Blutige Kämpfe erschüttern Pakistans Grenzregionen. In den Zentral Verwalteten Stammesgebieten (Federally Administered Tribal Agencies, FATA) und der Nordwestlichen Grenzprovinz (North West Frontier Province, NWFP) liefern sich Regierungstruppen und islamistische und paschtunische Stammesmilizen die heftigsten Gefechte seit zwei Jahren. Vergangene Woche wurde erbittert um Bajaur gekämpft, die nördlichste Stammesverwaltung, die an die afghanische Provinz Konar angrenzt. Auf beiden Seiten wurden Dutzende von Kämpfern getötet und Zehntausende Zivilisten gezwungen, ihre Häuser zu verlassen.
Der Provinzchef der FATA, Habibullah Khan, sagte zu Agence France Press : "Bisher haben an die 135.000 Menschen ihre Häuser [in Bajaur] verlassen. Wir haben Beamte in angrenzenden Distrikten angewiesen, für Unterkunft, Nahrung und medizinische Versorgung für die geflüchteten Familien zu sorgen. Wir bauen neue Lager auf, um diesen Leuten wie Flüchtlingen zu helfen."
Die pakistanische Militäroffensive in Bajaur und das gewaltige menschliche Leid, das sie verursacht, sind eine direkte Folge des Drucks der USA auf die neue Zivilregierung von Premierminister Yousuf Rusa Gilani, die nach den Wahlen im Februar die Macht übernahm. Mit zunehmender Schärfe verlangen die Bush-Regierung und amerikanische Militärkommandeure von Gilani eine umfassende Offensive, um zu verhindern, dass afghanische Guerilla-Kämpfer die FATA als Basis für ihren Krieg gegen die US- und NATO-Streitkräfte in Afghanistan nutzen.
Die Verwaltung des Distrikts Bajaur steht faktisch unter Kontrolle von Kämpfern zweier pakistanischer Lokalfürsten. Maulvi Omar und Faqir Mohammad sind die lokalen Repräsentanten der pakistanischen Tehrik-e-Taliban-Bewegung. Man geht davon aus, dass Bajaur ein wichtiger Stützpunkt des afghanischen Kriegsherrn Gulbuddin Hekmatyar und seiner Hezb-e-Islami-Bewegung darstellt. Hekmatyar bekämpft mit Anhängern des ehemaligen Taliban-Regimes die US-geführte Besatzung seines Landes. Vermutlich verstecken sich auch Mitglieder von al-Qaida im unzugänglichen Gelände dieser Region.
Am 13. Juli überquerten mehrere hundert Kämpfer aus Bajaur die Grenze nach Afghanistan, um eine neu eingerichtete amerikanische Basis im Wanat-Distrikt von Konar anzugreifen. Es wurde für die amerikanischen Streitkräfte der blutigste Tag seit der Invasion vom Oktober 2001: Neun US-Soldaten wurden getötet und weitere fünfzehn verletzt.
Am 6. August unternahmen 200 bis 300 Soldaten des paramilitärischen Frontier Corps von Pakistan einen schlecht vorbereiteten Versuch, aufgegebene Positionen nahe der Stadt Loyesam wieder einzunehmen, um die Versorgungsrouten der islamistischen Aufständischen nach Afghanistan zu unterbrechen. Das Frontier Corps stand von Anfang an unter dem Feuer schwer bewaffneter Stammeskämpfer.
Nach dreitägigen Kämpfen zogen sich die Regierungstruppen zurück, wobei sie über siebzig Soldaten entweder tot oder in Gefangenschaft zurückließen. Außerdem verloren sie mehrere Panzer und gepanzerte Fahrzeuge. Seit letzter Woche haben Taliban-Kämpfer Verteidigungsposten in den Dörfern um die Hauptstadt des Verwaltungsgebietes Khar eingerichtet. Berichten zufolge haben sie die Hauptstrasse blockiert, die Bajaur mit der angrenzenden Verwaltungszone Mohmand verbindet, und die Bahnlinie nach Peschawar, der Hauptstadt der NWFP, besetzt.
Im Verlauf der letzten Woche griff das pakistanische Militär die Taliban-Stellungen mit Kampfflugzeugen und schweren Kampfhubschraubern an. Dutzende Häuser, mehrere Moscheen und mindestens eine Schule wurden dabei vollständig zerstört. Am Dienstag erklärten Vertreter der pakistanischen Regierung, sie hätten einen hochrangigen al-Qaida-Anführer getötet: Abu Saee al-Masri, auch bekannt als Mustafa Abu al-Yazid, soll eine führende Rolle bei den Anschlägen vom 11. September und späteren Terroroperationen gespielt haben.
