Nach dem Massaker von Westbengalen: Indische Arbeiter brauchen sozialistisches Programm

Die Erschießung mehrerer Demonstranten durch die Polizei in Nandigram am 14. März hat weit verbreiteter Proteste in ganz Indien ausgelöst. Nun versucht die Regierung von Westbengalen verzweifelt, die Krise in den Griff zu bekommen. Westbengalen wird von einer Linksfront unter Führung der Kommunistischen Partei Indiens (Marxisten) [CPM] regiert.

Am 17. März erklärten die Parteien der Linksfront öffentlich, die Regierung des Bundesstaates werde kein Land in Nandigram enteignen, um eine Sonderwirtschaftszone (SEZ) zu errichten. Die Regierung gab außerdem bekannt, sie werde die massive Polizeipräsenz in dem Gebiet "schrittweise" zurückschrauben und die Beschlagnahmung von Land in Westbengalen für SEZ’s vorerst stoppen.

Am 14. März wurden 14 Bauern getötet und mindestens 75 verletzt, als die Polizei das Feuer auf Demonstranten eröffnete. Die Bauern hatten gegen Pläne der Regierung protestiert, über vier Hektar Land für eine Sonderwirtschaftszone zu beschlagnahmen. Die SEZ soll von der indonesischen Salim-Gruppe betrieben werden. Buddadeb Bhattacharjee, Regierungschef des Bundesstaates und Politbüromitglied der Kommunistischen Partei Indiens (Marxisten), entsandte 4.000 schwer bewaffnete Polizisten, um die Autorität der Regierung in diesem Gebiet wiederherzustellen. Mittlerweile gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass Schläger der CPM an dem Polizeiangriff beteiligt waren.

Am 16. März kam es in ganz Westbengalen zu empörten Protestdemonstrationen und einem Generalstreik. Die Menschen blockierten Straßen und Eisenbahnschienen im gesamten Bundesstaat. In Kalkutta, der Hauptstadt Westbengalens, stellten sich Demonstranten der Polizei entgegen. Schulen und Hochschulen waren geschlossen, und die Regierungsbüros waren allenfalls zu 20 bis 25 Prozent besetzt. Im Auftrag der Regierung verhaftete die Polizei im ganzen Bundesstaat etwa 1.400 Personen.

Der Zorn der Massen war so gewaltig, dass drei der an der Linksfront beteiligten Parteien sich bemüßigt fühlten, den Ausstand zu unterstützten - die Kommunistische Partei Indiens (CPI), die Revolutionäre Sozialistische Partei (RSP) und der Vorwärts-Block (FB). Sie versuchten, sich von dem Vorgehen des CPM-Regierungschefs zu distanzieren, obwohl dieser lediglich die wirtschaftsfreundlichen "Reformen" durchzusetzen versucht, die von der ganzen Linksfront beschlossen worden waren.

Der Streik wurde außerdem von dem oppositionellen Trinamul (Graswurzel)-Kongress unterstützt, einem rechtsgerichteten Parteienbündnis, zu dem auch die rassistische Hindu-Partei Bharatiya Janatha (BJP) gehört. Diese bürgerlichen Parteien, die in der arbeitenden Bevölkerung weitgehend diskreditiert sind, versuchen, die allgemeine Empörung über die westbengalische Regierung auszunutzen, um Wasser auf die Mühlen ihres eigenen rechten Programms zu leiten.

Die BJP und der ganze Trinamul-Kongress sind stramme Anhänger der Wirtschafts-"Reformen", deren Ziel das Anlocken internationales Kapitals auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung ist. Schon Indiens frühere Regierung, eine von der BJP geführte Koalition, hatte Sonderwirtschaftszonen eingerichtet. Heute weitet die indische Regierung dieses Programm auf das ganze Land aus. An der Regierung ist eine Koalition namens United Progressive Alliance (UPA) unter Führung der Kongress-Partei, der traditionellen Regierungspartei der indischen Bourgeoisie.

