Im Wahlendspurt in Hessen setzen SPD und Grüne auf die massive Opposition gegen Ministerpräsident Roland Koch (CDU). Doch ihre "Koch muss weg!"-Kampagne lebt vor allem davon, die Erfahrungen mit rot-grünen Regierungen, vor allem der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) und Joschka Fischer (Grüne) totzuschweigen. Dies zeigte sich anschaulich einmal mehr bei einem Diskussionsabend im Haus am Dom unweit des Frankfurter Römers am vergangenen Mittwoch.
Der katholische Frankfurter Domkreis Kirche und Wissenschaft lud an diesem Abend zu einem Diskussionsforum unter dem Titel "Prekäre Arbeit - prekäres Leben?" ein.
In der Einladung heißt es: "Das klassische Arbeitsverhältnis auf Lebenszeit gibt es immer weniger. Das ist für viele Menschen prekär: Denn hinter Praktikum, Leiharbeit, Honorarvertrag, Ich-AG oder anderen Formen der neuen’ Arbeit verbergen sich massive Unsicherheiten und Risiken, welche die Lebensplanung schwer machen. Die neuen sozialen Risiken reichen heute bis in die Mittelschichten, die Grenze zwischen der gesicherten Existenz und dem sozialen Absturz verwischt immer mehr."
Rund 100 Menschen folgten der Einladung. Auf dem Podium saßen der Arbeitswissenschaftler Prof. Dr. Klaus Dörre aus Jena, der Soziologe Dr. Peter Bartelheimer aus Göttingen, der Theologe und Pädagoge Andreas Böss-Ostendorf von der Katholischen Hochschulgemeinde Frankfurt, Dr. Werner Scherer vom hessischen Arbeitgeberverband (VHU) sowie der Gewerkschaftssekretär Jörg Köhlinger vom Frankfurter IG Metall Bezirk.
Die Moderatorin Eva Roth von der Frankfurter Rundschau begann ihre einleitenden Begrüßungsworte mit der Ankündigung, dass an diesem Abend nicht nur auf die Entwicklung der unsicheren - prekären - Arbeitsverhältnisse in Deutschland geschaut wird, sondern auch, welche Folgen daraus erwachsen und welche Perspektiven gegen diese Entwicklung existierten.
Professor Dörre, Leiter des Lehrstuhls für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Universität in Jena, hielt den einleitenden Beitrag zum Thema. Innerhalb von 20 Minuten hetzte er durch 40 Seiten seiner Power-Point-Präsentation und unterbreitete seine Definition des Wortes "prekär" sowie seine wissenschaftlichen Thesen, die er mit viel Zahlenwerk in Grafiken und Tabellen untermauerte.
Er referierte über zunehmende Ängste der Bevölkerung vor den gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre (63 Prozent der Bevölkerung äußerten diese Ängste), darüber dass das "Normalarbeitsverhältnis" (unbefristet in Vollzeit) auf inzwischen nur noch rund die Hälfte aller Arbeitsverhältnisse gesunken ist und die Teilzeitjobs und Arbeitsverhältnisse im Niedriglohnbereich steigen.
Allein unter den Vollzeitbeschäftigten arbeite fast ein Fünftel im Niedriglohnsektor. Er berichtete über Stundenlöhne von zwei Euro und das Anwachsen der Leiharbeit seit 2004 um 142 Prozent. Als Beispiel brachte er das BMW-Werk in Leipzig, in dem 30 Prozent der Arbeiter, am Band sogar 50 Prozent, Leiharbeiter sind. Ihr Lohn betrage zwei Drittel oder sogar nur die Hälfte eines Stammbeschäftigten. Auch das Beispiel Nokia in Bochum erwähnte Dörre, wo ein Drittel der Belegschaft oder 1.000 Männer und Frauen Leiharbeiter sind bzw. waren.
Er erwähnte nicht, dass die BMW-Zentrale vor vier Wochen ankündigte, in diesem Jahr 8.000 Arbeitsplätze abzubauen, zum Großteil die der Leiharbeiter. Zwei Wochen zuvor hatte die IG Metall stolz verkündet, sie habe für die 8.000 Leiharbeiter eine Lohnerhöhung von bis zu 50 Prozent durchgesetzt; Lohnerhöhungen für Arbeiter, deren Stellen nun abgebaut werden.
Leiharbeit, so Dörre, sei nicht mehr ein Mittel der Unternehmen, um Auftragsspitzen zu bewältigen, sondern inzwischen integraler Bestandteil der Gesamtbelegschaft, um Kosten zu sparen.
