Geoffrey Swain: Trotsky, Longman 2006, 237 S.
Ian Thatcher: Trotsky, Routledge 2003, 240 S.
Die Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 warf die Frage nach der historischen Rolle Trotzkis mit neuer Dringlichkeit auf. Schließlich musste es eine Erklärung geben für den Zusammenbruch der Sowjetunion. Inmitten des Triumphgeschreis der Bourgeoisie, das die Auflösung der Sowjetunion begleitete - die, das sei am Rande vermerkt, kein einziger wichtiger bürgerlicher politischer Führer vorhergesehen hatte -, schien die Antwort auf der Hand zu liegen. Das Ende der Sowjetunion im Dezember 1991 ergab sich zwangsläufig aus der Oktoberrevolution von 1917. Diese Theorie, die auf der Annahme gründet, eine nicht-kapitalistische Form der menschlichen Gesellschaft sei schlechterdings unmöglich, wurde in einigen Büchern vertreten, die nach dem Ende der Sowjetunion erschienen. Das wichtigste davon war Vollstreckter Wahn des inzwischen verstorbenen Professors Martin Malia.
Bücher dieser Kategorie vermieden allerdings die Frage nach historischen Alternativen wie: War der politische Kurs Stalins und seiner Nachfolger die jeweils einzige Option für die UdSSR? Hätte eine andere Politik zu verschiedenen Zeitpunkten der 74-jährigen Geschichte der Sowjetunion zu einem deutlich anderen historischen Ergebnis führen können? Auf den Punkt gebracht: Gab es eine Alternative zum Stalinismus? Ich will damit keine abstrakte hypothetische Gegenmeinung aufstellen. Gab es eine sozialistische Opposition zum Stalinismus? Vertrat diese Opposition ernst zu nehmende und wirkliche politische und programmatische Alternativen?
Die Antwort auf solch entscheidende Fragen erfordert, sich aufs Neue ernsthaft mit den Ideen Leo Trotzkis und der oppositionellen Bewegung zu befassen, an deren Spitze er in der UdSSR und international stand. Doch das ist bisher nicht geschehen. Statt auf den Leistungen früherer Generationen von Wissenschaftlern aufzubauen und die gewaltige Masse des in den letzten 15 Jahren neu zugänglichen Archivmaterials auszuwerten, ging die vorherrschende Tendenz in der Geschichtsschreibung über die Sowjetunion in eine deutlich andere Richtung.
In den Jahren nach dem Fall der Sowjetunion hat sich etwas herausgebildet, was am zutreffendsten die postsowjetische Schule der Geschichtsfälschung genannt werden kann. Das vorrangige Ziel dieser Schule besteht darin, Leo Trotzki als wichtige historische Persönlichkeit zu diskreditieren, zu leugnen, dass er eine Alternative zum Stalinismus verkörperte, und dass sein politisches Erbe etwas Wichtiges für heute oder Wertvolles für die Zukunft beinhaltet. Jeder Historiker hat das Recht auf seinen eigenen Standpunkt. Doch muss sich dieser auf eine ernsthafte, ehrliche und prinzipielle Haltung gegenüber dem Faktenmaterial und der Darstellung historischer Belege gründen. Genau diese entscheidende Eigenschaft lassen zwei neue Biographien über Trotzki bedauerlicherweise völlig vermissen. Die eine stammt von Professor Geoffrey Swain von der Universität Glasgow und die andere von Professor Ian Thatcher von der Brunel Universität in West-London. Beide Bücher sind von großen und einflussreichen Verlagen veröffentlicht worden. Swains Trotzki-Biographie erschien bei Longman, die Thatchers bei Routledge. Ihre Behandlung von Trotzkis Leben ist wissenschaftlich völlig wertlos. Beide Arbeiten verwenden Trotzkis eigene Schriften kaum, führen nur wenige wichtige Zitate an und ignorieren einige seiner wichtigsten Bücher, Essays und politischen Erklärungen vollständig.
Beide Verlage behaupten zwar, die Biographien stützten sich auf wichtige Originaldokumente, doch man findet keinen Hinweis darauf, dass Swain oder Thatcher die umfangreichen Trotzki-Archive der Harvard- und Stanford- Universität genutzt hätten. Gesicherte Tatsachen zu Trotzkis Leben werden von ihnen, ohne glaubhafte Belege, "in Frage gestellt" oder als "Mythen" abgetan, so die bevorzugten Ausdrücke der Autoren. Während sie Trotzki klein reden und sich sogar über ihn lustig machen, bemühen sie sich wiederholt, Stalin Legitimität und Glaubwürdigkeit zu bescheinigen. Sie verteidigen Stalin an vielen Stellen gegen die Kritik Trotzkis und finden Begründungen, um die Angriffe auf Trotzki und die Linke Opposition zu rechtfertigen. In vielen Fällen ist ihre eigene Kritik an Trotzki nur eine aufgewärmte Version alter stalinistischer Fälschungen.
In der äußeren Aufmachung und der Seitengröße ähneln sich die Biographien. Beide Bücher richten sich ganz eindeutig an eine studentische Leserschaft. Natürlich wissen die Autoren, dass ihre Bücher für die meisten Studenten die erste Bekanntschaft mit Trotzki bedeuten, und sie haben sie gezielt so gestaltet, dass die Leser jedes weitergehende Interesse am Thema verlieren. Sichtlich zufrieden äußert sich Professor Swain im ersten Absatz seines Buches: "Die Leser dieser Biographie werden nicht zum Trotzkismus gelangen."(21) Noch werden sie, so hätte er hinzufügen können, daraus ein Verständnis der Ideen Trotzkis, der Prinzipien, für die er eintrat und seines Platzes in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts gewinnen.
