit, die Lüge von der Wahrheit, das Wesentliche vom Unwesentlichen, ihre eigenen elementaren Interessen von den Interessen ihrer Todfeinde zu unterscheiden - und die Hebung ihres geistigen Niveaus auf eine solche Ebene, dass viele Menschen Großmut und Opferbereitschaft für ihre Mitmenschen zeigen - all dies geht aus einer geistigen und moralischen Höherentwicklung hervor, die sich aus dem Fortschritt der menschlichen Kultur als Ganzer ergeben muss."[141]
Wird fortgesetzt
Anmerkungen
117 Die kapitalistische Weltkrise und die Aufgaben der Vierten Internationale: Perspektiven des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, Arbeiterpresse Verlag, Essen 1988, S.23
118 Ebenda
119 Ebenda, S. 7
120 Ebenda
121 David North, Bericht vom Dreizehnten Kongress der Workers League, in Vierte Internationale, Juli bis Dezember 1988, Jahrgang 15, Nr. 3-4, S. 42
122 Die kapitalistische Weltkrise und die Aufgaben der Vierten Internationale: Perspektiven des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, Arbeiterpresse Verlag, Essen 1988, S. 7
123 Leo Trotzki, Verratene Revolution, Arbeiterpresse Verlag, Essen 1990, S. 277
124 Trotzki Schriften, Bd. 1.1 Sowjetgesellschaft 1929-36, "Arbeiterstaat, Thermidor und Bonapartismus", Rasch und Röhring, Hamburg 1988, S. 588
125 Beyond Perestroika: The Future of Gorbachev's USSR, Verso, London 1989, p. xi (Aus dem Englischen)
126 Tariq Ali, Revolution from above, Hutchinson, London 1988, p. vi (Aus dem Englischen)
127 Ebenda, p. xi
128 Ebenda, p. xii
129 Ebenda, p. xiii
130 zitiert nach: David North, Das Erbe, das wir verteidigen, Arbeiterpresse Verlag, Essen 1988, S. 484
131 Die kapitalistische Weltkrise und die Aufgaben der Vierten Internationale: Perspektiven des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, Arbeiterpresse Verlag, Essen 1988, S. 16
132 David North, Nach dem August-Putsch: Die Sowjetunion am Scheidewege, in: Vierte Internationale, Jg. 19, Nr. 1, Herbst 1992, S. 114
133 David North, Das Ende der UdSSR, Arbeiterpresse Verlag, Essen 1992, S. 9
134 Ebenda, S. 25f
135 Martin Malia, Vollstreckter Wahn: Russland 1917 - 1991, Stuttgart 1994, S. 38
136 Eric Hobsbawm, Können wir die Geschichte der Russischen Revolution schreiben? in: Wieviel Geschichte braucht die Zukunft, Hanser,München 1998, S. 311
137 Ebenda, S. 313
138 Marxismus und Grundprobleme des 20. Jahrhunderts. David North zur historischen Bedeutung Leo Trotzkis, in: gleichheit, Nr. 3, März 1998, S. 37
139 Dmitri Wolkogonow: Lenin, Düsseldorf, 1994
140 David North, Der Kampf für den Marxismus und die Aufgaben der Vierten Internationale, in : Vierte Internationale, Jg. 19, Nr. 1, Herbst 1992, S. 78-79
141 David Walsh, Die ästhetische Komponente des Sozialismus, in: gleichheit., Mai-Juni 1998 / Nr. 5/6, S.48