Der Film Sicko ist die Kritik des Dokumentarfilmers Michael Moore am amerikanischen Gesundheitssystem. Trotz der unbestrittenen Aufrichtigkeit des Regisseurs und seines Talents für Effekte ist es ein außerordentlich dürftiges Werk, schwächer als Fahrenheit 9/11, seine Reaktion auf den von der Bush-Regierung begonnenen "Krieg gegen den Terror" von 2004.
Wir lassen Moores frühere Leistungen durchaus nicht unbeachtet; er hat sich jedoch mit diesem Film auf gesellschaftliches und politisches Terrain begeben und fordert, darin ernst genommen zu werden. Deshalb sollte er auch entsprechend beurteilt werden. Darüber hinaus ist auch eine Sozialdokumentation trotzdem ein Film und muss auch unter diesem Aspekt beleuchtet werden.
Abgesehen von ein paar wirklich bewegenden Treffen mit Opfern des amerikanischen Gesundheitssystems bietet der Film wenig wirklich Aufschlussreiches. Moore erklärt gleich zu Beginn seines neuen Werks, er habe auf seiner Internetseite um "Geschichten aus dem Gesundheitssystem" gebeten und 25.000 Antworten erhalten. Das ist sicherlich ein Hinweis auf das Ausmaß der Krise. Aber wie viel zusätzliche Recherche und Nachdenken sind in den Film eingeflossen?
Sicko ist zusammenhanglos und holprig und bringt nichts Neues. Moore hält sich mit bestimmten Themen lange auf, speziell solchen, von denen er meint, dass sie unterhaltend sind, oft auf billige Art und Weise, während er über wichtige Fragen viel zu schnell hinweggeht. Der Film ist statisch: Er beginnt und endet intellektuell an derselben Stelle. Moore scheint am Schluss nicht mehr zu wissen, als er zu Beginn schon wusste, und wir auch nicht. Im Allgemeinen überwiegt ein scherzhafter Ton, der schnell irritiert. Das geschieht, unnötigerweise, um eine breitere oder "volkstümlichere" Wirkung zu erzielen. Selbst der Titel ist albern.
Moore ist die Manipulation des Publikums nicht fremd, wenn er z. B. seine Kamera nahe heranbewegt für Nahaufnahmen von Tränen überströmten Gesichtern. Das Publikum zum Weinen zu bringen ist einfach, ihm etwas Handfestes zum Nachdenken zu geben ist viel schwieriger.
Während seiner in Sicko gezeigten Ausflüge in andere Länder wirkt Moores Pose als "ausländischer Naivling", als drittklassiger Mark Twain, mehr als nur ein bisschen schal. Der Regisseur ist kein Bauerntölpel. Er hat jahrelang in New York City gelebt, sich in hohen politischen Kreisen bewegt und ist sehr erfahren in diesen Dingen oder sollte es zumindest sein.
Wenn Moore die amerikanische Bevölkerung wirklich ernst nimmt, warum fordert er sie (und sich selbst) nicht mit wirklich komplizierten Fragen heraus?
Im ersten Teil von Sicko wird detailliert dargestellt, wie die amerikanische Gesundheits-Industrie die Kranken und die Verletzten missbraucht, den Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung behindert, die Menschen ins Elend stürzt und dabei Menschenleben gefährdet. Informanten aus Firmen und Opfer diverser grausamer Behandlungen werden interviewt, darunter eine Frau, deren Ehemann eine Knochenmarkstransplantation verweigert wurde mit der Begründung, das sei "erst im Versuchsstadium", und der in der Folge starb.
Moore fragt: "Wer hat dieses System erfunden?" und in einer oberflächlichen Darstellung verfolgt er die Ursprünge des gegenwärtigen Profit orientierten Gesundheitssystems zurück bis zur Nixon-Regierung und ihrer Politik in den frühen 1970er Jahren. Dies ist eine entscheidende Frage,und Moore gerät schwer ins Stolpern
Um seine eigene Frage zu beantworten, hätte Moore nicht die leichte Lösung wählen sollen - er stützt sich auf eine mitgeschnittene Unterhaltung zwischen Richard Nixon und John Ehrlichmann aus dem Jahr 1971 über die Vorzüge der "freien Marktwirtschaft" im Gesundheitswesen -, sondern das Problem in fundierter Weise angehen sollen.