Der Mythos "Trotzki"
Beide Biographien verkünden, sie würden "Mythen" über Trotzkis Leben und Werk auf den Prüfstand stellen, erschüttern und sogar widerlegen. In einem kurzen Vorwort zur Biographie von Thatcher schreibt der Verlag, "zentrale Mythen über Trotzkis heroisches Wirken als Revolutionär, insbesondere in der ersten russischen Revolution von 1905 und im russischen Bürgerkrieg werden hinterfragt". (22) Swain behauptet, in seinem Buch entstehe "ein ganz anderes als das traditionelle Trotzki-Bild, eines, das mehr den Menschen zeigt und weniger den Mythos." (23) Welche "Mythen" sollen hier entkräftet werden? Bezeichnenderweise greifen beide Autoren das Werk Isaac Deutschers an, dem sie die Verantwortung dafür anlasten, Trotzki zu der heroischen historischen Persönlichkeit gemacht zu haben, als die er bis heute vorwiegend gilt. Thatcher meint herablassend, Deutschers Trilogie lese sich wie "die Geschichte eines Jungen über ein selbst erlebtes Abenteuer". Diese Charakteristik gebe einen Hinweis darauf, "was Deutschers Wälzer interessant macht, aber auch, wo seine Schwächen liegen". Thatcher unterstellt, Deutschers Trotzki-Biographie betreibe eine dubiose Heldenverehrung. Es wimmle darin von Fällen, "in denen Trotzki tiefer und weiter sah als seine Zeitgenossen". Mit offensichtlichem Sarkasmus behauptet Thatcher, Deutscher schreibe Trotzki eine unwahrscheinliche Menge von politischen, praktischen und intellektuellen Leistungen zu. Er wirft ihm vor, er ergehe sich in unstatthaften "Erfindungen" und gleite "ins Fiktive ab". Diese Mängel, so Thatcher, "schmälern die Qualität des Werkes als Geschichtswerk, und als Historiker müssen wir Deutscher kritisch und mit Vorsicht begegnen". (24)
Selbstredend müssen alle Geschichtswerke, auch Meisterwerke auf diesem Gebiet, kritisch gelesen werden. Doch Thatcher verunglimpft Deutschers Werk nicht wegen seiner Schwächen, sondern wegen seiner größten Stärke - dass es in meisterhafter Manier Trotzki als revolutionäre Persönlichkeit wieder zum Leben erweckt. Das konkrete Beispiel, das Thatcher zur Erhärtung des Vorwurfs anführt, Deutscher erfinde und gleite ins Fiktive ab, entpuppt sich als unvollständiges Zitat aus Der bewaffnete Prophet. Liest man es im Zusammenhang, kann man Deutschers Verwendung einer Analogie, um die Stimmung im Kreis der bolschewistischen Führung während einer heftigen Krise - dem Konflikt über den Vertrag von Brest-Litowsk im Februar 1918 - lebhaft zu veranschaulichen, als Beispiel für seine außergewöhnlichen schriftstellerischen Fähigkeiten und sein psychologisches Verständnis würdigen. (25)
In Swains Biographie wird sehr deutlich, was die Antipathie der beiden Professoren gegen Deutschers Trilogie zu bedeuten hat. Im Ton des Anklägers schreibt Swain: "Deutscher hat den Trotzki-Mythos hingenommen und sogar gefördert, die Auffassung nämlich, er sei ‘der beste Bolschewik’ gewesen: Zusammen hätten Lenin und Trotzki die Oktoberrevolution durchgeführt, und Trotzki, unterstützt von Lenin, habe Stalin seit Ende 1922 konsequent in Frage gestellt, um die Revolution vor ihrer bürokratischen Entartung zu bewahren. Diese Version der Ereignisse stellt Trotzki als Erben Lenins dar." (26)
Ein "Mythos" ist, nach der Definition des Webster-Wörterbuchs, "eine unbegründete oder falsche Vorstellung". Doch alle Punkte, die Swain als Bestandteile des von Deutscher propagierten "Trotzki-Mythos" anführt, stützen sich auf Tatsachen, belegt durch Dokumente, aus denen zahlreiche Historiker im Lauf des letzten halben Jahrhunderts immer wieder zitiert haben. Während Swain andeutet, Deutscher verschwöre sich gegen die historische Wahrheit (er habe "den Trotzki-Mythos hingenommen und sogar gefördert"), besteht sein wirkliches Ziel darin, historische Arbeiten zu diskreditieren, welche - wie die Deutschers und vieler anderer - Jahrzehnte stalinistischer Fälschungen zerpflückt haben. Gesicherte Fakten über Trotzkis Leben werden in einer Art literarischem Standgericht abgeurteilt und zu bloßen "Mythen" erklärt. Swain und Thatcher liefern keinerlei faktischen Beweise, die einer ernsthaften Prüfung standhalten, um ihr Pauschalurteil zu stützen. Mit ihren Pseudo-Biographien wollen sie Trotzki wieder den Platz in der Geschichte zuweisen, den er hatte, bevor die Arbeiten von Deutscher oder E.H. Carr veröffentlicht wurden - in der schwärzesten Periode der Stalinschen Schule der Fälschung.
Berufung auf Autoritäten
Untersuchen wir nun die Methode, die die beiden Professoren anwenden, um gesicherte historische Fakten in Zweifel zu ziehen. Zu den bevorzugten Mitteln von Swain und Thatcher gehört es, eine unhaltbare und provokative Aussage über Trotzki zu machen, die ein Schlag ins Gesicht aller gesicherten Tatsachen ist, und dann ein Zitat aus dem Werk eines anderen Autors als Beleg anzuführen. Die Leser erfahren keine neuen Fakten, die Swains und Thatchers Behauptung beweisen. Ihnen wird lediglich gesagt, die Behauptung stütze sich auf das Werk eines anderen Autors.
Swain beispielsweise verkündet, er habe "in starkem Maß die Arbeiten anderer Wissenschaftler herangezogen. Ian Thatcher hat den Trotzki von vor 1917 wiederentdeckt und auch deutlich aufgezeigt, wie wenig Verlass manchmal auf Trotzkis eigene Schriften ist. James White hat die Beziehung zwischen Trotzki und Lenin im Jahr 1917 völlig neu bewertet und dabei gezeigt, dass die Vorstellungen, die diese beiden Männer vom Aufstand hatten, völlig unterschiedlich waren. Eric van Ree hat die Auffassung, Trotzki sei Lenins Erbe gewesen, völlig widerlegt. Richard Day hat schon vor über 30 Jahren überzeugend nachgewiesen, dass Trotzki, weit davon entfernt, Internationalist zu sein, fest von der Möglichkeit überzeugt war, der Sozialismus könne in einem Land aufgebaut werden. Umstrittener ist die von Nikolai Valentinow vor beinahe 50 Jahren vertretene These, dass Trotzki 1925 keinesfalls Gegner von Stalin, sondern mit ihm im Bunde war; Valentinows Behauptung eines bei einem geheimen Treffen geschlossenen Paktes konnte nicht nachgewiesen werden, doch anderes Beweismaterial legt nahe, dass es eine Zeit versuchter Zusammenarbeit gab." (27)
Was uns hier präsentiert wird, nennt man in der Logik die Berufung auf Autoritäten. Diese Berufung ist aber nur insoweit vertretbar, wie die Autoritäten glaubwürdig sind. Im speziellen Fall ist die Frage nicht einfach dadurch gelöst, dass man Thatcher, White, Van Ree, Day und Valentinow als Quellen nennt. Wir müssen mehr über sie erfahren, über ihr Werk und das Material, auf dessen Basis sie zu ihren Schlussfolgerungen gelangt sind. Auch müssen wir wissen, ob sie die Standpunkte, die ihnen zugeschrieben werden, auch tatsächlich vertreten haben. Wir werden noch sehen, dass gerade diese Frage von besonderer Bedeutung ist, denn wenn wir uns mit dem Werk von Swain und Thatcher befassen, können wir wirklich gar nichts als selbstverständlich voraussetzen.