Er schloss mit der Feststellung, dass "Prekarisierung" kein Phänomen an den Rändern der Arbeitsgesellschaft ist. Böss-Ostendorf von der katholischen Hochschulgemeinde unterstrich in der Diskussion, dass diese Entwicklung nicht nur Geringqualifizierte betrifft. 44 Prozent aller Akademiker absolvieren nach dem Studium erst einmal ein nicht oder nur gering bezahltes Praktikum.
Dörres Einleitung blieb sehr akademisch und trocken. Im Laufe der Diskussion schilderte er jedoch anschaulich an Beispielen, welche konkreten Formen die "Prekarisierung" annimmt. So gebe es im Friseurhandwerk den Trend, dass sich "selbstständige" Friseurinnen einen Stuhl im Friseur-Salon "kaufen", an dem sie dann arbeiten können. Geld verdienen sie damit vorerst nicht. "Sie starten erst einmal mit Schulden von 2.000 Euro, die sie ja für ihren Friseurstuhl zahlen müssen", erklärte Dörre.
Der Jenaer Professor berichtete auch von einer Radiosendung des Bayerischen Rundfunks, in der er zu Gast war. Im Studio rief eine Angestellte eines "privaten Postzustellungsunternehmens" an und sagte, dass sie nach der Anzahl ausgelieferter Briefe bezahlt werde. Wenn es keine Briefe zu verteilen gab, erhielt sie auch kein Geld. "Sie berichtete von einer Woche, in der sie 84 Cent erhielt." Der ebenfalls im Studio sitzende Vertreter des privaten Postzustellers entschuldigte sich zwar wortreich mit allen möglichen Umständen, so Dörre, "doch sachlich konnte er dies nicht entkräften". Es war wohl wahrheitsgetreu.
Zwischenrufe von Anwesenden, die nach dem Namen des Postunternehmens fragten, hörte Herr Dörre nicht oder wollte sie nicht hören. Denn es war auffällig, dass sowohl Dörre als auch sein akademischer Kollege Bartelheimer eines nicht taten: Die Verantwortlichen beim Namen nennen.
Bartelheimer erklärte zum Beispiel, es gebe zwei Verantwortliche für diese Entwicklung, die "Beschäftiger", gemeint waren die Konzerne, und die "Arbeitsmarktpolitik". Obwohl er korrekt das Ziel der Hartz-IV-Gesetzgebung einschätzte, "Hartz IV setzt sich nicht die Beschäftigung der Arbeitslosen zum Ziel, sondern die Ausgabenreduzierung der Arbeitslosenversicherung", nahm er die Worte "rot-grün", "SPD", "Agenda 2010" oder "Gerhard Schröder" nicht in den Mund.
Dies übernahm dann aber Dietmar Henning, Redakteur der World Socialist Website und Mitglied der Partei für Soziale Gleichheit. "Verantwortlich für die Arbeitsmarktpolitik, für Hartz IV, ist die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder", sagte er. Das Publikum, in dem viele Betroffene saßen, applaudierte. Henning fuhr fort: "Als 2004 die Proteste gegen Hartz IV anschwollen, hat sich der DGB bewusst entschieden, diese nicht zu unterstützen" (Beifall). Henning verwies auf Interviews des Regisseurs Martin Kessler mit DGB-Chef Michael Sommer zu dieser Zeit. In Kesslers Film "Neue Wut" zeigte er Sommer, wie dieser erklärt: "Wenn wir einen anderen Weg gegangen wären, wäre die Gewerkschaftsbewegung insgesamt gespalten worden, dauerhaft. Diesen Preis konnte und wollte ich nicht zahlen." Einem großen Teil der Gewerkschaftsfunktionäre sei die SPD näher als die Protestierenden gegen Hartz IV, also die jetzigen und künftigen Arbeitslosen.
Henning ging dann auch noch auf zwei Äußerungen von IG-Metall-Sekretär Jörg Köhlinger ein. Dieser hatte in der Podiumsdiskussion behauptet, Leiharbeiter würden brutal ausgebeutet, wenn sie keinen Betriebsrat oder eine Gewerkschaft im Rücken hätten. Henning erwiderte, auch oder gerade Arbeiter, die gewerkschaftlich vertreten werden, sind vor ausbeuterischen Arbeitsbedingungen nicht sicher. Er berichtete vom niedrigsten unteren Tariflohn, den er im Tarifarchiv des WSI, des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftseigenen Hans-Böckler-Stiftung, ausfindig gemacht habe. Verdi habe im Friseurhandwerk in Brandenburg einen tariflichen Stundenlohn von 2,75 Euro brutto unterschrieben, das seien 464 Euro brutto im Monat bei einer vereinbarten 39-Stunden-Woche (Raunen).
