Während die internationalen Medien eine türkische Beteiligung an der geplanten UN-Truppe im Libanon bereits als ausgemachte Sache ansehen, entbrennt der Streit über eine solche Truppenentsendung in der Türkei umso heftiger, je näher sie rückt. Dabei soll es um etwa 1.000 Soldaten gehen.
Exemplarisch zeigt sich die Zerstrittenheit daran, dass die Regierung unter Premierminister Recep Tayip Erdogan von der gemäßigt islamistischen AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) für eine türkische Beteiligung eintritt, Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer sie dagegen ablehnt.
Der Großteil der Bevölkerung in der Türkei ist gegen eine Truppenentsendung. Die meisten Türken haben die brutale Aggression Israels gegen den Libanon mit Abscheu und Entsetzen verfolgt. Weit verbreitet ist der begründete Verdacht, die geplante internationale Militärpräsenz solle das ausführen, was Israel trotz aller Brutalität nicht geschafft hat: Die Entwaffnung der Hisbollah und die Verwandlung des Libanon in ein westliches Protektorat.
Die traditionelle Basis der rechten, konservativen und islamischen Parteien, die kleinen Bauern und Bewohner der Armenviertel, ist ohnehin in Aufruhr. Als Folge der neoliberalen, an den Vorgaben von EU und IWF orientierten Politik der Marktreformen der Regierung Erdogan sind die Reallöhne gesunken und viele Bauern stehen vor dem Ruin. Massive Proteste von Haselnuss-, Wein- und anderen Kleinbauern waren in den letzten Wochen die Folge.
Das islamistische Lager, auch die AKP selbst, ist gespalten. Erdogan selbst soll in Führungskreisen der AKP vor einer Wiederholung des 1. März 2003 gewarnt haben. Damals verweigerte das von der AKP dominierte Parlament seiner Regierung die Zustimmung, amerikanischen Truppen die Nutzung türkischen Territoriums zur Invasion des Irak über eine "nördliche Front" zu erlauben. Eine deutliche Verschlechterung des Verhältnisses der türkischen Regierung zu den USA und eine stärkere Rolle der kurdischen Nationalisten im Nordirak waren die Folge.
Andere Befürworter wie Außenminister Abdullah Gül beschwören das Osmanische Reich - das allerdings in arabischen Ländern wenig positive Erinnerungen weckt - oder stellen einen türkischen Einsatz als Hilfe für die Libanesen dar.
Die Regierung wird deshalb auch nicht müde zu betonen, man werde ausschließlich einen humanitären Hilfseinsatz führen und auf keinen Fall in Kämpfe mit der Hisbollah verwickelt werden. Gül deutete bei seinem Besuch im Libanon nicht allzu subtil an, dass die Türkei keineswegs die Absicht habe, sich mit der Hisbollah anzulegen: "Wir werden nichts tun, ohne die Wünsche der libanesischen Regierung, des libanesischen Volkes und der Gruppen im Libanon zu berücksichtigen." Mit den libanesischen "Gruppen" konnte natürlich nur die Hisbollah gemeint sein.
Eine Quadratur des Kreises, denn die USA und Israel sind gerade deshalb vehemente Befürworter eines Einsatzes der Türkei im Libanon, damit eine Entwaffnung der Hisbollah ein "islamisches" Feigenblatt erhält. Andere muslimische Länder wie Bangladesch, Indonesien und Malaysia, die ebenfalls die Bereitschaft bekundet haben, Truppen zu stellen, erkennen Israel nicht offiziell an. Jerusalem lehnt den Einsatz solcher Länder ab und bevorzugt das NATO-Land Türkei, mit dem Israel langjährige diplomatische und militärische Beziehungen verbinden. Die USA, die der Türkei immer wieder internationale Kredite verschaffen und das Land außerdem mit Rüstungsgütern beliefern, sollen sogar zeitweilig eine mögliche türkische Führungsrolle ins Spiel gebracht haben.
Aber auch Syrien hat sich für eine Beteiligung der Türkei ausgesprochen und sogar zugesagt, sein Territorium für logistische Zwecke zur Verfügung zu stellen. Die Zusage kam nach einem Besuch Güls in Damaskus, bei dem es offiziell darum ging, Syrien zu einem mäßigenden Einfluss auf die Hisbollah anzuhalten. Hinter den Kulissen dürfte es aber vermutlich im Gegenzug auch türkische Zusicherungen gegeben haben, nicht gegen die Hisbollah vorzugehen.
In der türkischen Presse ist eine türkische Beteiligung am Libanon-Einsatz über ideologische Grenzen hinweg umstritten. Die Kommentare in den auflagenstärksten, liberalen und konservativen säkularen Blättern schwanken zwischen der Hoffnung, die Türkei könne durch eine Truppenentsendung mehr außenpolitischen Einfluss gewinnen und müsse zur Stabilisierung ihres regionalen Umfelds beitragen, und der Angst, im Interesse Israels und der USA in einen blutigen Konflikt hineingezogen zu werden.