Was Swains Verweis auf Professor James White von der Universität Glasgow angeht, so gehört dieser - für alle, die mit seiner Arbeit vertraut sind - wohl kaum zu den Historikern, deren Urteile zum Thema Trotzki als maßgeblich oder überhaupt als glaubwürdig akzeptiert werden können.(28)
Zu Van Ree, den Thatcher bevorzugt als Quelle heranzieht, lässt sich sagen, dass man sich seinen Schriften zu geschichtlichen Fragen mit Vorsicht, besser noch mit Schutzmaske nähern sollte. Als Ex-Maoist, der inzwischen ein leidenschaftlicher Antikommunist geworden ist, gab er vor nicht langer Zeit in einem Buch mit dem Titel "Weltrevolution: Die kommunistische Bewegung von Marx bis Kim-il-Jong" folgende Einschätzung Lenins und Trotzkis zum Besten:
"Nimmt man aber alles zusammen, so waren auch sie Schurken und standen an der Spitze von Banden politischer Verbrecher. Sie fanden Vergnügen daran, Bürgerkrieg zu führen. Sie verkündeten den Roten Terror, weil sie sich selbst für Darsteller in einem grandiosen Drama der Geschichte hielten. Sie hatten den Vorteil, dass man ihnen zu wiederholen erlaubte, woran Maximilian de Robespierre scheiterte, und sie waren entschlossen, dieses Mal niemanden am Leben zu lassen, der ihnen einmal zum Verhängnis werden könnte. Lenin und Trotzki waren stolz darauf, dass sie sich nicht ein Jota um Demokratie oder Menschenrechte kümmerten. Sie genossen es, ihre Brutalität auszuleben." (29)
Selbst wenn man den überhitzten Ton weglässt, kann keine dieser Behauptungen als Beispiel für ein nüchternes geschichtliches Urteil angeführt werden. Professor Van Ree ist offensichtlich ein sehr zorniger Mann mit vielen negativen politischen Erfahrungen. Für ein maßgebliches Urteil über die Beziehung Lenin-Trotzki ist er nicht qualifiziert. Dennoch will ich darauf hinweisen, dass nach Van Rees Darstellung in dem oben zitierten Werk Lenin und Trotzki Komplizen waren, die die gleiche verbrecherische Weltsicht teilten. Wie konnte Van Ree mit einer solchen Ansicht "die Auffassung widerlegen, dass Trotzki Lenins Erbe (war)"? In einer Diskussion über die Beziehung zwischen Lenin und Trotzki hat das Wort "Erbe" überdies mehr eine politische als eine juristische Bedeutung. Ob Trotzki als Lenins "Erbe" betrachtet werden sollte oder nicht, gehört zu den Fragen, über die Historiker vermutlich noch Jahrzehnte streiten werden. Sie kann bestimmt nicht in einem Aufsatz abschließend geklärt werden, selbst nicht von einem Historiker, der über wesentlich mehr Begabung, Wissen, Einsicht und Urteilsvermögen verfügt als Herr van Ree. Wenn Swain behauptet, van Ree habe "die Auffassung widerlegt, Trotzki sei Lenins Erbe gewesen", so beweist dies nur, dass Swain die komplexen historischen, politischen, gesellschaftlichen und theoretischen Fragen nicht genügend durchdacht hat, die eine ernsthafte Untersuchung der Beziehung zwischen Lenin und Trotzki aufwirft.
Sehen wir uns nun an, wie Swain unter Berufung auf Professor Richard Day seine eigene provokative These erhärten will, dass Trotzki, "weit davon entfernt, Internationalist zu sein, fest von der Möglichkeit überzeugt war, der Sozialismus könne in einem Land aufgebaut werden". Ich gebe gerne zu, dass ich meinen Augen nicht trauen wollte, als ich las, wie Professor Day als maßgebliche Quelle einer so haarsträubenden Aussage zitiert wurde. Anders als die Herren, über die ich mich bereits geäußert habe, ist Professor Day ein herausragender und anerkannter Historiker, der sich seit vielen Jahren auf seriöse Weise mit den Auseinandersetzungen innerhalb der sowjetischen Regierung in den 1920er Jahren über Fragen der Wirtschaftspolitik befasst. Insbesondere hat er die Schriften von E.A. Preobraschenski einer ernsthaften Analyse unterzogen und bedeutende Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Linken Opposition zu wichtigen Fragen der Wirtschaftstheorie und -politik aufgedeckt.
Swain verzerrt und fälscht Day, wenn er auf ihn verweist. In dem von Swain zitierten Buch "Leon Trotsky and the Politics of Economic Isolation" verwendet Day bestimmte Formulierungen, die nahe legen, dass Trotzki die Möglichkeit des Sozialismus in einem Land nicht ausschloss. Jedoch lehnte Trotzki die Konzeption Stalins, dass dies auf der Basis der Autarkie erreicht werden könne, ab. Days Erörterung der Position Trotzkis über den "Sozialismus in einem Land" muss man im Zusammenhang mit der Darstellung der Debatte über die Wirtschaftspolitik der Sowjetregierung in dem Buch von Day lesen. Doch Swain greift sich einige nicht ganz eindeutige Sätze Days auf den ersten Seiten des Buches heraus und verfälscht im folgenden den Kern der Analyse von "Leon Trotsky and the Politics of Economic Isolation". Days Argumentation mag zu kurz greifen, doch nichts in seinem Buch stützt Swains Behauptung, Trotzki sei kein Internationalist gewesen. (30) Es handelt sich um eine krasse Verfälschung der Auffassungen des Buches "Leon Trotsky and the Politics of Economic Isolation".
Ich möchte meine Zeit nicht mit damit vergeuden, Swains Verweis auf Valentinow zu entkräften, ein alter Menschewik und erbitterter Gegner Trotzkis. Swain führt nicht einmal ein Zitat von Valentinow an. Für seine Behauptung führt er keinerlei Belege an. Zu Valentinows Geschichte "eines bei einem geheimen Treffen geschlossenen Paktes" sagt Swain selbst, dass "sie nicht nachgewiesen werden (konnte)", also eine Erfindung war. Doch warum erwähnt Swain sie dann überhaupt?
Rhetorischer Internationalismus
Dass Swain Quellen heranzieht, von denen er selbst sagt, sie seien unzuverlässig, kennzeichnet seine zynische Haltung gegenüber den geschichtlichen Tatsachen. Er hat keine Skrupel, Behauptungen aufzustellen, die allem, was über Trotzkis Leben bekannt und dokumentiert ist, widersprechen. Er erklärt uns, dass "Trotzki an die Weltrevolution glaubte, doch nicht mehr und nicht weniger als jeder andere Bolschewik, und wie bei allen anderen Bolschewiki war dieser Glaube mehr rhetorischer Natur."(32) Wenn es nach Swain geht, gab es also keinen Unterschied darin, welche Bedeutung die Perspektive der Weltrevolution im Lebenswerk Trotzkis und dem Denken und Handeln von Molotow, Woroschilow und Stalin hatte! Wo soll man überhaupt ansetzen, um eine derartige Absurdität zu widerlegen?
