Hegel, Marx, Engels und die Ursprünge des Marxismus

Marx after Marxism: The Philosophy of Karl Marx, von Tom Rockmore, 224 Seiten, Oxford, Blackwell Publishers, 2002

Zweiter und letzter Teil

Der Zweck von Rockmores Angriff auf Engels wird deutlich, sobald er auf Marx zu sprechen kommt. Nachdem er behauptet hat, der philosophisch ungebildete Engels habe den "Marxismus" erschaffen, indem er die Konzeptionen seines lebenslangen Weggefährten und Freundes fälschte und verzerrte, präsentiert Rockmore frisch von der Leber weg einen "neuen" Marx - einen Marx ohne die materialistische "Erzählung" (um den postmodernen Jargon zu gebrauchen), die angeblich von Engels nach dem Tode Marx' erfunden wurde. Im Gegensatz zur Darstellung von Engels und mehreren Generationen "Marxisten" hätten sich die philosophischen Anschauungen des echten Marx nicht grundlegend von jenen Hegels unterschieden. Rockmore zufolge müsse man "politisch motivierte Behauptungen über Wesensunterschiede zwischen Marx und Hegel, zwischen Marx und Philosophie und sogar zwischen Philosophie und Wissenschaft überwinden, denn nur so kann man erkennen, dass Marx letztlich nicht nur ein Philosoph oder ein deutscher Philosoph, sondern ein deutscher Hegelianer und damit ein deutscher idealistischer Philosoph war" (S. 161).

Vor Rockmore, so soll uns weisgemacht werden, leugneten und verschleierten die "Marxisten" die wahre Marxsche Verbundenheit mit dem Idealismus. Die materialistischen und antihegelianischen Positionen, die sie Marx zuschrieben, waren größtenteils das Ergebnis ihrer eigenen theoretischen Inkompetenz in philosophischen Fragen. "Engels kannte sich weder mit der Philosophie noch mit Hegel aus", schreibt Rockmore." Nach Engels waren nur wenige Marxisten, darunter Lenin, versierte Kenner Hegels. [...] Die marxistische Verunglimpfung Hegels stand einer Würdigung seiner Bedeutung für Marx' Position lange Zeit im Wege" (S. 162).

Abgesehen von Rockmores Versuch, Marx als Idealisten darzustellen, ist die Behauptung, "nur wenige Marxisten, darunter Lenin" hätten Hegel sorgfältig studiert, einfach nur dumm. Wieder verlässt sich Rockmore auf das Stillschweigen einer akademischen Gemeinschaft, die von Zynismus und Gleichgültigkeit strotzt. Er geht davon aus, dass er zumindest in dem akademischen Milieu, in dem er verkehrt, ungestraft Dinge schreiben kann, die jeder faktischen Grundlage entbehren. Hat sich Rockmore jemals die Mühe gemacht, die Schriften von G. W. Plechanow zu sichten, dem "Vater des russischen Marxismus"? Selbst jene, die Plechanows philosophische Konzeptionen ablehnen, können nicht guten Gewissens leugnen, dass er mit Hegels Schriften umfassend und tiefgründig vertraut war. Kennt Rockmore Lenins Konspekt zu Hegels 'Wissenschaft der Logik' nicht? Die "philosophischen Notizen" Lenins aus den Jahren 1914-15, in denen seine umfangreichen Anmerkungen zu Hegels Logik enthalten sind, unterstreichen die umfassende theoretische Grundlage für Lenins politische Arbeit, die erst mit ihrer späteren Veröffentlichung gebührend gewürdigt wurde. Rockmore scheint nicht zu wissen, dass gerade Lenins Konspekt zu einer bedeutenden Wiederbelebung des theoretischen Interesses marxistischer Gelehrter an Hegel beitrug - dies trifft unter anderem auch auf Lukács zu, den Rockmore dem eigenen Vernehmen nach bewundert. Was ist mit den Schriften Trotzkis, der die dialektische Methode meisterhaft beherrschte (s. Endnote 1)? Oder den Werken von frühen sowjetischen Theoretikern wie Deborin und Axelrod? Wir könnten auch die Werke späterer sowjetischer Philosophen wie Michail Lifschitz und E. W. Iljenkow erwähnen, die wichtige Beiträge zum Verständnis der Beziehung Hegel-Marx verfassten - trotz der Repression, die (während und nach Stalins Herrschaft) in der UdSSR von einer privilegierten Bürokratie ausging, die jede ernsthafte theoretische Arbeit bekämpfte.

Wir haben bereits nachgewiesen, dass Rockmores Bild von Engels als einem Positivisten, der die Bedeutung der Philosophie einfach abtat, von Engels eigenen Aussagen ad absurdum geführt wird. Auch der Gegenbeweis zu Rockmores Behauptung, Marx sei ein deutscher Idealist gewesen, ist in den Marxschen Schriften selbst zu finden. Die Art und Weise, in der Rockmore um Marx' Werk herumschleicht, eher spärlich und höchst selektiv daraus zitiert, legt den Verdacht nahe, dass er selbst merkt, auf welch brüchiger Grundlage seine These beruht. Rockmores Argumentation steht von Anfang an auf schwachen Füßen. Er erklärt zunächst, Marx sei "zum Teil selbst verantwortlich" für den weit verbreiteten Glauben, dass er mit Hegel gebrochen habe, denn er habe in einer oft zitierten Passage im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals "vage" angedeutet, seine eigene Positionen beruhten auf einer Umkehrung der Hegelschen. Seit Engels hätten Generationen von Marxisten Marx' Position als die Umkehrung der Hegelschen verstanden.