Die Diskussion über eine allgemeine Gesundheitsversorgung hat in den USA eine lange Geschichte. Während der "progressiven Ära" in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts führte die reformistische American Association of Labor Legislation (Amerikanische Gesellschaft für Arbeitsgesetzgebung) eine Kampagne für die Krankenversicherung. Sie erlitt Schiffbruch wegen der vereinten Opposition der Mediziner, der Versicherungsgesellschaften und der American Federation of Labor (Gewerkschaftsdachverband). Letztere befürchtete, mit dem Aufbau eines staatlichen Programms würde die Regierung "die Rolle der Gewerkschaften beim Bereitstellen von Sozialleistungen" schwächen.
Präsident Franklin D. Roosevelt hatte ursprünglich geplant, eine Krankenpflichtversicherung in das Sozialversicherungsgesetz von 1935 aufzunehmen, ließ das allerdings aus Angst vor der Opposition der American Medical Association (AMA) und aus Unternehmerkreisen wieder fallen. In seiner Rede zur Lage der Nation am 11. Januar 1944, in der er für die Einführung einer "zweiten Bill of Rights" eintrat, argumentierte Roosevelt, dazu gehörte das Recht "auf eine angemessene medizinische Versorgung und die Möglichkeit, die Gesundheit zu erhalten und zu genießen" und "auf angemessenen Schutz vor den wirtschaftlichen Risiken des Alters, von Krankheit, Unfall und Arbeitslosigkeit."
Eine nationale Krankenversicherung kam nie zustande, und während der Zeit des Kalten Kriegs machten sich die AMA, die Versicherungswirtschaft und andere das Klima zunutze, um solche Maßnahmen als "sozialisierte Medizin" anzuprangern, und düster auf die "kommunistische Gefahr" hinzuweisen.
Moore hätte sein Augenmerk darauf richten können, dass die amerikanische Arbeiterbewegung in den 1940er Jahren jeglichen Kampf für radikale soziale Programme im Austausch für vorübergehende Erhöhungen der Löhne und Zusatzleistungen fallen ließ (von denen die meisten heute nicht mehr existieren).
Das Bündnis der Gewerkschaften mit der Demokratischen Partei, stellt der Historiker Alan Brinkley in "Das Ende der Reform" fest, bedeutete, dass die organisierten Arbeiter "den Kampf für eine entscheidende Neuverteilung des Reichtums und der Macht innerhalb der industriellen Wirtschaft aufgaben - die Chance eine wirkliche industrielle Demokratie zu schaffen". Alle großen Fragen der Sozialpolitik und Sozialprogramme wurden von der Tagesordnung gestrichen und die amerikanische Bevölkerung hat als Folge davon ungeheuer gelitten.
Eine Erörterung der historischen Rolle der Gewerkschaften und der Demokratischen Partei in Amerika ist kompliziert, und würde Moore auf ein politisches Gebiet führen, das er lieber vermeidet. Richard Nixon für die augenblickliche Situation verantwortlich zu machen, ist viel einfacher.
Im Verlauf seines oberflächlichen historischen Abstechers verweilt Moore für einen Moment bei Hillary Clinton und dem von ihr 1993 vorgeschlagenen Krankenversicherungsplan. Sicko erweckt den Eindruck, hier sei eine Riesenchance verpasst worden, untersucht aber den Inhalt des Plans überhaupt nicht. Clintons Gesetzentwurf hätte die Rolle der privaten Versicherungsgesellschaften nicht angetastet, sondern sie sogar mit Subventionen unterstützt, wenn sie HMO-ähnliche Dienste (Gesundheitsversorgung nach einem festgelegten Budget) angeboten hätten. Der Clinton-Plan hatte die Rückendeckung mächtiger Wirtschaftsinteressen, und war vor allen Dingen ein Versuch, die stark steigenden Gesundheitskosten für die amerikanischen Unternehmer zu senken.
Nachdem er den beklagenswerten Zustand des US-amerikanischen Gesundheitswesens nachgewiesen hat, verlässt Moore amerikanischen Boden, um ein besseres System zu suchen. Sein Bemühen, die kanadische, britische, französische und kubanische Gesundheitsversorgung als vorbildlich zu präsentieren, ist ungemein irrig. Moore greift auf plumpe Vergleiche und extreme Vereinfachungen zurück und lässt wichtige Tatsachen aus oder verschleiert sie. Er verzerrt damit die Wirklichkeit und stützt sich fast vollständig auf persönliche Anekdoten, eine bekanntermaßen unzuverlässige Methode. Eine abgeschmackte "linke" Mythologie ist nicht besser als irgendeine andere.
Patienten, Ärzte und Apotheker in Kanada, Großbritannien und Frankreich erklären Moore immer wieder, dass für medizinische Versorgung nur wenig oder gar kein Geld den Besitzer wechselt. Etwas unaufrichtig reagiert er jedes Mal mit Erstaunen.