Die Leser sollen glauben, dass die politischen Auffassungen, die Trotzkis politisches Handeln über einen Zeitraum von fast 40 Jahren bestimmten, und die sich in zahllosen Reden und Tausenden von Seiten an verfassten Dokumenten niedergeschlagen haben, nichts weiter seien als Imponiergehabe, ohne ernsten geistigen, emotionalen und moralischen Gehalt. Alles war nur politische Trickserei, die Tarnung von im wesentlichen nationalistischen Absichten im Zusammenhang mit dem fraktionellen Machtkampf, den Trotzki in der Sowjetunion führte. Swain schreibt:
"Seine Kritik an der fehlgeschlagenen deutschen Revolution von 1923 sollte nur einen Angriff auf seine damaligen innenpolitischen Gegner Sinowjew und Kamenew kaschieren. So verhielt es sich auch mit seinen Schriften über den britischen Generalstreik, wenn auch seine Gegner in diesem Fall Bucharin und Stalin waren. Auch sein begeistertes Eintreten für China 1927 war im wesentlichen innenpolitisch motiviert... Erst in der Emigration, 1933, als er die Konzeption des Thermidors aufgegeben hatte, beschäftigte er sich näher mit dem Gedanken, wie das Wiederaufleben der Arbeiterbewegung in Europa einen günstigen Einfluss auf die Sowjetunion ausüben und die Entartung des Arbeiterstaates aufhalten könne. Dann wurde der Internationalismus zum Mittelpunkt seines Wirkens."(33)
Swain geht augenscheinlich davon aus, dass seine studentischen Leser über die behandelten Ereignisse und Fragen keinerlei Kenntnisse haben. Er legt keine Tatsachen vor, um seine Schlussfolgerung zu stützen. Ebenso wenig versucht er, seine Thesen durch die Analyse der Schriften Trotzkis zu belegen. Dieses grobe Versäumnis widerspiegelt sein generelles Desinteresse an Trotzki als Schriftsteller. Swain weist seine Leser eigens darauf hin, dass seine Biographie das "großartige" Werk von Professor Baruch Knei-Paz, "The Social and Political Thought of Leon Trotsky", nicht berücksichtigt. Er räumt ein, dass dies Trotzki-Experten überraschen mag, verteidigt dieses Versäumnis aber damit, dass Knei-Paz den Schriften Trotzkis größere Bedeutung beimesse als ihnen zukomme. "Knei-Paz stellt Trotzkis Schriften nach bestimmten Themen zusammen, bringt frühere und spätere Aufsätze in eine zusammenhängende Darstellung; diese Darstellung macht aus Trotzki einen weitaus größeren Denker, als er wirklich war. Trotzki schrieb extrem viel, und als Journalist schrieb er gern über Themen, von denen er sehr wenig wusste." (34)
Wenn ein Historiker ein derart pauschales Urteil abgibt, sollte man erwarten, dass er seine Behauptung untermauert. Swain hätte sie beweisen sollen, indem er auf bestimmte Essays oder Artikel aufmerksam macht, an denen Trotzkis mangelnde Kenntnis der von ihm behandelten Themen zum Vorschein kommt. Swain liefert kein einziges Zitat zur Begründung seines Arguments, sondern fährt in derselben Art fort. "Trotzki konnte wunderbar schreiben, doch er war kein Philosoph." (35) Trotzki hat dies allerdings auch nie behauptet. Ungeachtet dessen war er in der Lage, die sozialen, politischen und ökonomischen Realitäten seiner Zeit tiefgründiger und genauer zu erfassen als die Philosophen seiner Generation. Wer verstand den Charakter des Imperialismus und Faschismus des 20. Jahrhunderts besser: Martin Heidegger, der sich offen zu Hitler bekannte, oder Trotzki? Wer hatte ein tieferes und klareres Verständnis des Bankrotts des Reformismus der Fabier in Großbritannien: Bertrand Russell oder Trotzki? (36)
Ein ehrlicherer und befähigterer Historiker hätte bei der Analyse von Trotzkis Rang als Schriftsteller vielleicht den folgenden Auszug aus den Tagebüchern des großen deutschen Literaturkritikers Walter Benjamin erwähnt: "3. Juni 1931... Am Abend zuvor Diskussion mit Brecht, Brentano und Hesse im Café Central. Das Gespräch kam auf Trotzki, Brecht meinte, man könne mit gutem Gründe der Ansicht sein, Trotzki sei der größte lebende europäische Schriftsteller."(37) Man kann nur spekulieren, was Swain, wäre er zugegen gewesen, zu dieser Unterhaltung im Cafe Central beigetragen hätte. "Vielleicht ja, Bertolt. Aber Trotzki ist kein Philosoph!"
Beim Durcharbeiten der gesamten Biographie muss man immer wieder über die Gleichgültigkeit staunen, die Swain gegenüber Trotzkis Schriften an den Tag legt. Viele seiner wichtigsten Werke werden kaum erwähnt oder gänzlich ignoriert. Zwar räumt Swain die entscheidende Rolle Trotzkis am Sieg der Roten Armee im Bürgerkrieg ein, übergeht aber seine bedeutsamen Schriften zur Militärtheorie. Hier geht es um eine wichtige Auslassung, denn viele der in späteren Jahren auftauchenden politischen und theoretischen Differenzen zwischen Trotzki und der Stalin-Fraktion waren in den früheren Konflikten über die Militärpolitik bereits vorweggenommen. (38) Trotzkis außergewöhnliche Manifeste und Reden, die er für die ersten vier Kongresse der Kommunistischen Internationale (1919-1922) schrieb, erwähnt Swain nicht einmal. Ebenso unterschlägt er Trotzkis weitsichtige Analyse über den Aufstieg des amerikanischen Imperialismus zu einer Weltmacht und über die künftige Entwicklung der Beziehung zwischen den USA und einem im Niedergang befindlichen und abhängigen Europa. Das hindert Swain aber nicht daran, auch noch großspurig zu verkünden, dass Trotzki "absolut kein Verständnis der europäischen Politik hatte." (39) Ebenso gut könnte man sagen, Einstein hätte kein Verständnis von Physik gehabt! Solche lächerlichen Behauptungen dienen nur einem Zweck: das Gehirn von Studenten, die mit Trotzkis Leben und mit der geschichtlichen Periode, in der er lebte, nicht vertraut sind, mit absurden und irreführenden Vorstellungen voll zu stopfen.