In Wirklichkeit ist die Passage, auf die sich Rockmore bezieht, in keiner Weise vage oder unklar. Im Wortlaut schrieb Marx im Januar 1873:

"Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle" (MEW Bd. 23, S. 27).

Weder im deutschen Original noch in der englischen Übersetzung findet sich in Marx' Worten irgendetwas Vages, Verstecktes oder Verwirrtes. Marx sagt mit unmissverständlicher Deutlichkeit, dass seine Methode sich grundlegend von derjenigen Hegels unterscheidet - sie ist "ihr direktes Gegenteil". Und warum? Weil Hegels Dialektik die eines Idealisten ist, für den die reale Welt lediglich ein Abbild des Denkens darstellt, während für Marx das Denken eine Widerspiegelung der realen materiellen Welt im menschlichen Denken ist. Es sei nochmals auf Marx' Formulierung über das "im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle" hingewiesen. Doch Rockmore erklärt (auf Seite 6), es reiche "für unsere Zwecke darauf hinzuweisen, dass die Theorie, nach der Wissen eine Widerspiegelung des Materiellen ist, die später von einer langen Linie von Marxisten übernommen wurde, keine Grundlage in Marx' Schriften hat." Wie gesagt, jegliche wissenschaftliche Maßstäbe sind außer Kraft.

Marx´ Schriften bringen Rockmore ziemlich ins Schwitzen. In Bezug auf Marx' Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie behauptet er: "Der Text, der von Marx nicht zur Veröffentlichung vorgesehen war, zeichnet sich durch Wiederholungen aus und ist recht qualvoll zu lesen" (S. 47). Das ist er zweifellos - für Rockmore. Der Grund für sein Unbehagen liegt darin, dass der Inhalt von Marx' Kritik keineswegs mit Rockmores Bestrebungen in Einklang zu bringen ist, Marx als hegelianischen Idealisten zu zeichnen. Mit dieser Kritik begann Marx die intensive theoretische Arbeit (zu der Engels bedeutend beitrug), die den idealistischen Rahmen von Hegels philosophischem System sprengte, seine dialektischen Methode entmystifizierte und die Grundlagen für die Entwicklung einer wirklich materialistischen Ontologie schuf, die auf einem historischen Studium des Menschen als gesellschaftlichem Wesen beruhte. Die entscheidende Errungenschaft von Marx' Kritik, für die das frühere Werk von Ludwig Feuerbach (den Rockmore praktisch nicht erwähnt) einen höchst wichtigen philosophischen Anstoß lieferte, bestand in dem Nachweis, dass Hegels spekulativer Idealismus als Mittel der historischen und gesellschaftlichen Analyse im Wesentlichen ungeeignet war. Für Hegel repräsentieren die logischen Kategorien, die er als objektive Momente in der dialektischen Entäußerung der Absoluten Idee darlegte, das tiefere innere Fundament der materiellen Wirklichkeit selbst. Er leitete die Formen des Seins aus dem dialektischen Prozess des abstrakten logischen Denkens ab. Marx wies nach, dass Hegels Verfahren die wahre Beziehung zwischen Bewusstsein und Wirklichkeit verkehrte und dadurch die wahre Erkenntnis der "bürgerlichen Gesellschaft" (wie Hegel die bestehende Gesellschaftsordnung nannte), in der die Menschheit lebte, verhinderte. Anstatt die materielle Quelle der realen gesellschaftlichen Prozesse zu entdecken, beschäftigte sich Hegel mit ihnen als abstrakte logische Beziehungen. Marx erklärte:

"Der Übergang der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft in den politischen Staat ist also der, daß der Geist jener Sphären, der an sich der Staatsgeist ist, sich nun auch als solcher zu sich verhält und als ihr Inneres sich wirklich ist. Der Übergang wird also nicht aus dem besondern Wesen der Familie etc. und dem besondern Wesen des Staats, sondern aus dem allgemeinen Verhältnis von Notwendigkeit und Freiheit hergeleitet. Es ist ganz derselbe Übergang, der in der Logik aus der Sphäre des Wesens in die Sphäre des Begriffs bewerkstelligt wird. Derselbe Übergang wird in der Naturphilosophie aus der unorganischen Natur in das Leben gemacht. Es sind immer dieselben Kategorien, die bald die Seele für diese, bald für jene Sphäre hergeben. Es kommt nur darauf an, für die einzelnen konkreten Bestimmungen die entsprechenden abstrakten aufzufinden" (MEW Bd. 1, S. 208f).

Beispielhaft zitiert Marx eine charakteristisch verschachtelte und unklare Passage aus Hegels Rechtsphilosophie, die folgendermaßen lautet:

"Die Notwendigkeit in der Idealität [schreibt Hegel] ist die Entwickelung der Idee innerhalb ihrer selbst; sie ist als subjektive Substantialität die politische Gesinnung, als objektive in Unterscheidung von jener der Organismus des Staats, der eigentlich politische Staat und seine Verfassung " (MEW Bd. 1, S. 209).