Zweifellos ist das Gesundheitssystem in Kanada und Europa (und Kuba) fortschrittlicher als in den USA - es basiert, zumindest in der Theorie, auf dem grundlegenden Prinzip, dass die Gesellschaft die Verantwortung für das Wohlbefinden aller ihrer Bürger hat.
Es ist jedoch unmöglich, die begrenzten Errungenschaften auf diesem Gebiet in Kanada und Europa zu verstehen, ohne die Rolle der Sozialisten und anderer linker Elemente im Leben der Arbeiterbewegung dieser Länder zu berücksichtigen, was Moore kaum anspricht. Bedeutsame Reformen waren Nebenprodukte von Aufständen der Arbeiterklasse, trotz sozialdemokratischer und stalinistischer Führung.
Es ist wohl nicht nötig darauf hinzuweisen, dass das Profitsystem in Kanada, Großbritannien und Frankreich immer noch herrscht. Wenn von der Regierung betriebene Gesundheitssysteme eingeführt wurden, dann nur widerwillig, und diese Systeme sind voller Ungerechtigkeiten
Unter den heutigen Bedingungen der globalen Wirtschaft und dem Niedergang des Sozialstaats werden die Grundlagen dieser Gesundheitsprogramme attackiert. Moore beschäftigt sich nicht mit den aktuellen Gesundheitssystemen in diesen Ländern, sondern mit einer idealisierten Version dieser Systeme.
Zu leugnen, dass es z. B. in Kanada lange Wartezeiten für Behandlungen selbst in lebensbedrohlichen medizinischen Fällen gibt, ist absurd. Das Problem liegt nicht in der "Bürokratisierung" und "Zentralisierung" eines "vergesellschafteten" Gesundheitssystem, wie die rechten Kritiker behaupten, sondern im chronischen Geldmangel und Jahren von Haushaltskürzungen sowie dem bemühen der privaten Gesundheitsanbieter, Gewinn zu machen.
Das französische Gesundheitssystem wurde von zahlreichen Skandalen erschüttert. Unter einer Regierung der Sozialistischen Partei Mitte der 1980er Jahre stellte sich heraus, dass Blutderivate mit HIV verseucht waren. Zirka 4.000 bis 5.000 Menschen, viele von ihnen Bluter, wurden infiziert und Hunderte starben. 2003 erlagen fast 15.000 Menschen, der Großteil ältere Menschen, einer Hitzewelle. Sowohl Gleichgültigkeit der Behörden als auch jahrelange Haushaltskürzungen, Krankenhausschließungen und Kürzungen bei den medizinischen Diensten unter "linken" wie rechten Regierungen wurden für die horrende Zahl von Opfern verantwortlich gemacht.
Moore unterhält sich mit Tony Benn, einem früheren Mitglied des britischen Labour-Kabinetts und alt gedienten "linken" Schwindler, der behauptet: "Bevor wir die Wahlen hatten, war alle Macht in den Händen der reichen Leute... Die Demokratie hat den Armen die Stimme gegeben, und das hat die Macht vom Markt zur Wahlurne verlagert, von der Brieftasche zum Stimmzettel." In dieser Art fortfahrend, erklärt Benn später: "Ich denke Demokratie ist das Revolutionärste, was es auf der Welt gibt. Viel revolutionärer als sozialistische Ideen und die Ideen von sonst irgendjemandem."
Benns Ablehnung von sozialistischem "Theoretisieren" ist zweifellos auf das zugeschnitten, was man seiner Meinung nach einem amerikanischen Publikum zumuten kann. Bedauerlicherweise bringt er damit auch beim Regisseur eine Saite zum Klingen, der selbst eine Form von anti-intellektueller Einstellung offenbart.
Aber wie sieht es wirklich aus mit dem britischen Gesundheitssystem, von dem Benn behauptet, es sei ein unverrückbarer Bestandteil des britischen Lebens und "genauso unstrittig wie das Frauenwahlrecht" - und mit seiner eigenen, der Labour Partei?
Wie das kanadische, das französische und jedes andere nationale Gesundheitssystem wird der britische Nationale Gesundheitsservice sowohl von der Regierung als auch von privaten Unternehmen angegriffen. Betten, Stationen und ganze Krankenhäuser werden geschlossen. Zehntausende von Arbeitsplätzen im Gesundheitswesen sind bedroht. Darüber hinaus ist laut der Internetseite "Erhaltet unsere staatlichen Krankenhäuser" "ein beispielloser Privatisierungsprozess im Gang: Lebenswichtige Einrichtungen und Mittel des staatlichen Gesundheitssystem werden in private Hände übergeben, darunter Firmen, die für den Profit privater Anleger hier und im Ausland arbeiten."