Swains Versuch, Trotzki in einen begeisterten Befürworter des stalinistischen Programms des "Sozialismus in einem Land" umzudeuten, stellt eine groteske Verzerrung und glatte Verfälschung der wirklichen Ansichten Trotzkis dar. Swain macht Lenin als Urheber dieser Theorie aus und merkt an, dass Stalin in seiner Rede, in der er das neue Programm bekannt gab, ein Zitat aus einem Artikel Lenins aus dem Jahr 1915 anführte. Swain unterschlägt, dass Stalin dieses Zitat aus dem Zusammenhang riss und im Sinne seiner Absichten die unzähligen Äußerungen Lenins ignorierte, in denen dieser mit Nachdruck hervorhob, dass das Schicksal des Sozialismus in Russland von der Weltrevolution abhinge. Noch schwerer wiegt, dass Swain, ob aus Unwissen, glattem Unverständnis oder vorsätzlich, Leo Trotzkis Ansichten verfälscht. Swain geht auf die Artikelserie Trotzkis aus dem Jahr 1925 ein, die unter dem Titel "Kapitalismus oder Sozialismus?" erschien, und behauptet, die Logik darin sei "eindeutig. Sozialismus in einem Land ist möglich, wenn eine richtige Wirtschaftspolitik betrieben wird und der Staat zunehmend stärker in die Wirtschaft investiert." (40)
Wenn man die Möglichkeit, mit dem Aufbau des Sozialismus in der UdSSR zu beginnen (die Trotzki befürwortete und wozu er ermutigte), so versteht, dass eine sowjetische Form des Nationalismus über einen langen Zeitraum hinweg eine realistische Option sei (was Trotzki ausdrücklich ablehnte), werden der theoretische Gehalt und die politischen Implikationen der Debatte über die Wirtschaftspolitik schlichtweg unverständlich. Selbst in Kapitalismus oder Sozialismus?, das Trotzki 1925 verfasste, als er die Auswirkungen des nationalistischen Schwenks in der theoretischen Begründung der sowjetischen Wirtschaftspolitik noch analysierte, warnte Trotzki ausdrücklich davor, dass bei einem Weiterbestehen des Weltkapitalismus über eine lange Periode der Sozialismus in einem rückständigen Land unmittelbar mit den gräßten Gefahren konfrontiert wäre. [41] Im September 1926 erklärte Trotzki, "die Linke Opposition ist vollständig vom Sieg des Sozialismus in unserem Land überzeugt, nicht weil sich unser Land aus der Weltwirtschaft herauslösen kann, sondern weil der Sieg der proletarischen Revolution auf der ganzen Welt gewiss ist". [42] Der Sozialismus konnte also in Russland aufgebaut werden, wenn die Arbeiterklasse in revolutionären Kämpfen in anderen Ländern die Macht eroberte. Trotzkis Rede vor der Fünfzehnten Parteikonferenz am 1. November 1926 stellte einen Generalangriff auf die Perspektive des nationalen Sozialismus dar. [43] Swain geht natürlich darüber hinweg, wie auch über andere entscheidende Texte, die man untersuchen muss, will man sich mit dem Thema "Sozialismus in einem Land" angemessen auseinandersetzen.
Swain über 1923
Swains Behandlung des so wichtigen Beginns von Trotzkis Kampf gegen die Degeneration der sowjetischen Kommunistischen Partei kommt einer Verteidigung der entstehenden stalinistischen Fraktion gegen die Kritik Trotzkis gleich. Besonders bezeichnend in diesem Zusammenhang ist, dass Swain sich vehement gegen einen Brief und eine Reihe von Artikeln wendet, die Trotzki Anfang Dezember 1923 unter dem Titel "Der Neue Kurs" verfasste. Swain schreibt:
"In der programmatischen Schrift Der Neue Kurs’ , geschrieben am 8. Dezember und am 11. Dezember 1923 nach einigen Querelen in der Prawda veröffentlicht, prangerte Trotzki die zunehmend bürokratische Führung der Partei an und behauptete, die alte, etablierte Führung befinde sich im Konflikt mit einer jüngeren Generation. Mit einer weit hergeholten Parallele, wie es so seine Art war, verglich er die Situation in der bolschewistischen Führung mit der Phase in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratischen Partei, in der die vordem radikalen Verbündeten von Marx und Engels beinahe unmerklich in die neue Rolle der Väter des Reformismus schlüpften. Ein schönes Bild, doch Kamenew, Stalin und Sinowjew fanden ganz gewiss keinen Gefallen an der Andeutung, dass nur Trotzki ein wahrer Revolutionär sei und sie nichts weiter als Reformisten.
Mit Der Neue Kurs’ beleidigte Trotzki nicht nur seine Kollegen im Politbüro, er überließ ihnen auch, aus bolschewistischer Sicht, die moralische Überlegenheit. Er hatte mit ihnen ein Übereinkommen getroffen und es nun gebrochen. So hatte er auch gegenüber Lenin gehandelt, als die Krise in der Brest-Litowsk-Frage am schärfsten war. Während der Debatte über die Gewerkschaften war er der Sinowjew-Kommission beigetreten, um dann zu erklären, er würde sich nicht an ihrer Arbeit beteiligen. Die Resolution über das Fraktionsverbot, die der Zehnte Parteikongress verabschiedet hatte, richtete sich ganz spezifisch gegen derartige Verhaltensweisen. Man konnte zwar unterschiedlicher Meinung darüber sein, ob Trotzkis Verhalten im Herbst 1923 schon als fraktionistisch gelten musste, doch Der Neue Kurs’ war ganz ohne Zweifel fraktionistisch. Trotzki hatte zuvor einem Kompromiss zugestimmt und dann gegen ihn verstoßen; damit hatte er natürlich den revolutionären Ruf seiner Genossen im Politibüro in Frage gestellt." [44]
Swain gibt hier keinen objektiven Bericht über die politischen Ursprünge, Fragen und Ereignisse im Zusammenhang mit dem Konflikt, der in der sowjetischen Kommunistischen Partei aufbrach, schon eher verteidigt er höchst parteilich die von Trotzki Kritisierten. Swains ärgerliche Verweise auf Trotzkis Verhalten während der Brest-Litowsk-Krise 1918 und in der Gewerkschaftsdebatte 1920 lesen sich, als seien sie aus Stalins Reden abgeschrieben. Kamenew, Sinowjew und Stalin, erklärt uns Swain, "fanden ganz gewiss keinen Gefallen" an Trotzkis Kritik, als könne dies Trotzkis Argumente in Der Neue Kurs’ irgendwie entkräften.
Es ist, vorsichtig ausgedrückt, schon eigenartig, wenn ein Historiker im Jahr 2006 Trotzki "fraktionistisches" Verhalten bei der Eröffnung eines der im weiteren Verlauf wegweisenden politischen Konflikte des zwanzigsten Jahrhunderts vorwirft. Swain, der den Vorteil des heutigen Wissensstandes hat, weiß, wohin sich die Dinge schließlich entwickelten. Aus der Unterdrückung der innerparteilichen Demokratie, wogegen Trotzki seinen Protest anmeldete, erwuchs letztendlich eine mörderische totalitäre Diktatur, die Massenmord verübte. Trotzkis Kritik hat vielleicht das Ego von Kamenew und Sinowjew gekränkt, doch das Schicksal, das die beiden Altbolschewiki 13 Jahre später durch Stalin erlitten, war weitaus schrecklicher. Und es ist geradezu unfassbar, wenn Swain Trotzkis Warnungen vor der Gefahr der politischen Degeneration der älteren Generation von Bolschewiki als "weit hergeholt" verurteilt. Die Geschichte sollte auf tragische Weise zeigen, dass Trotzkis mit dem Hinweis auf das Beispiel der deutschen sozialdemokratischen Führer das Ausmaß der Tragödie, der die bolschewistische Partei entgegenging, eher unterschätzte als übertrieb.