Die CPM und ihre Verbündeten haben Bedingungen geschaffen, die es diesen rechten Parteien ermöglichen, sich als Verteidiger der Bauern aufzuspielen. Sie beschuldigen die angeblich "linke" Regierung Westbengalens, zum Nutzen des indischen und des internationalen Kapitals Land zu enteignen.

Auf nationaler Ebene stützt die Linksfront die Regierungskoalition der UPA. Diese Regierung sorgt für steigende Lebensmittelpreise und wachsende Arbeitslosigkeit; im Interesse der Finanzelite fördert sie großzügig das Militär und die Entwicklung einer Infrastruktur, die eine intensivere Ausbeutung der Menschen und der natürlichen Reichtümer erlaubt.

Solange die Arbeiterklasse nicht mit ihrem eigenen, unabhängigen sozialistischen Programm auftritt, um die Probleme der Armut auf dem Land zu lösen, haben reaktionäre Kräfte - die Kongress-Partei, die rechtsgerichtete BJP und der Trinamul-Kongress - freie Hand. Sie vereinnahmen den Aufruhr der Bauern und Landarbeiter gegen die kriminelle Politik der "sozialistischen" Linksfront, um die indische Politik insgesamt noch weiter nach rechts zu rücken.

Einige führende Journalisten haben bereits triumphierend festgestellt, dass die westbengalische Regierung durch ihre brutale Repression die politische Glaubwürdigkeit der Linksfront stark erschüttert hat. Kommentatoren nehmen jetzt die Opposition der Linksfront gegen die Pläne der UPA aufs Korn, das Arbeitsrecht zu untergraben und weitere arbeiterfeindliche "Reformen" einzuführen. Sie erwarten, dass eine durch die Krise geschwächte Linksfront noch leichter manipulierbar sein wird.

In den Tagen unmittelbar nach dem Massaker vom 14. März hielten die CPM und ihre wichtigsten Verbündeten in der Linksfront, die Kommunistische Partei Indiens, der Vorwärts-Block und die Revolutionäre Sozialistische Partei, mehrere Sonderkonferenzen ab. Mehrere Koalitionspartner der CPM drohten, aus Protest gegen die Polizeiaktionen bei Nandigram aus der westbengalischen Regierung auszutreten. Das war jedoch ein Täuschungsmanöver: Sie wollten sich bloß von dem Massaker distanzieren und die Tragödie von Nandigram nutzen, um ein stärkeres Mitspracherecht in der Regierung zu erzwingen.

Die Konferenzen endeten damit, dass die Partner der Linksfront-Regierung künftig bei der Durchsetzung der wirtschaftsfreundlichen Politik noch enger zusammenarbeiten wollen.

Bhattacharjee verweigerte jede Entschuldigung für das Massaker. Er behauptet nach wie vor, der Widerstand der Bauern gegen die Landenteignungen sei das Ergebnis einer Provokation rechter Kräfte und der Naxaliten (Maoisten) gewesen. Allerdings gibt er heute zu, "die Situation nicht richtig eingeschätzt" zu haben, und hat versprochen, er werde sich in Zukunft besser mit den anderen Teilen der Linksfront absprechen. Als Zugeständnis stattete Bhattacharjee dem Hauptquartier der CPI einen Besuch ab, anstatt darauf zu bestehen, dass die Führer der CPI ihn besuchen.

Am Tag nach dem Massaker kritisierte Jyoti Basu, die graue Eminenz der CPM, Bhattacharjee öffentlich, weil er "das Kabinett der Linksfront und sogar das Kernkomitee des Kabinetts... im Dunkeln gelassen" habe. Mit Hinweis auf seine "lange politische Erfahrung" warnte er, die CPM könne die Regierung nicht alleine führen. "Es muss eine Koalitionsregierung sein", stellte Basu nachdrücklich fest.