Marx stellt dann die analytische Schwäche und sogar Sophisterei heraus, die sich hinter Hegels abstruser Ausdruckweise verbirgt:

" Subjekt ist hier 'die Notwendigkeit in der Idealität', die 'Idee innerhalb ihrer selbst', Prädikat - die politische Gesinnung und die politische Verfassung. Heißt zu deutsch: Die politische Gesinnung ist die subjektive, die politische Verfassung ist die objektive Substanz des Staats. Die logische Entwicklung von Familie und bürgerlicher Gesellschaft zum Staat ist also reiner Schein, denn es ist nicht entwickelt, wie die Familiengesinnung, die bürgerliche Gesinnung, die Institution der Familie und die sozialen Institutionen als solche sich zur politischen Gesinnung und politischen Verfassung verhalten und mit ihnen zusammenhängen" (MEW Bd. 1, S. 209).

Hegel, schreibt Marx, interessiere nur "'die Idee' schlechthin, die 'logische Idee' in jedem Element, sei es des Staates, sei es der Natur, wiederzufinden, und die wirklichen Subjekte, wie hier die 'politische Verfassung', werden zu ihren bloßen Namen, so daß nur der Schein eines wirklichen Erkennens vorhanden ist. Sie sind und bleiben unbegriffene, weil nicht in ihrem spezifischen Wesen begriffene Bestimmungen " (MEW Bd. 1, S. 211, Hervorhebung hinzugefügt).

Die grundlegende Schwäche in Hegels Methode bestehe in Folgendem: "Er entwickelt sein Denken nicht aus dem Gegenstand, sondern den Gegenstand nach einem mit sich fertig und in der abstrakten Sphäre der Logik mit sich fertig gewordnen Denken. Es handelt sich nicht darum, die bestimmte Idee der politischen Verfassung zu entwickeln, sondern es handelt sich darum, der politischen Verfassung ein Verhältnis zur abstrakten Idee zu geben, sie als ein Glied ihrer Lebensgeschichte (der Idee) zu rangieren, eine offenbare Mystifikation" (MEW Bd. 1, S. 213).

Daher fasst Marx den zugrunde liegenden Fehler in Hegels Herangehensweise so zusammen: "Nicht daß das Denken sich in politischen Bestimmungen verkörpert, sondern daß die vorhandenen politischen Bestimmungen in abstrakte Gedanken verflüchtigt werden, ist die philosophische Arbeit. Nicht die Logik der Sache, sondern die Sache der Logik ist das philosophische Moment. Die Logik dient nicht zum Beweis des Staats, sondern der Staat dient zum Beweis der Logik" (MEW Bd. 1, S. 216).

Rockmore übergeht Marx' umfangreiche Kritik an Hegels Methodologie. Diese Lektüre ist ihm einfach zu "qualvoll". Er verweist kurz und vage auf Marx' Kritik an Hegels Ableitung des Staates aus der Logik, ohne dabei ihre weitreichende Bedeutung in der theoretischen Entwicklung von Marx selbst anzuerkennen. Tatsächlich versucht Rockmore sie als Missverständnis abzutun: "Wir müssen uns fragen, ob Marx' Kritik an Hegel Letzterem gerecht wird oder vielmehr auf einer falschen Lesart Hegels beruht" (S. 48). Diese Frage zeigt deutlich die intellektuelle Unaufrichtigkeit, die Rockmores Projekt zugrunde liegt. Auf der einen Seite soll Marx ein hegelianischer Idealist sein und die nachfolgende Schöpfung eines antiidealistischen "Marxismus" auf Fälschungen des materialistischen Usurpator Friedrich Engels zurückgehen. Wenn Rockmore jedoch auf der anderen Seite nicht umhin kommt, Werke von Marx anzuführen, in denen Hegel auf materialistischer Grundlage kritisiert wird, gibt der Professor seinen Lesern zu verstehen, dass Marx einfach nicht gewusst habe, wovon er redet.

Nicht weniger ausweichend verhält sich Rockmore gegenüber einer Reihe von Werken, die auf die Kritik folgten und in denen Marx (in immer intensiverer Zusammenarbeit mit Engels) die Hegelsche Dialektik materialistisch entmystifizierte und überarbeitete. Zu Marx' ausführlicher und detaillierter Analyse der Hegelschen Methode in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 hat Rockmore hat so gut wie gar nichts zu sagen. Marx überschrieb diesen Teil mit dem Titel Kritik der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt. Ich widerstehe der Versuchung, umfassend aus diesem gehaltvollen Text zu zitieren, der die bereits in der Kritik gegebene Analyse der hegelianischen Methode vertieft. Dennoch muss betont werden, dass Marx seine Niederschrift mit der Notwendigkeit begründete, sein eigenes Werk von demjenigen Hegels und seiner Epigonen abzugrenzen. Er warf bekannten Linkshegelianern wie Bruno Bauer vor, dass sie keine kritische Haltung gegenüber ihrem Lehrer eingenommen hatten. Auf der anderen Seite verlieh Marx seiner großen Bewunderung für Feuerbach Ausdruck: "Feuerbach ist der einzige, der ein ernsthaftes, ein kritisches Verhältnis zur Hegelschen Dialektik hat und wahrhafte Entdeckungen auf diesem Gebiete gemacht hat, der überhaupt der wahre Überwinder der alten Philosophie ist" (MEW EB1, S. 569). Warum hätte Marx Feuerbach derart gepriesen, wenn er sich selbst weiterhin als Hegelianer verstanden hätte?