Was den konkreten Vorwurf angeht, es sei unangebracht und fraktionistisch gewesen, den "Neuen Kurs" zu schreiben, so gründet er sich nicht auf einer ehrlichen Wiedergabe der historischen Fakten. Swain lässt einfach unter den Tisch fallen, dass das Politbüro von einer geheimen Fraktion - Stalin, Sinowjew und Kamenew - beherrscht wurde, die nicht auf programmatischer Übereinstimmung basierte, sondern auf der gemeinsamen Entscheidung, Trotzkis politischen Einfluss zu untergraben. Trotzki arbeitete also in einem Politbüro, dessen Beratungen von Absprachen beeinträchtigt waren, die Stalin, Sinowjew und Kamenew unter sich hinter den Kulissen getroffen hatten. Überdies war Trotzkis Brief vom 8. Dezember - er bildete eines von mehreren Dokumenten, die "Den Neuen Kurs" ausmachten - von einer prinzipiellen Haltung geprägt, wie E.H. Carr 1954 überzeugend darlegte.
"Der Brief war in Form eines Kommentars zur Resolution vom 5. Dezember gehalten: Trotzki erläuterte darin, wie er die Bedeutung der Resolution verstand, und erteilte anderen Interpretationen eine Absage. Der Brief war nicht, wie später behauptet wurde, ein gezielter Angriff auf den verabschiedeten Text oder gegen andere Mitglieder des Politbüros und des Zentralkomitees. Trotzki äußerte darin die Ansichten, von denen er, wie er naiverweise annahm, seine Kollegen überzeugt hatte. Trotzki verfolgte mit diesem Brief lediglich die Absicht, die Resolution bis ins Detail zu kommentieren und seinen Sieg zu dokumentieren."[45]
Carr erklärt auch, dass das Triumvirat und Trotzki mit ganz unterschiedlichen Zielen und Kriterien an die Formulierung der Resolution über die Parteireform vom 5. Dezember 1923 herangegangen waren. Für Stalin, Sinowjew und Kamenew war der eigentliche Inhalt der Resolution von zweit- oder gar drittrangiger Bedeutung. Ihr Interesse an einer Übereinkunft mit Trotzki war von rein taktischen Erwägungen im Machtkampf bestimmt. Angesichts wachsender Opposition gegen die zunehmend bürokratischen und eigenmächtigen Methoden der Führung wollten die Mitglieder des Triumvirats einen offenen Bruch Trotzkis mit der Führung des Zentralkomitees verhindern, mindestens aber verzögern. Für Trotzki dagegen drehte sich die Resolution um ganz grundsätzliche Fragen. Carr wies auf den Unterschied zwischen Trotzki und seinen Gegnern hin. "Trotzki, gewohnt, dass Differenzen in der Partei durch Parteiresolutionen ausgefochten und beigelegt wurden, maß also einem Sieg auf dem Papier einen praktischen Wert bei, den die Resolution bei der neuen Konstellation in der Parteiführung nicht mehr hatte." [46]
Der Historiker Robert V.Daniels bestätigt Carrs Einschätzung in seinem einflussreichen Buch "The Conscience of the Revolution" . Daniels erläutert die Abfolge der Ereignisse, die zum "Neuen Kurs" führten, und schreibt: "Trotzki war sich der Feindseligkeit seiner Person gegenüber, die die Resolution nur schwach kaschierte, bewusst, und strich in einem offenen Brief an eine Parteiversammlung am 8. Dezember heraus, was die Resolution für die Reform der Partei bedeute. Dieser Brief über den Neuen Kurs bekräftigte und erklärte in leidenschaftlichen Worten die Resolution vom 5. Dezember, und hob besonders die Rolle der einfachen Parteimitgliedschaft bei ihrer Umsetzung hervor." [47]
Völlig vergebens sucht man bei Swain eine Analyse der objektiven Prozesse, die der Verschärfung des politischen Konfliktes zugrunde lagen. Er gibt praktisch keinerlei Einschätzung der Veränderungen, die durch die Neue Ökonomische Politik (NEP) innerhalb der Sowjetunion stattfanden, und wie sich diese Veränderungen innerhalb der Partei widerspiegelten. Swain charakterisiert weder die politischen noch die geistigen Eigenschaften der Gegner Trotzkis. Er untersucht nicht die Veränderung in der Zusammensetzung der Mitgliedschaft der Bolschewistischen Partei, ebenso wenig das Phänomen der Bürokratisierung, die für die Bolschewistische Partei und die sowjetische Gesellschaft so verheerende Folgen haben sollte.
Swain über Trotzkis letztes Exil
Nur 25 Seiten widmet Swain den letzten zwölf Jahren von Trotzkis Leben. Diese Darstellung als oberflächlich zu charakterisieren, wäre ein Kompliment. Das katastrophalste Ereignis der europäischen Geschichte nach dem Ersten Weltkrieg, die Machtübernahme Hitlers und seiner Nazi-Partei in Deutschland, fällt fast völlig unter den Tisch. Swain geht nicht auf die Beziehung zwischen diesem Ereignis und der wichtigsten politischen Entscheidung ein, die Trotzki in seinem letzten Exil traf - sein Ruf nach einer politischen Revolution in der UdSSR und der Aufruf zur Gründung der Vierten Internationale. Swain erwähnt kurz, dass Trotzki nach seiner Ausweisung aus der UdSSR 1929, als er in Prinkipo ankam, seine Anhänger aufforderte, in der Kommunistischen Internationale zu bleiben, und schreibt dann: "1933 hatte er seine Meinung geändert..."[48] Das katastrophale Ereignis, das diese Veränderung in der politischen Linie veranlasste - Hitlers Machtübernahme als Ergebnis des Verrats der Kommunistischen Internationale und ihrer deutschen Sektion - findet keine Erwähnung. Wir erfahren nicht, wie Swain Trotzkis Schriften über die Krise in Deutschland bewertet. Man vergleiche nur einmal das fast völlige Schweigen von Swain zu diesem Thema und E.H. Carrs Ausführungen zu Trotzkis Bemühungen, die deutsche Arbeiterklasse gegen die Gefahr des Faschismus aufzurütteln. In seinem letzten Werk, "The Twilight of the Comintern", schätzte Carr Trotzkis Schriften über die Krise in Deutschland von 1931-33 für so bedeutsam ein, dass er speziell dazu einen Anhang beifügte: "Trotzki schrieb während der Periode von Hitlers Aufstieg zur Macht so beharrlich und überwiegend so weitsichtige Kommentare über die Entwicklung in Deutschland, dass er damit einen Platz in den Geschichtsbüchern verdient."
Ähnlich tut Swain auch die Moskauer Prozesse und die anschließenden Säuberungen mit wenigen Sätzen ab, viel knapper als die kurze persönliche Beziehung Trotzkis mit Frida Kahlo in Mexiko. Trotzkis wichtigste politische Abhandlung, "Verratene Revolution", wird in einem Satz erwähnt. Seine leidenschaftlichen Artikel zur spanischen Revolution, in denen er davor warnte, dass die stalinistische Politik der Volksfront den Weg für Francos Sieg ebne, tauchen in Swains Buch gar nicht auf, auch nicht das "Übergangsprogramm", das Gründungsdokument der Vierten Internationale. Swain ignoriert auch die letzte große polemische Arbeit Trotzkis über den Charakter der UdSSR. Er beschließt seine Biographie mit der Äußerung, für Trotzki wäre es besser gewesen, nach der Oktoberrevolution von 1917 aus der Politik auszusteigen und sich ausschließlich dem Journalismus zu widmen. Dann hätte Trotzki sicherlich, wie Swain uns bereits erklärt hat, "über Themen schreiben (können), von denen er sehr wenig wusste."