Die Politik der Linksfront-Regierung, Sonderwirtschaftszonen in Westbengalen aufzubauen, ist Teil der Strategie der herrschenden Klassen, Indien in die Weltwirtschaft zu integrieren. Basu, ein ehemaliger Regierungschef Westbengalens, hat selbst den Weg für die neo-liberalen Wirtschaftsreformen des Bundesstaates bereitet. Er war der erste, der Delegationen aus Politik und Wirtschaft in die Hauptstädte des Westens entsandte, um ausländische Direktinvestitionen anzulocken.

In den ersten vier Jahrzehnten seit Indiens Unabhängigkeit verfolgten beide stalinistischen Parteien, die CPM und die CPI, einen nationalreformistischen Kurs: Sie versuchten, im Rahmen der bürgerlichen indischen Republik soziale Reformen zu erreichen. Zwar gingen nicht beide Parteien, CPM und CPI, in der tagtäglichen Zusammenarbeit mit der Kongress-Partei gleich weit, doch an der stalinistisch-menschewistischen Theorie der Revolution in zwei Stufen hielten beide stur fest.

Sie behaupteten, das Vermächtnis der imperialistischen Unterdrückung und der feudalen Rückständigkeit bedeute, dass die Arbeiterklasse in absehbarer Zukunft nur die Rolle eines Bündnispartners der angeblich fortschrittlichen, "anti-feudalen" und "anti-imperialistischen" Elemente der indischen Bourgeoisie spielen könne. Das heißt, sie müsse zuerst gemeinsam mit der Bourgeoisie den indischen Kapitalismus festigen.

Als sich Anfang und Mitte der 1970er Jahre das staatliche Entwicklungsprogramm der indischen Bourgeoisie als unwirksam erwies, und Indien von Arbeiter- und Bauernunruhen erschüttert wurde, war die CPI formal mit Indira Ghandis Kongress-Partei verbündet. Sie ging soweit, Ghandis Ausrufung des Notstandes gut zu heißen. Indessen machte die CPM gemeinsame Sache mit der Janata Party - einem Bündnis bürgerlicher Parteien, das von der rechtslastigen Jana Sangh (einem Vorläufer der BJP) bis hin zu den Sozialdemokraten reichte.

Die westbengalische Linksfront-Regierung entstand 1977, als die CPM die Arbeiterklasse der Janata Party unterordnete. Bei den Wahlen von 1977 in Westbengalen plante die CPM anfangs, der Janata Party eine Mehrheit der Sitze in einem Links-Janata-Wahlbündnis zu überlassen. Als das Bündnis platzte, weil Janata mit der Anzahl der ihr zugestandenen Sitze nicht zufrieden war, wurden die Stalinisten von einer Welle der Unzufriedenheit der Arbeiter und Bauern an die Macht gespült. Sie reagierten darauf wie gelähmt.

In ihren ersten Amtsperioden führte die westbengalische Linksfront beschränkte Landreformen durch, die ihr eine starke Basis unter der ländlichen Bevölkerung sicherte. Gleichzeitig hielt sich die Linksfront loyal an die Verfassung und die politischen Konventionen der bürgerlichen indischen Republik.

Seit 1991 verwarfen die Stalinisten jedoch ihre traditionelle nationalreformistische Politik. Die CPM und die Linksfront beteiligten sich nicht weniger an der Demontage der staatlich regulierten Wirtschaft als das ganze politische Establishment Indiens. Sie verfolgten das Ziel, Indien durch Privatisierung, Deregulierung und Kürzungen bei den Agrarsubventionen und bei den öffentlichen und sozialen Einrichtungen in die kapitalistische Weltwirtschaft zu integrieren.

Kurz vor den Wahlen in letzten Jahr bereitete Battacharjee einen weiteren Rechtsschwenk vor und kündigte eine investorenfreundliche Politik an, auch wenn er selbst weiterhin im Brustton der Überzeugung verkündete, die Menschheit werde sich letztlich in Richtung Sozialismus entwickeln. "In meiner Arbeit versuche ich", sagte er "von der heutigen Realität auszugehen... Da wir praktische Menschen sind, wissen wir, dass es weise ist, kapitalistisch zu sein, wenn die ganze Welt den Kapitalismus anbetet."