Diese Behauptung wurde bislang nicht bestätigt. Sie ist möglicherweise nur ein Versuch, Anschuldigungen seitens der USA zurückzuweisen, der pakistanische Geheimdienst unterstütze auch heute noch islamistische Terroristen. Regierungssprecher setzten die Verluste der pakistanischen Truppen niedriger an und erklärten, es seien "hunderte" Taliban-Kämpfer getötet worden. Die exakte Zahl der Gefallenen in den siebentägigen Kämpfen bleibt wegen der widersprüchlichen Berichte unklar.
Bajaur ist nun der dritte Kampfschauplatz im paschtunischen Gürtel Pakistans. Es fanden bereits Kämpfe im Swat-Tal der NWFP und in den Gebieten der Khyber-Stammesverwaltung statt, die westlich von Peschawar liegt. Die nächsten Gebiete, die als Angriffsziel in Frage kommen, sind die Verwaltungsgebiete von Süd- und West-Wasiristan, der Machtbasis des Anführers der pakistanischen Taliban, Baitullah Mehsud. Das Gebiet ist ebenso Ausgangspunkt für den afghanischen Kriegsherrn Jalaluddin Haqqani. In dieser Gebirgsregion gibt es zahlreiche Pässe, über die seine Truppen in das südliche Afghanistan eindringen können.
Am Dienstag sagte der Taliban-Sprecher Maulvi Omar gegenüber Associated Press über das Vorgehen der Regierung im Swat-Tal und den Stammesgebieten: "Es herrscht offener Krieg zwischen uns und ihnen." Am selben Tag zerstörte eine Bombe der Taliban einen Militärtransporter, als er gerade Peschawar verlassen wollte. Die Detonation war so stark, dass sie weitere Fahrzeuge in der Nähe in Mitleidenschaft zog. Dabei starben ein Mädchen von fünf Jahren und neun Mitglieder der pakistanischen Luftwaffe, sowie zivile Angestellte, die sich im Militärtransporter befanden.
Am Donnerstag sprengte sich ein Selbstmordattentäter vor der Polizeistation der Stadt Lahore in die Luft. Lahore ist die Hauptstadt der Provinz Punjab, die weit vom Schauplatz der eigentlichen Kämpfe entfernt liegt. Sieben Menschen wurden getötet. Diese Angriffe könnten Auftakt einer abgestimmten Kampagne islamischer Extremisten gegen bedeutende pakistanische Bevölkerungszentren darstellen. In der letzten Woche wurden neun mögliche Selbstmordattentäter aus Süd-Wasiristan in Lahore verhaftet. In ihrem Besitz befanden sich Sprengstoffwesten sowie Handfeuerwaffen.
Ausweitung des Afghanistankriegs
Die wachsende Gewalt in Pakistan ist Folge der Bemühungen des US-Militärs, Afghanistan zum amerikanischen Vasallen in Zentralasien zu machen. Wenn es nicht gelingt, die Rückzugsgebiete in Pakistan abzuschneiden, werden die US- und NATO-Truppen in Afghanistan einen Krieg erleben, der in den Worten eines britischen Kommandeurs "über Generationen andauern wird", d.h. einen jahrzehntelangen Konflikt, der gewaltige Mittel verschlingt.
Die Besatzungstruppen sowie Polizei und Armee der afghanischen Regierung, kontrollieren die größeren Städte und können strategische Straßen, Brücken und Landebahnen verteidigen. Für die Aufständischen ist es jedoch ohne weiteres möglich, sich in den ländlichen Gebieten relativ sicher zu bewegen. Weite Teile der paschtunischen Bevölkerung im südlichen und östlichen Afghanistan unterstützen den Widerstand gegen die US- und NATO-Invasoren ganz offen. Sie versorgen die Aufständischen mit Nachschub und Informationen. Wenn nötig, können sich die Kämpfer über die Grenze nach Pakistan zurückziehen, um sich dort in den Lagern neu auszurüsten, ihre Verwundungen behandeln zu lassen und neue Kämpfer auszubilden.
Es findet ein klassischer Guerilla-Krieg statt. Operationen der Aufständischen entlang den wichtigsten Überlandstraßen, die Kabul mit den Städten im Süden und Osten verbinden, verursachen für die Besatzungstruppen größten Schaden. Im Verlauf der letzten Monate wurden Brücken zerstört und Dutzende von Versorgungskonvois überfallen. Ein ungenannter Manager eines westlichen Unternehmens, das für die NATO-Streitkräfte arbeitet, erklärte diese Woche der britischen Financial Times : "In den Sommermonaten gehe ich davon aus, ein bis zweimal in der Woche angegriffen zu werden."