Anmerkungen:
[21] Geoffrey Swain: Trotsky, S. 1. Im folgenden: Swain
[22] Thatcher, Ian: Trotsky (London und New York, 2003), S. i. Im folgenden: Thatcher
[23] Swain, S. 1.
[24] Thatcher, S. 15-16.
[25] Thatcher behauptet, "Deutscher schiebt seinen Akteuren einfach Auffassungen unter, für die es keine Belege gibt". Er zitiert einen Absatz, der, so Thatcher, "die Meinungsverschiedenheiten unter den Bolschewiki zum Friedensvertrag mit Deutschland mit dem Dilemma verglich, vor dem die Pariser Kommune stand: ob sie einen revolutionären Krieg führen sollte, und wenn ja, gegen wen..."
Dann führt Thatcher den Absatz an, gegen den er sich wendet: "Trotzki, der die russische Revolution so oft durch das Prisma der französischen sah, musste sich dieser Analogie bewusst gewesen sein. ... Er muss sich selbst in einer Rolle gesehen haben, die unter Umständen an Danton hätte erinnern können, während Lenin eine ähnliche Rolle wie Robespierre spielte. Es war so, als ob sich einen Augenblick lang zwischen ihn und Lenin der Schatten der Guillotine gestellt hätte. ... Diese Erwägung war in Trotzkis Augen entscheidend. Um das Gespenst der Guillotine zu bannen, opferte er in außerordentlicher Weise Grundsätze und persönliche Ambitionen."
Stellt man das von Thatcher gewählte Zitat dem betreffenden Absatz in Deutschers Biographie gegenüber, zeigt sich sofort, dass der Vorwurf, Deutscher gleite ins Fiktive ab, völlig unangebracht ist. Deutscher stellt klar, dass er zu einer Analogie griff, um eine komplizierte politische Streitfrage zu erhellen. Seine Rekonstruktion dessen, was Trotzki in dieser Situation gedacht haben mochte - sein Dissens mit Lenin in der Frage, ob Sowjetrussland die deutschen Friedensbedingungen in Brest-Litowsk akzeptieren sollte - bewegt sich durchaus im Rahmen der Geschichtsschreibung, vor allem weil Deutscher deutlich machte, dass dieser Rekonstruktion etwas Spekulatives anhafte. Die Passagen, die Thatcher unterschlägt, sind kursiv gekennzeichnet:
"Eine gewisse Analogie zu der Situation, die sich wahrscheinlich ergeben haben würde, wenn Trotzki anders gehandelt hätte, lässt sich in dem dreiseitigen Kampf finden, der zwischen der Kommune von Paris, Danton und Robespierre während der französischen Revolution entstand. 1793 trat die Kommune (und Anacharsis Cloots) gleich Bucharin und den linken Kommunisten später, für den Krieg gegen alle antirevolutionären Regierungen Europas ein. Danton befürwortete einen Krieg gegen Preußen und ein Abkommen mit England, wo er mit Fox als Amtsnachfolger Pitts rechnete. Robespierre drängte den Konvent, gegen England zu kämpfen; auch er war bestrebt, mit Preußen ins Reine zu kommen. Danton und Robespierre schlossen sich gegen die Kommune zusammen, entzweiten sich aber, nachdem sie unterdrückt war. Der Streit wurde durch die Guillotine beigelegt.
Trotzki, der die russische Revolution so oft durch das Prisma der französischen sah, musste sich dieser Analogie bewusst gewesen sein. Er mag sich an den bemerkenswerten Brief von Engels an Viktor Adler erinnert haben, in dem alle Erschütterungen’ der französischen Revolution durch die Wechselfälle des Krieges und die in ihrem Gefolge auftretenden Streitigkeiten erklärt werden. Er muss sich selbst in einer Rolle gesehen haben, die unter Umständen an Danton hätte erinnern können, während Lenin eine ähnliche Rolle wie Robespierre spielte. Es war so, als ob sich einen Augenblick lang zwischen ihn und Lenin der Schatten der Guillotine gestellt hätte. Das heißt nicht, dass Trotzki bei dem Konflikt, wenn er ausgebrochen wäre, unbedingt, wie Danton, der Verlierer gewesen wäre; oder dass Lenin, gleich Robespierre, Neigungen gezeigt hätte, eine innere Parteistreitigkeit mit Hilfe der Guillotine beizulegen. Hier versagt uns die Analogie ihre Dienste. Es war klar, dass die Kriegspartei, falls sie Oberwasser gehabt hätte, zur Unterdrückung ihrer Gegner gezwungen gewesen wäre - sie hätte sonst ihrer Aufgabe nicht erledigen können. Eine friedliche Lösung der Krise war nur unter der Herrschaft der Friedensanhänger möglich, die es sich besser leisten konnten, die Opposition zu tolerieren. Diese Erwägung war in Trotzkis Augen entscheidend. Um das Gespenst der Guillotine zu bannen, opferte er in außerordentlicher Weise Grundsätze und persönliche Ambitionen." (Isaac Deutscher, Der bewaffnete Prophet, Stuttgart 1962, S. 369-70)
[26] Swain, S. 1.
[27] Swain, S. 1-2.
[28] Professor James White lehrt seit vielen Jahren an der Universität Glasgow und hat Thatcher stark beeinflusst. White hat sich große Mühe gegeben, Stalin zu rehabilitieren und Trotzki zu diskreditieren. In seinem Eifer, Trotzkis Bedeutung herunterzuspielen, scheint es bisweilen, als wolle er belustigen - so mit der Behauptung in einem seiner unsäglichen Artikel, den er in seinem kurzlebigen Journal of Trotsky Studies (Mitherausgeber: Ian Thatcher) veröffentlichte, dass in der entscheidenden Nacht des Oktoberaufstandes 1917 Trotzki nichts Wichtiges getan habe. "Während also andere Mitglieder des Revolutionären Militärkomitees sich in einer Form an den revolutionären Aktionen beteiligten, blieb Trotzki mit Kamenew - der gegen den Aufstand war - zurück, um das Telefon zu bedienen." (Vol. 1, 1993, S. 18). So beschrieb Professor White das Handeln des wichtigsten Strategen und Führers des Aufstands.
White hat auch immer wieder behauptet, und dabei eine gesicherte historische Tatsache missachtet, die politische Linie Stalins gegenüber der provisorischen Regierung im März 1917 habe sich mehr oder weniger mit jener gedeckt, die Lenin vertrat, als er im April nach Russland zurückkehrte. Zur speziellen Frage der Beziehung Trotzki-Lenin im Jahr 1917 ist seit langem bekannt, und auch Trotzki berichtet in seiner Biographie aus dem Jahr 1929 darüber, dass es zwischen den beiden wichtigsten Führern der bolschewistischen Partei über die Ausführung des Aufstandes unterschiedliche Standpunkte gab. Die Differenzen bezogen sich auf die Taktik, nicht auf die "Vision".