Das nächste große Werk, das Marx gemeinsam mit Engels verfasste, Die heilige Familie, wird von Rockmore ebenfalls abgetan. Es heißt dazu: "Das Buch besteht größtenteils aus einer recht trockenen Polemik gegen Bauer und andere Linkshegelianer. Wenn er in Höchstform ist [d. h. wenn Marx Rockmores Thesen nicht im Wege steht], ist Marx ein scharfsinniger Schriftsteller, aufmerksam und schnell in seiner Reaktion auf verschiedene Nuancen bei den Autoren, die er untersucht, und fähig zu brillanten Einsichten. Dieses Buch dagegen ist beinahe vollständig polemisch, hauptsächlich eine Ansammlung von vereinfachten Ansichten [d.h. solchen, die Rockmore widerlegen], ihm fehlen die Nuancen der früheren und späteren Schriften von Marx, es verurteilt schneller als es versteht und ist voller schroffer Gegensätze" (S. 75).

Mit "Nuancen" meint Rockmore eigentlich Verschleierungen und Verwirrungen, ein Charakteristikum, das in Marx' theoretischem Werk nicht zu entdecken ist. Marx' Kritik an Hegels Position ist so klar formuliert, dass sie schwer zu verzerren und falsch wiederzugeben ist. Es ist praktisch unmöglich, die von Marx entwickelten und vertretenen Konzeptionen so darzustellen, als seien sie mit der idealistischen Spekulation Hegels vereinbar. Die heilige Familie stellt einen gewaltigen Schritt hin zur Ausarbeitung der materialistischen Geschichtsauffassung und der Identifizierung des Proletariats als objektiv revolutionärer Kraft in der bürgerlichen Gesellschaft dar. Die materielle Praxis dieser Klasse, nicht die Eigenbewegung logischer Konzepte sollte die Basis für die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft bilden. Die wahren Grundlagen der sozialen Revolution steckten nicht im Denken irgendeines Arbeiters, sondern im objektiven gesellschaftlichen Sein des Proletariats als Klasse. Die historischen Implikationen aus Marx' Kritik am deutschen spekulativen Idealismus ergaben sich aus folgender Entdeckung von Marx und Engels: "Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eignen Lebenssituation wie in der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet" (MEW Bd. 2, S. 38). Es kann nicht überraschen, dass diese höchst wichtige Passage, in der das Auftreten des Proletariats als neuer revolutionärer Klasse in den Schriften von Marx und Engels seinen bewussten theoretischen Ausdruck fand, von Rockmore nicht zitiert wird. Wahrscheinlich fand er sie zu "trocken", zu "polemisch", zu "vereinfacht" und es fehlte ihr einfach an "Nuancen", als dass sie es verdient hätte, kommentiert zu werden.

Ein weiterer wichtiger Teil von Die heilige Familie, den Rockmore bewusst ignoriert, ist der längere Abschnitt über die Entstehung des modernen Materialismus. Nachdem er verkündet hat, der Materialismus sei "als Doktrin bei Engels deutlich, aber sicherlich weniger deutlich bei Marx" (S. 5), kann Rockmore natürlich nicht darüber begeistert sein, dass Marx selbst einen brillant-prägnanten Überblick zur Entwicklung des modernen Materialismus seit dem 17. Jahrhundert und dessen wichtigen Beitrag zur Entwicklung des sozialistischen Denkens verfasst hat:

"Wie der kartesische Materialismus in die eigentliche Naturwissenschaft verläuft, so mündet die andre Richtung des französischen Materialismus direkt in den Sozialismus und Kommunismus.

Es bedarf keines großen Scharfsinns, um aus den Lehren des Materialismus von der ursprünglichen Güte und gleichen intelligenten Begabung der Menschen, der Allmacht der Erfahrung, Gewohnheit, Erziehung, dem Einflusse der äußern Umstände auf den Menschen, der hohen Bedeutung der Industrie, der Berechtigung des Genusses etc. seinen notwendigen Zusammenhang mit dem Kommunismus und Sozialismus einzusehen. Wenn der Mensch aus der Sinnenwelt und der Erfahrung in der Sinnenwelt alle Kenntnis, Empfindung etc. sich bildet, so kommt es also darauf an, die empirische Welt so einzurichten, daß er das wahrhaft Menschliche in ihr erfährt, sich angewöhnt, daß er sich als Mensch erfährt" (MEW Bd. 2, S. 138).

Aufgrund seiner abschätzigen Haltung gegenüber Marx' Kritik am Hegelschen Idealismus ist Rockmore unfähig, die Grundlagen von Marx' Theorie der kapitalistischen Gesellschaft zu verstehen, ganz zu schweigen von ihrem bedeutenden Beitrag zur Entwicklung einer wissenschaftlichen politischen Ökonomie. So schreibt Rockmore:

"Die zentrale Idee seiner eigenen [Marx'] Wirtschaftstheorie ist weder seine Werttheorie, noch seine Darstellung der Ware, noch sein Entfremdungsbegriff, noch seine Ansicht zum Fetischcharakter der Ware. Sie besteht vielmehr in der entscheidenden Einsicht, die auf Adam Smith und teilweise auf Hegel zurückgeht, dass sich die moderne Gesellschaft in einem Übergangsstadium befindet, das aus den Bestrebungen des Einzelnen entsteht, seine Bedürfnisse innerhalb des ökonomischen Rahmens der kapitalistischen Welt zu befriedigen" (S. XVI).