Ein Treibstofflieferant aus Kabul, Matthew Leeming, sagte: "Die neue Taktik der Taliban, Brücken zwischen Kabul und Kandahar zu sprengen, zwingt Konvois, langsamer zu fahren. Sie geben so ein einfacheres Ziel ab, was ein schwerwiegendes Problem für die Firmen darstellt, die Kandahar von Kabul aus versorgen." Bei einem größeren Angriff im Juni wurde ein Konvoi mit 50 LKWs praktisch vollständig aufgerieben.
In der letzten Woche wurden wenigstens zwanzig US- und NATO-Soldaten entweder durch verminte Straßen, Hinterhalte oder Selbstmordangriffe in verschiedenen Teilen Afghanistans getötet oder schwer verletzt, speziell in Provinzen, die an Pakistan angrenzen. Drei amerikanische Soldaten wurden am Donnerstag bei einer Explosion getötet und zwei weitere bei einem Überfall der Taliban am Freitag. Dies ist nun der dritte Monat in Folge, in dem mehr US-Soldaten in Afghanistan getötet wurden als im Irak.
In Afghanistan wurden seit Oktober 2001 573 amerikanische Soldaten getötet und an die 2.500 weitere verletzt. Die britischen Streitkräfte verloren 115 Soldaten und Kanada 90. Im zumeist ruhigeren Norden des Landes, wo andere NATO-Mitgliedsstaaten den Großteil der Besatzungstruppen stellen, wurde der erste litauische Soldat am Montag in der Provinz Faryab durch eine Straßenmine getötet.
Die Verzweiflung der Besatzungstruppen offenbart sich in der täglichen Ermordung von afghanischen Zivilisten durch willkürliche Luftangriffe oder schießwütige Soldaten an Straßenkontrollen. Am Dienstag erschossen britische Soldaten in der Provinz Helmand einen Mann in seinem Auto, als dieser bei der Annäherung an eine Straßensperre nicht langsamer wurde. Am folgenden Tag verwundeten britische Soldaten drei Menschen in ihrem Auto, als sie überholen wollten.
Die Besatzungstruppen führen nun pro Tag zwanzig Luftangriffe auf angebliche, aber nicht bestätigte Taliban-Ziele in Afghanistan durch. Vertreter der afghanischen Regierung berichten, dass bei einem Angriff am letzten Samstag in der Provinz Kapisa zwölf Zivilisten getötet und achtzehn weitere verwundet wurden.
Die von der NATO geleitete ISAF-Truppe gab in einer Presseerklärung zu, mindestens acht afghanische Zivilisten getötet zu haben. Zuvor waren Kampfhubschrauber angefordert worden, als australische Truppen am Montag in einen Hinterhalt gerieten. Die ISAF behauptet, 25 weitere Personen, die von Kampfhubschraubern getötet wurden, seien Taliban-Kämpfer gewesen.
Mehr als tausend afghanische Zivilisten wurden dieses Jahr durch Angriffe seitens der Aufständischen und der Besatzungstruppen getötet. Außerdem wurden 1.500 bis 2.000 Menschen getötet, die als Guerillas bezeichnet wurden. In dem Maße, in dem das Massenschlachten weiter eskaliert und der Hass des afghanischen Volkes gegen die amerikanisch geführte Besatzung des Landes weiter wächst, werden auch in den USA die Rufe nach mehr Truppen lauter, die es dem US-Militär erlauben, Angriffe über die Grenze nach Pakistan auszuführen. Diese Kampagne wird vom Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei, Barack Obama, angeführt, der die weitere Eskalation des Krieges in Afghanistan zum Herzstück seines außenpolitischen Programms gemacht hat.
Aus Angst vor dem öffentlichen Widerstand gegen eine solche Entwicklung verweigert die pakistanische Regierung den USA offiziell die Erlaubnis, Angriffe auf ihr Territorium zu führen. Die anhaltenden Luftangriffe auf die Lager der Aufständischen machen jedoch deutlich, dass in Wirklichkeit doch verdeckte Operationen stattfinden. Am Dienstagabend feuerte eine Aufklärungsdrohne vom Typ Predator Raketen auf ein Haus ab, das den Taliban angeblich als Unterschlupf diente. Fünf Menschen wurden dabei getötet.
Wenn sich die Regierung Pakistans als unfähig oder nicht willens erweisen sollte, die Stammesgebiete zu unterwerfen, muss man damit rechnen, dass in diesem inzwischen sieben Jahre dauernden Krieg als nächstes amerikanische Truppen die Grenze nach Pakistan überqueren, um die dortigen Rückzugsgebiete des Aufstands anzugreifen.