[29] http://www.nlpvf.nl/docs/VanRee_WorldRevolution_screen.pdf, S. 25.
[30] Eine Beschäftigung mit Days Argumenten würde eine detaillierte Auseinandersetzung erfordern. Seine These lässt sich nicht auf einen einfachen Satz reduzieren. Day behauptet nirgends, es gebe eine Ähnlichkeit gab zwischen dem "Sozialismus in einem Land", wie er in Stalins Programm Ausdruck fand, und Trotzkis Auffassung, dass ein sozialistischer Aufbau in der UdSSR möglich sei, solange dieser Aufbau die Notwendigkeit der Verbindung mit dem Weltmarkt anerkenne und sich auf eine korrekte internationale revolutionäre Politik stütze. Day bezeichnet Stalins Bemühungen zur Verteidigung eines Wirtschaftsnationalismus als "vollkommenen Unsinn", der in einem demoralisierten politischen Umfeld akzeptiert wurde, "in dem die Partei getäuscht werden wollte". Es sei Stalin gelungen, durch die "geschickte Anordnung von Zitaten einer Auffassung eine gewisse juristische Raffinesse zu verleihen, die sonst als verachtenswürdiger Schwindel abgetan worden wäre." [Leon Trotsky and the Politics of Economic Isolation (Cambridge, 1973), S. 100-101]. Mit diesem letzten Satz ist Stalins Vorgehensweise wohl zutreffend beschrieben.
[31] Dies ist nicht nur meine eigene subjektive Meinung. Nach der Lektüre von Swains verfälschter Darstellung des Themas kontaktierte ich Professor Day in Kanada und machte ihn auf diese Sache aufmerksam. In einer E-Mail vom 13. März 2007 zitierte ich die entscheidende Stelle aus Swains Biographie und fragte Professor Day, ob er davon wisse. Ich fügte hinzu, das Zitat von Swain "kommt mir vor wie eine grobe Verzerrung Ihres Standpunktes in "Leon Trotsky and the Politics of Economic Isolation" . Nach meinem Verständnis war für Sie die entscheidende Frage im innerparteilichen Kampf um die Wirtschaftspolitik, ob der Sozialismus in einem isolierten Land aufgebaut werden könne. In dieser entscheidenden Frage war die Position Trotzkis - wie Sie immer wieder betont haben - den Konzeptionen Preobraschenskis, von Stalin ganz zu schweigen, diametral entgegengesetzt."
Professor Day antwortete mir am gleichen Tag und schrieb: "Sie haben völlig Recht, was meine Auffassung betrifft." Dann fügte er hinzu: "Es ist ja schon so viel Müll über Trotzki geschrieben worden, und dass Professor Swain diese Müllhalde noch größer macht, finde ich betrüblich. Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, wie irgendjemand über Trotzki sagen kann, er sei nicht durch und durch ‘Internationalist’ gewesen. Eine atemberaubende Fehldeutung der historischen Ereignisse."
[32] Swain, S. 2.
[33] Swain, S. 3.
[34] Swain, S. 3. Dass Swain das Werk von Knei-Paz völlig unberücksichtigt lässt, zeigt, dass er mit seiner Biographie unlautere Absichten verfolgt. Er kann keine sinnvolle Verwendung finden für das Werk von Knei-Paz, dessen Ausgangspunkt die Anerkenntnis bildet, dass Trotzki ein wichtiger politischer Denker und eine bedeutende Erscheinung im europäischen Kulturleben des 20. Jahrhunderts war. Für Knei-Paz war Trotzki nicht nur "der Inbegriff eines Revolutionärs in einem Zeitalter, dem es an revolutionären Persönlichkeiten nicht gemangelt hat". Trotzkis "Leistungen auf dem Gebiet der Theorie und Ideen sind in vielerlei Hinsicht nicht weniger erstaunlich: Er gehörte zu den Ersten, die die Entstehung von gesellschaftlichen Veränderungen in rückständigen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts analysierten, und er gehörte auch zu den Ersten, die versuchten, die politischen Folgen zu erklären, die sich fast zwangsläufig aus solchen Veränderungen ergaben. Er war sein ganzes Leben lang ein äußerst produktiver Schriftsteller, und der politische Denker in ihm war ebenso ein integraler Bestandteil seiner Persönlichkeit wie der besser bekannte Mann der Tat."
[35] Swain, S. 3.
[36] Trotzki schrieb sehr wohl viele glänzende Essays über die Philosophie des dialektischen Materialismus. Doch Swain schweigt sich darüber aus, und er zeigt auch nicht das geringste Interesse an der philosophischen Methode Trotzkis, die in seinen Schriften zum Ausdruck kommt.
[37] Selected Writings, Volume 2: 1927-1934 (Cambridge, MA, 1999), S. 477.
[38] Swain schreibt Trotzki zwar das Verdienst für den Sieg der Roten Armee im Bürgerkrieg zu, bezeichnet und analysiert aber nicht die die Aspekte seiner militärischen Führungsrolle, die entscheidend für den Sieg der revolutionären Streitkräfte waren. Dem interessierten Leser, der Trotzkis Entwicklung als Militärtheoretiker und revolutionärer Heerführer ernsthaft studieren will, sei das scharfsinnige Werk von Oberst Harold Walter Nelson "Leon Trotsky and the Art of Insurrection" [London, 1988] empfohlen. Der Militärexperte Oberst Nelson (er unterrichtete am Army War College der USA) liefert eine durchwegs objektive und professionelle Darstellung von Trotzkis Heranreifen zu einer bedeutenden Figur der Militärgeschichte. Nelson konzentriert sich auf den Zeitraum zwischen 1905 und 1917 und Trotzki erscheint in seiner Darstellung als "authentischer revolutionärer General, der entscheidende revolutionäre Aktionen leiten und koordinieren kann. Er gelangt zu einem Verständnis der Probleme des bewaffneten Konflikts, welche die Revolution lösen muss, er gewinnt eine Einschätzung der Mittel, die der Revolution zur Lösung der Probleme zur Verfügung stehen, er entwickelt Pläne, diese Mittel optimal zu nutzen, und er erkennt die Faktoren, die die Männer motivieren, die für den revolutionären Sieg kämpfen müssen." (S.4)
[39] Swain, S. 195.
[40] Swain, S. 160.
[41] Trotzki Schriften 3.1, Linke Opposition und IV. Internationale 1923-1926, Hamburg 1997, S. 439
[42] The Challenge of the Left Opposition 1926-27 (New York, 1980), S. 106.
[43] Trotzki Schriften 3.1, Linke Opposition IV. Internationale 1923-1926, Hamburg 1997, S. 542f.
[44] Swain, S. 152.
[45] The Interregnum (London, 1954) S. 318.
[46] Ebenda, S. 313.
[47] The Conscience of the Revolution: Communist Opposition in Soviet Russia (New York: Simon & Schuster, 1960), S. 223.
[48] Swain, S. 194.
[49] New York, 1982, S. 433