Diese banale, einer schlichten Hauswirtschaftslehrerin würdige Plattitüde (dass die moderne Gesellschaft aus Individuen besteht, die ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften versuchen), verkauft Rockmore als "entscheidende Einsicht", zu der Marx durch die sorgfältige Analyse der Schriften von Hegel und Adam Smith gelangt sei (Letzterem widmete Marx übrigens in seinen Theorien über den Mehrwert mehrere hundert Seiten)! Allerdings gibt es einen Zusammenhang zwischen dieser vulgären Behauptung und Rockmores Falschdarstellung von Marx' theoretischer Entwicklung. Ohne die Kritik am spekulativen Idealismus und ohne die materialistische Überarbeitung der Hegelschen Dialektik hätte Marx die wichtigsten Bestandteile seiner allgemeinen Theorie der kapitalistischen Gesellschaft nicht entwickeln können. Und eben diese Theorie als Ganze wischt Rockmore vom Tisch. Tatsächlich ergab sich Marx' "ökonomischen Wende" ab dem Jahre 1844 notwendigerweise aus der kritischen Haltung, die er gegenüber Hegels Ableitung der Welt aus der Bewegung logischer Begriffe eingenommen hatte. Die materialistische Erklärung für die wirklichen Grundlagen der menschlichen Gesellschaft und ihre notwendige Umsetzung in bestimmte Formen gesellschaftlichen Bewusstseins setzte voraus, dass die Philosophie ihre Aufmerksamkeit vom Himmel auf die Erde richtete, weg von Gott in all seinen Erscheinungsformen (auch dem philosophischen Gott in Hegels Absoluter Idee) und hin zum Menschen, weg von den abstrakten Betrachtungen reinen Denkens und hin zum Studium der Arbeit als der wirklichen Grundlage der Schöpfung, Reproduktion und kulturellen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft.

Idealismus gegen Materialismus

Trotz des umfassenden und unmissverständlichen Charakters von Marx' Kritik versucht Rockmore seine Darstellung von Marx als idealistischem Philosophen, der nicht wirklich mit Hegel brach, durch einen Griff in die terminologische Trickkiste zu retten. Er schreibt: "Wenn wir 'Idealismus' in dem Sinne verstehen, dass das Subjekt in gewisser Weise seine Welt und sich selbst hervorbringt, so war Marx zweifellos ein Idealist" (S. 70). Mit anderen Worten: Jeder, der akzeptiert, dass mit Bewusstsein ausgestattete menschliche Wesen auf die Welt einwirken und dabei die Welt und sich selbst verändern, ist ein Idealist. Diese Definition umgeht die zentrale Frage, in der sich Idealismus und Materialismus gegenüberstehen, und würde eine Vermischung der unterschiedlichsten und unvereinbarsten philosophischen Anschauungen erlauben. Folgt man Rockmores Definition, so umfasst der Idealismus alle philosophischen Tendenzen, die akzeptieren, dass das Bewusstsein eine aktive und schöpferische Kraft in der Geschichte ist.

Doch dies lässt zwei höchst bedeutsame und miteinander verbundene philosophische Probleme unbeantwortet. Das erste betrifft die Beziehung zwischen Denken und Materie, zu der sich die folgenden Fragen stellen: Existiert die Materie unabhängig vom Bewusstsein oder entsteht Bewusstsein unabhängig von der Materie? Geht die Materie dem Denken voraus oder umgekehrt? Ist die Existenz der materiellen Welt eine absolute Vorbedingung für Bewusstsein oder kann Bewusstsein (oder Geist) auch ohne die materielle Welt oder unabhängig davon existieren? Ging die Entstehung des Universums dem Bewusstsein voraus oder gab es schon Bewusstsein, bevor das Universum entstand? Das zweite Problem, das sich aus dem ersten ergibt, wirft Fragen in Bezug auf das Wesen und die Verlässlichkeit des Erkenntnisprozesses auf - d.h. inwiefern kann der Verstand das begreifen, was außerhalb von ihm existiert? Kann das Denken ein akkurates Abbild der Wirklichkeit liefern?

Je nachdem, wie sie diese Fragen beantworten, werden Philosophen dem Lager des Idealismus oder des Materialismus zugeordnet. Diejenigen, die in der einen oder anderen Form dem Denken Vorrang vor der Materie einräumen, sind Idealisten. Diejenigen, die diese Haltung ablehnen, der Materie Vorrang vor dem Bewusstsein geben und darauf bestehen, dass Bewusstsein nur aus der Entwicklung der Materie hervorgehen kann, sind Materialisten.