Auch eine ganze Reihe von AKP-Abgeordneten, darunter der frühere Außenminister Yasar Yakis, lehnt die Entsendung türkischer Truppen mit dieser Begründung ab. Die größte Oppositionsfraktion im Parlament, die linkskemalistische CHP (Republikanische Volkspartei), hat sich ebenso dagegen ausgesprochen wie die SP (Glückseligkeitspartei) von Recai Kutan und Necmettin Erbakan, dem Begründer des politischen Islam in der Türkei. Die SP ist als islamistische Minderheit aus der 2001 verbotenen FP (Tugendpartei) hervorgegangen. Die AKP stellte bei der damaligen Spaltung die Mehrheit.
Vehement gegen einen türkischen Truppeneinsatz im Libanon sind auch die rechtsextremen Nationalisten. Der Führer der faschistischen MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) Devlet Bahceli erklärte, türkische Truppen sollten in die Kandil-Berge im Nordirak und nicht in den Libanon geschickt werden. In den Kandil-Bergen befinden sich einige tausend Kämpfer der kurdisch-nationalistischen Guerilla PKK (Arbeiterpartei Kurdistans), seit diese sich vor sechs Jahren dorthin zurückgezogen hat. Seit zwei Jahren verübt sie auch in der Türkei wieder Anschläge auf türkische Soldaten.
Kaum diplomatischer als Bahceli drückte sich Staatspräsident Sezer am 25. August aus, als er erklärte: "Die Türkei hat genug Probleme im eigenen Land, es ist nicht ihre Aufgabe, die Sicherheitsprobleme anderer Länder zu lösen." Rhetorisch fragte er: "Warum sollte die türkische Armee im Libanon sein, wenn die Türkei keine Unterstützung in ihrem Kampf gegen terroristische Organisationen bekommen kann?" Die Türkei drängt seit Jahren darauf, dass die USA entweder selbst militärisch gegen die PKK im Nordirak vorgehen oder der türkischen Armee eine Offensive erlauben.
Die USA sind allerdings nicht daran interessiert, ihre ohne überstrapazierten Besatzungstruppen auch noch auf die PKK zu verschwenden, eine Organisation, welche die Besatzung des Irak ausdrücklich politisch unterstützt. Das proamerikanische Marionettenregime in Bagdad ist zu einer solchen Operation - zusätzlich zu ihrer eigentlichen Aufgabe, der Unterwerfung des Widertands gegen die Besatzung - ebenfalls nicht in der Lage. Und die den Nordirak beherrschenden kurdisch-nationalistischen Parteien sind zwar treue Stützen der US-Besatzer, wollen die faktisch sehr weitreichende Autonomie ihres Gebiets aber nicht durch den Einmarsch türkischer Truppen gefährdet sehen.
Als Geste des Entgegenkommens gegenüber der Türkei ernannten die USA vor wenigen Wochen einen Sonderbeauftragten zur Lösung des PKK-Problems und riefen die Organisation außerdem dazu auf, ihre Waffen niederzulegen und die Gewalt zu beenden. Diese reagierte mit dem Angebot eines Waffenstillstandes an die Türkei zum 1. September - falls Ankara mit ihr über Autonomie für die Kurden und Straffreiheit für PKK-Kämpfer verhandle.
Vertreter der AKP würdigten die Schritte der USA als Entgegenkommen. Gleichzeitig berichteten türkische Medien, türkische Kampfflugzeuge und Hubschrauber hätten die PKK-Lager im Nordirak angegriffen. Es ist aber kaum anzunehmen, dass Organisation mit mehr als zwanzig Jahren Erfahrung im Guerillakrieg davon wesentlich beeinträchtigt worden ist. Die militärischen und nationalistischen Kreise dürften diese Schritte jedenfalls wenig besänftigt haben, wie der Auftritt von Sezer zeigt, der als den Militärs nahe stehend gilt.
Die Konflikte zwischen Regierung und Militär sowie die Auseinandersetzungen mit den Kurden werden in Zukunft voraussichtlich weiter zunehmen. Ende August wird der Posten des Generalstabschefs vom gemäßigten Hilmi Özkök an den als Hardliner geltenden Yasar Büyükanit übergeben, der am 28. offiziell sein Amt antritt.
Büyükanit, der in seiner Karriere gute Kontakte zu den USA aufgebaut hat, machte am Freitag seinen unversöhnlichen Standpunkt im Kurdenkonflikt deutlich. Einem Bericht der Turkish Daily News zufolge erklärte er, dass jeder, der gegen den Terrorismus kämpfe, gesetzmäßig handle, und dass jeder, der das Militär und die Polizei angreife, schließlich bestraft werde. "Die Republik Türkei und ihr Militär sind entschlossen, diese Gruppen zu vernichten. Niemand kann sich hinter Menschenrechten oder Demokratie verstecken, wenn er dieses Land oder sein Regime angreift."
Büyükanit selbst war erst vor wenigen Monaten in der so genannten Semdinli-Affäre beschuldigt worden, in die Aktivitäten von Todesschwadronen in der überwiegend kurdischen Südosttürkei verwickelt zu sein. Das Militär blockierte eine Untersuchung gegen ihn, der ermittelnde Staatsanwalt wurde ebenso gefeuert wie ein ranghoher Polizist, der vor einem Untersuchungsausschuss gegen Büyükanit aussagte.
Durch den aggressiven Kurs der USA im Nahen Osten fühlen sich in der Türkei die rechtesten Kräfte gestärkt, die ihrerseits aggressiv auftreten.