Die Labour Party unter Tony Blair und jetzt Gordon Brown hat ihre sozialreformistische Vergangenheit längst hinter sich gelassen. "New Labour" trägt die volle Verantwortung für das historische Verbrechen des Irakkriegs und steht an der Spitze einer der ungleichsten Gesellschaften der Welt - was zum Teil das Ergebnis ihrer eigenen Politik ist. Der 82-jährige Benn wurde in der Partei, in der er sein ganzes erwachsenes Leben verbrachte, an den Rand gedrängt. Moore verschafft ihm eine Plattform, von der er für eine reformistische Strategie argumentieren kann, die völlig gescheitert ist.
Im letzten Teil von Sicko fährt Moore mit einer Reihe von freiwilligen 9/11-Rettungskräften, die in den USA keine angemessene medizinische Behandlung bekommen, nach Kuba. Weil er gehört hatte, dass Häftlinge des Guantánamo-Bay-Gefängnisses eine erstklassige medizinische Behandlung erhalten, fährt Moore mit einigen amerikanischen Bürgern nach Kuba, um eine ähnliche Behandlung zu bekommen.
Wir verstehen den Witz schnell - er ist schlecht - und er wird auf Kosten von tieferer Einsicht und Überlegung gemacht. Moores Darstellung von Guantánamo legitimiert stillschweigend das Argument der US-Regierung, dass das Internierungslager ein notwendiger Bestandteil des "Kriegs gegen den Terror" sei.
Was die Episode in Havanna angeht, gibt es keinen Zweifel, dass die kubanische nationalistische Revolution zu gewissen sozialen Errungenschaften z. B. auf dem Gebiet der Bildung und der Gesundheit geführt hat. Aber es wäre extrem naiv zu glauben, die medizinische Versorgung, die die Mitglieder der amerikanischen Gruppe während des von einem Medienspektakel begleiteten Moore-Besuchs erhielten, sei typisch für die Behandlung, die die kubanischen Arbeiter und Armen bekommen. Wie sollte man das nachprüfen?
Alles in allem ist Sicko eine schwache Leistung, weniger ehrlich und spontan als Roger & Me, über die Vernichtung von Flint, Michigan, oder selbst Fahrenheit 9/11. Moore ist auf einem alarmierend falschen Weg und seine Weigerung, schwierige soziale und historische Fragen anzupacken, zeigt das besonders.
In einer Massengesellschaft eine Gesundheitsversorgung sicherzustellen, ist an und für sich ein sehr komplexes Problem. Aber letztendlich geht es nicht nur darum, die Gesundheitsversorgung in Ordnung zu bringen, sondern alles in Ordnung zu bringen. Wer glaubt denn, dass eine angemessene Gesundheitsversorgung für jeden Amerikaner von einer der beiden großen Parteien oder im Rahmen des gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Systems verwirklicht wird? Dazu wäre es nötig, gegen einige der mächtigsten und fest verwurzelten Finanz- und Unternehmens-Interessen des Landes anzutreten.
Zu unterstellen, das Gesundheitssystem stehe "über den Klassen und über der Politik", wie Sicko es tut, ist Unsinn; es ist in jeder Beziehung davon abhängig. Amerika bietet eine der besten medizinischen Versorgungen der Welt... für diejenigen, die es sich leisten können. Es wird keinen Fortschritt in Richtung auf eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung der gesamten Bevölkerung geben ohne eine radikale, massive Umverteilung des Reichtums und eine Veränderung der gesellschaftlichen Prioritäten. Moore ändert das Thema, bevor diese Fragen auftauchen können; seine Tendenz, wahllos von einer Situation zur nächsten zu hüpfen, ist ein Mittel um, bewusst oder unbewusst, den dringendsten Fragen aus dem Weg zu gehen.
Wie viel versteht Moore von der Gesellschaft, die er kritisiert? Und darüber hinaus, bei all seiner berühmten "Volkstümlichkeit", versteht er tatsächlich, welche scharfen Veränderungen im Bewusstsein der Bevölkerung in Amerika vor sich gehen?
Der Regisseur hat die Angewohnheit, und es ist die Angewohnheit des gesamten amerikanischen linksliberalen Milieus, nie bis an die Wurzel eines Problems zu gehen. Der Mangel an Tiefe und Ernsthaftigkeit, die extreme Beschränktheit seines Konzepts, sind außerordentlich lähmend.