Rockmores Definition des Idealismus ist nur ein Taschenspielertrick, um die entscheidenden philosophischen Fragen zu verschleiern. Außerdem ist er nicht der Erste, der eine universelle Basis für den Idealismus in der unbestreitbaren Tatsache zu finden versucht, dass menschliche Wesen mit Bewusstsein ausgestattet sind. So wies Engels darauf hin, "daß alles, was einen Menschen bewegt, den Durchgang durch seinen Kopf machen muß - sogar Essen und Trinken, das infolge von vermittelst des Kopfs empfundnem Hunger und Durst begonnen und infolge von ebenfalls vermittelst des Kopfs empfundner Sättigung beendigt wird. Die Einwirkungen der Außenwelt auf den Menschen drücken sich in seinem Kopf aus, spiegeln sich darin ab als Gefühle, Gedanken, Triebe, Willensbestimmungen, kurz, als 'ideale Strömungen', und werden in dieser Gestalt zu 'idealen Mächten'. Wenn nun der Umstand, daß dieser Mensch überhaupt 'idealen Strömungen' folgt und 'idealen Mächten' einen Einfluß auf sich zugesteht - wenn dies ihn zum Idealisten macht, so ist jeder einigermaßen normal entwickelte Mensch ein geborner Idealist, und wie kann es da überhaupt noch Materialisten geben?" (MEW Bd. 21, S. 281f)

Doch nicht die Wahrnehmung des Vorhandenseins "idealer Mächte" oder ihr Einfluss auf Menschen ist der Streitpunkt zwischen Materialismus und Idealismus, sondern vielmehr die Frage nach den Ursprüngen und dem Wesen dieser "idealen Mächte". Ist die Quelle des "Idealen" letztlich außerhalb des Geistes zu finden, in der objektiv existierenden materiellen Welt?

Rockmore versucht wiederholt Marx' Äußerungen zu dieser Frage falsch darzustellen, obwohl in ihnen unmissverständlich und durchgängig der materialistische Standpunkt vertreten wird. So zitiert er beispielsweise in Zusammenhang mit der Methode, die beim Verfassen des Kapitals zur Anwendung kam, aus dem Nachwort zu zweiten deutschen Auflage, in dem Marx feststellt: "[S]piegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehn, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun." Rockmore kommentiert dies folgendermaßen:

"Marx' Formulierung kann leicht zu einem Missverständnis führen. Er vertritt offensichtlich nicht die Theorie von der Widerspiegelung des Wissens, die Engels in den Marxismus einführte. Er sagt auch nicht, dass Wissen faktisch voraussetzt, dass der Verstand eine unabhängige Welt getreu widerspiegelt" (S. 131). Wieder einmal versucht Rockmore den Materialismus von Marx zu leugnen und die Marxschen Ansichten durch einen Trick denjenigen von Engels entgegenzusetzen. Der Gebrauch des Wortes "getreu" dient nur dazu, Verwirrung zu stiften. Die zentrale Frage lautet, ob der Verstand eine unabhängige Welt widerspiegelt. Die idealen Formen, in denen die materielle Welt widergespiegelt wird, sind komplex und widersprüchlich. Die ideale Reproduktion der Wirklichkeit im menschlichen Geist erfolgt vermittels eines historisch und gesellschaftlich bestimmten Abstraktionsprozesses. In diesem spezifischen Sinne fungiert der Verstand nicht bloß als "Spiegel", in dem die Wirklichkeit auf der Basis einer unmittelbaren Reflexion in all ihrer Komplexität reproduziert wird (siehe Endnote 2). Dennoch sind die die Bilder, Gedanken und Konzepte, die im menschlichen Geist entstehen, letztlich Widerspiegelungen einer objektiven Wirklichkeit, die außerhalb des Verstandes des erkennenden Subjektes existiert.

Eben jene Worte von Marx, die Rockmore zitiert, folgen im Nachwort zum Kapital beinah direkt auf eine längere Passage, in der Marx' philosophische Anschauung und analytische Methode von einem zeitgenössischen Rezensenten dargelegt werden, der für ein russisches Journal schrieb. Marx zitiert aus dieser Rezension, die Folgendes feststellt: "Marx betrachtet die gesellschaftliche Bewegung als einen naturgeschichtlichen Prozeß, den Gesetze lenken, die nicht nur von dem Willen, dem Bewußtsein und der Absicht der Menschen unabhängig sind, sondern vielmehr umgekehrt deren Wollen, Bewußtsein und Absichten bestimmen.... Wenn das bewußte Element in der Kulturgeschichte eine so untergeordnete Rolle spielt, dann versteht es sich von selbst, daß die Kritik, deren Gegenstand die Kultur selbst ist, weniger als irgend etwas andres, irgendeine Form oder irgendein Resultat des Bewußtseins zur Grundlage haben kann. Das heißt, nicht die Idee, sondern nur die äußere Erscheinung kann ihr als Ausgangspunkt dienen" (MEW Bd. 23, S. 26).

Rockmore führt diese Passage bewusst nicht an.

Stattdessen schließt Rockmore seine verkürzte Analyse des Nachworts mit der Behauptung, Marx "bestätigt das Offensichtliche, indem er sich zum Anhänger Hegels erklärt". Tatsächlich beschreibt sich Marx nicht als Anhänger Hegels sondern wesentlich präziser und korrekter als "Schüler jenes großen Denkers" - nachdem er bereits detailliert dargelegt hat, was den materialistischen Schüler vom idealistischen Lehrer trennt. Er beschließt die Darlegung der Beziehung zwischen seiner Methode und der Hegelschen mit den Worten: "Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken" (MEW Bd. 23, S. 27).