Der WSWS-Redakteur widersprach auch der schon dreisten Behauptung Köhlingers, dass Betriebsräte zwar bislang den Druck der Konzerne an die Beschäftigten weitergegeben haben, dies nach langen Diskussionen aber in Zukunft nicht mehr tun wollen. "Dies hat sich offenbar noch nicht bis Bochum herumgesprochen", sagte Henning. "Bei Nokia in Bochum haben Betriebsrat und IG Metall eine Unternehmensberatungsfirma beauftragt um zu prüfen, wie der Standort Bochum gegenüber Rumänien wettbewerbsfähig gemacht werden kann." (Beifall) In der Diskussion meldeten sich auch zwei Betriebsräte zu Wort, die berichteten, dass sie gar nicht anders können, als "schmerzliche Tarifverträge" zu verantworten.
Anschließend fühlten sich weitere Anwesende ermutigt zu sprechen. Bereits zuvor hatte ein ehemaliger Leiharbeiter berichtet, unter welchen gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen er habe arbeiten müssen. Ein ehemaliger Arbeiter des Pleite gegangenen Baukonzerns Philip Holzmann sagte, "Lohnkürzungen haben bislang noch nicht einen Arbeitsplatz gesichert".
Da kein SPD-Vertreter es wagte sich zu outen und Köhlinger kein Wort mehr sagte, entlud sich die Wut vieler Anwesender auf den einzigen Unternehmervertreter, Dr. Werner Scherer von der Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände.
Scherer hatte zuvor schon erklärt, die Unternehmen stünden unter Sachzwängen, die vor allem mit der Globalisierung zusammenhingen. "Jeder Unternehmer senkt Kosten, das würden Sie als Unternehmer auch machen", sagte er. "Arbeitsplätze sind nur sicher, wenn Kosten ständig gesenkt werden."
Als er nun nochmals auf einige offene Fragen aus dem Publikum eingehen wollte und dabei die Verhältnisse unter den Leiharbeitern relativierte, wurde er immer wieder ausgebuht oder ausgelacht. Das Wort Lügner verbiete er sich aber, erregte er sich.
Moderatorin Eva Roth, deren Zeitung maßgeblich an der "Koch muss weg!"-Kampagne beteiligt ist, indem sie mit ihrer Berichterstattung täglich SPD und Grüne sowie deren Spitzenkandidaten protegiert, versuchte die Diskussion daraufhin schnell zu beenden.
Es sei schon sehr spät (es waren zwei Stunden vergangen) und es gebe Auflösungserscheinungen (fünf bis sechs Anwesende waren gegangen). Roth verzichtete sogar auf die geplante Schlussrunde. Ihre Ankündigung, auch über die Perspektiven gegen die zunehmende soziale Unsicherheit zu diskutieren, ließ sie fallen.
Dietmar Henning führte nach der Veranstaltung noch mehrere Gespräche, meist mit Betroffenen, die ihm vor allem dankten, endlich einmal die Verantwortlichen beim Namen genannt zu haben. Er sprach auch mit einem Betriebsrat der WISAG Sicherheitsdienste, der klagte, dass er nur "Rückzugsgefechte" führen könne. Ein Vertreter der Erwerbslosen bei Verdi stimmte Henning zu, er sehe es ebenfalls als eines der größten Probleme an, dass die Gewerkschaften, auch seine eigene, solche niedrigen Tarife abschlössen. Fast alle Anwesenden nahmen das Flugblatt mit der Wahlerklärung zur hessischen Landtagswahl der Partei für Soziale Gleichheit (PSG) mit. Einige Teilnehmer, darunter zwei von der Arbeitsloseninitiative Odenwald, baten um mehrere Exemplare, damit sie sie weiter verteilen konnten.
Der Abend im Frankfurter Haus am Dom zeugte von der enormen Wut innerhalb der Bevölkerung auf alle Berliner Parteien und die Gewerkschaften. Die Partei für Soziale Gleichheit und die World Socialist Website sind die einzigen, die diese Wut artikulieren und ihr eine Perspektive geben.