Im Verlauf der letzten paar Monate haben die CPM und Battacharjee ihre Kampagne verstärkt, die rasche "Industrialisierung und Entwicklung" Westbengalens voranzutreiben. Sie argumentieren, der Schlüssel für wirtschaftliches Wachstum und sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt bestehe darin, indisches und internationales Kapital für Investitionen in Westbengalen zu gewinnen.

Die Ereignisse in Nandigram sind das blutige Ergebnis dieser Politik.

Mit der Behauptung, Investitionen des Kapitals würden sich am Ende auch für die Massen positiv auswirken, imitieren die Stalinisten nur die Neo-Liberalen.

Die Globalisierung der Produktion im Rahmen des Kapitalismus erzeugt eine immer tiefere soziale Ungleichheit in jedem Land der Welt. Die Jagd der multinationalen Konzerne nach Profit führte in den entwickelten Ländern zu massiven Angriffen auf Löhne und Sozialprogramme. In den unentwickelten Ländern wurden die Hunderten Millionen, die dort in Armut leben, für das internationale Kapital zu einer Quelle billiger Arbeitskraft.

Indien muss die harte Realität akzeptieren, dass diese Politik die Lebensbedingungen der Arbeiter und der ländlichen Armen nicht verbessert hat. Tausende von Bauern haben in den letzten Jahren aufgrund untragbarer Zustände Selbstmord begangen.

"Industrialisierung und Entwicklung" für das Wohl der Mehrheit der Gesellschaft können nicht durch die Integration des Landes in das Ausbeutungssystem des Weltkapitalismus erreicht werden, wie die CPM behauptet, oder durch die Anbiederung an internationale Kapitalisten, die den Globus nach den billigsten Arbeitskräften und den höchstmöglichen Profitraten abgrasen.

Gleichzeitig haben revolutionäre Entwicklungen in Wissenschaft und Technologie den Grundstein gelegt, die Armut zu überwinden und den Lebensstandard der Massen weltweit zu heben, auch in Indien - aber nur, wenn das kapitalistische Profitsystem abgeschafft und eine auf Planung beruhende, sozialistische Wirtschaft aufgebaut wird.

Im Gegensatz zur Politik der herrschenden Klassen und ihrer Anhängsel, der CPM und der Linksfront, muss die Arbeiterklasse ein eigenes, sozialistisches Programm entwickeln, um die sozialen Probleme ihrer Klasse wie die der Landlosen und der armen Landbevölkerung zu lösen. Dies bedeutet nichts Geringeres als die Reorganisierung der Wirtschaft zum Nutzen der überwiegenden Mehrheit der Menschen und nicht für die Interessen einer privilegierten Minderheit.

Dieses Programm kann nur als Teil des Kampfs für den internationalen Sozialismus durchgesetzt werden. Die Arbeiterklasse muss im Bündnis mit der unterdrückten Bauernschaft für Arbeiter- und Bauernregierungen und für die Vereinigten Sozialistischen Staaten des indischen Subkontinents und Südasiens kämpfen.

Das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) und sein Organ, die World Socialist Web Site, vertreten diese Perspektive auf der Grundlage der Permanenten Revolution von Leo Trotzki. Wir rufen alle klassenbewussten Arbeiter, die Jugend und Intellektuellen dazu auf, sich mit dieser Perspektive auseinander zu setzen und an dem Kampf teilzunehmen, eine Sektion des IKVI in Indien aufzubauen.

Siehe auch:
Nach dem Massaker in Westbengalen wenden sich prominente Intellektuelle von der stalinistischen Regierung ab
(11. April 2007)
Stalinistische Regierung in Westbengalen verübt Massaker an Bauern
( 24. März 2007)
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