Es sollte klar geworden sein, dass Rockmores Behauptungen, "Marx ist deutlich ein Idealist" (S. 70) und "Anders als der Marxismus ist Marx dem Idealismus verpflichtet" (S. 179), grobe und offensichtliche Fälschungen der philosophischen Haltung sind, die Marx im Jahre 1843 annahm und bis zu seinem Tod im Jahre 1883 vertrat. Es ist jedoch angemessen, diesen Streitpunkt abzuschließen, indem Marx einmal mehr für sich selbst spricht. In einem Brief an seinen Freund Ludwig Kugelmann vom 6. März 1868 kritisierte Marx in scharfen Worten eine Rezension des Kapitals, die von dem jungen Professor Eugen Dühring verfasst worden war (der später Gegenstand der unsterblichen Polemik von Engels werden sollte). Marx beschwerte sich über Dührings "Betrügereien" und schrieb: "Er weiß sehr wohl, daß meine Entwicklungsmethode nicht die Hegelsche ist, da ich Materialist, Hegel Idealist. Hegels Dialektik ist die Grundform, aber nur nach Abstreifung ihrer mystischen Form, und dies gerade unterscheidet meine Methode" (MEW Bd. 32, S. 538).

Es ist kaum vorstellbar, dass Professor Rockmore im Zuge der Vorbereitungsarbeiten für sein Buch nicht auf diesen bekannten Brief gestoßen ist. Vermutlich hat er sich einfach entschlossen ihn zu ignorieren. Somit können die Vorwürfe, die Marx gegen Dühring erhebt, direkt an Rockmore gerichtet werden.

Marx als Reformist?

Worin besteht also der Zweck von Rockmores krampfhaften Versuchen, Marx von Engels und vom Marxismus zu trennen und ihn gleichzeitig zum hegelianischen Idealisten zu erklären? Wir nähern uns der Antwort gegen Ende des Buches, wo Rockmore eine "sensationelle Passage" im dritten Band des Kapitals entdeckt haben will, in der Marx angeblich seinen früheren Ansichten zur Notwendigkeit der sozialen Revolution abschwört. "Laut Marx", schreibt Rockmore, "besteht die Freiheit, die erst dort beginnen kann, wo der Zwang zur Arbeit aufhört, in einer Kontrolle über den Wirtschaftsprozess, die dem Menschen entgegenkommt. Auch wenn wirkliche Bedürfnisse immer durch den Wirtschaftsprozess befriedigt werden müssen, d.h. im Reich der Notwendigkeit, liegt dahinter doch das, was Marx nun das Reich der Freiheit nennt. Er gibt zu verstehen, dass die Voraussetzung hierfür in der Verkürzung des Arbeitstages liegt, und sagt damit indirekt, dass als geschichtliches Ziel die wahre Freiheit in freier Zeit zu finden ist" (S. 173).

Rockmore führt dann ein längeres Zitat von Marx an:

"Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung" (Rockmore S. 173, die Passage findet sich im Original in: MEW Bd. 25, S. 828).

Ich habe die Passage in Gänze so wiedergegeben, wie Rockmore sie auch in seinem Buch zitiert, so dass der Leser sich selbst ein Bild machen kann, ob Rockmores Schlussfolgerungen irgendeine Grundlage in dem haben, was Marx tatsächlich geschrieben hat.

"Viele Dinge wären über diese bemerkenswerte Passage zu sagen. Das Offensichtlichste ist vielleicht, das Marx nach vielen Jahren des Kampfes für den Kommunismus hier einfach ebenso offensichtlich denselben als Voraussetzung für wirkliche menschliche Freiheit aufgibt. Die Freiheit ist nicht länger in einem Bruch mit der vorausgegangenen Gesellschaftsstufe zu finden, d.h. in der Revolution, sondern in einer grundlegenden Verbesserung der Lebensbedingungen, d.h. in Reformen. Kurz gesagt tauscht Marx hier die Revolution gegen die Reform ein" (S. 173).

Zweifellos wären viele Dinge über diese Passage zu sagen, aber nichts von dem, was Rockmore sagt, trifft zu. Um aus dieser Passage zu schließen, dass Marx die Revolution zugunsten der Reform zurückweist, muss man buchstäblich jeden Satz in sein Gegenteil verkehren. "Die Freiheit", erklärt Marx, kann erreicht werden, indem "der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden". Dies kann natürlich nur durch den Sturz des Kapitalismus erreicht werden, die Überwindung der Produktionsweise, in der ökonomischen Anarchie in Form des übermächtigen Marktes herrscht. Freiheit - verstanden als die Entwicklung der schöpferischen Fähigkeiten des Menschen jenseits der Sphäre der Arbeit, die von der Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung und Reproduktion des Lebens diktiert wird - kann nur auf dieser Grundlage gedeihen. Freiheit entsteht aus und bleibt verwurzelt in der Notwendigkeit, d.h. der Mansch muss aus der Natur das erhalten, was er zum Leben und zur Reproduktion braucht. Was die Verkürzung des Arbeitstages betrifft, so ist dies die Grundvoraussetzung für ein langsames Vordringen der Freiheit gegenüber der Notwendigkeit - aber keineswegs die Verwirklichung von Freiheit, und sicherlich nicht im Rahmen des Kapitalismus. Nichts in dieser Passage unterstützt die nächste Feststellung Rockmores:

"Der Marxismus lehnt bloße Reformen traditionell ab. Doch in dieser Passage scheint Marx die Hoffnung zu hegen, dass die moderne Industriegesellschaft und wirkliche menschliche Freiheit miteinander vereinbar sind, wenn und nur wenn die Menschen die Kontrolle über den ökonomischen Prozess wiedererlangen, der der tatsächliche Herr in der kapitalistischen Gesellschaft ist." Aber unter dem Kapitalismus ist weder eine rationale Kontrolle über das Wirtschaftsleben möglich, noch kann das Profitstreben der Verwirklichung rein menschlicher Bedürfnisse untergeordnet werden.

Wofür Rockmore eintritt - einen Marx ohne historischen Materialismus, ohne Engels, ohne Marxismus - erweist sich am Ende als ein Marx ohne sozialistische Revolution, ein Marx, der nicht nur auf dem Kopf steht, sondern überdies gefesselt und geknebelt ist.

Epilog

Es ist notwendig, dieser Rezension einen kurzen Epilog beizufügen. Auf die Veröffentlichung von Marx after Marxism folgte ein Buch, bei dem Professor Rockmore als Herausgeber auftritt und das den Titel The Philosophical Challenge of September 11 trägt (Blackwell Publishing 2005). In der Einleitung zu diesem Band, die von Rockmore und Joseph Margolis (Philosophieprofessor an der Temple University) gemeinsam verfasst wurde, lesen wir das Folgende:

"Es stellt sich die Frage, ob wir den 11. September in Einklang mit den vertrauten Begriffen und traditionellen Kategorien untersuchen können und ob diese überhaupt für diese Aufgabe geeignet sind. Wir vertrauen unseren analytischen Instrumenten nicht mehr. [...] Die politische Philosophie, wie wir sie kannten, scheint nun veraltet, scheint unfähig, uns gerade dann zu helfen, wenn wir sie am dringendsten bräuchten.

Die Vermutung liegt nahe, dass sich diese Unzulänglichkeit auch auf andere Bereiche erstreckt. All unsere griffbereiten begrifflichen Gewissheiten wurden durch den 11. September über den Haufen geworfen. Die Annahme, dass wir die Welt mit unseren Theorien begriffen hätten, ist von der Welt selbst zu Fall gebracht worden. Die Welt hat sich in einer Weise verändert, die für niemanden vorhersehbar war. Wir können die Ereignisse des 11. September nicht beurteilen, indem wir einfach die üblichen Werkzeuge anwenden. Sie widersetzen sich unserem Sinn von lesbarer Ordnung, und wir können nicht sagen, dass sich unsere Kategorien wieder anpassen werden" (S. 3).

Man kann sich kaum eine peinlichere Selbstdarstellung denken als dieses Bekenntnis theoretischer Lähmung und intellektuellen Bankrotts angesichts der Wirklichkeit. Professor Rockmore möchte uns weismachen, dass die entführten Flugzeuge nicht nur das World Trade Center zum Einsturz brachten, sondern auch die analytischen Strukturen und Erkenntnismittel, die im Laufe von 2500 Jahren philosophischen Denkens entwickelt wurden.

Rockmore erklärt uns nicht, was genau den Ereignissen des 11. Septembers ihren auf einzigartige Weise unverständlichen Charakter verlieh. Nach allem, was im 20. Jahrhundert passiert ist - die Schrecken zweier Weltkrieg, der Holocaust, die stalinistischen Säuberungen, der Abwurf zweier Atombomben und zahllose weitere Akte der Barbarei, die zusammengenommen Hunderte Millionen Menschen das Leben kosteten - wüsste man gerne, was genau den 11. September 2001 von allen vorausgegangenen Tragödien abhebt. Welche neuen und bis dahin nicht vorstellbaren Qualitäten und Kennzeichen traten durch die Ereignisse jenes Tages hervor?

Es scheint nun recht offensichtlich, dass Rockmore infolge seines Angriffs auf den Marxismus vollkommen unvorbereitet dastand, als das 21. Jahrhundert mit seiner ersten politischen Herausforderung aufwartete. Nachdem er den Tod des "Marxismus" und die philosophische Unzulässigkeit des marxistischen Bruchs mit dem hegelianischen Idealismus verkündet hat, konnte Rockmore keine alternative theoretische Struktur finden, die ihm eine Analyse und ein Verständnis der heutigen Wirklichkeit erlaubt hätte.

Ende

Endnoten:

[1] In seiner polemischen Antwort auf Professor James Burnham, einen Pragmatiker und erbitterten Gegner Hegels (den er als "jahrhunderttoten Hauptverwirrer des menschlichen Geistes" beschimpfte), zollte Trotzki dem großen deutschen Philosophen Tribut: "Hegel schrieb vor Darwin und vor Marx. Dank des machtvollen Anstoßes, den die Französische Revolution dem Denken gab, nahm Hegel die allgemeine Entwicklung der Wissenschaft vorweg. Aber weil es nur eine Vorwegnahme war, wenn auch die eines Genies, erhielt sie von Hegel einen idealistischen Charakter. Hegel arbeitete mit ideologischen Schatten als der endgültigen Wirklichkeit. Marx zeigte, daß die Bewegung dieser ideologischen Schatten nichts weiter als die Bewegung der materiellen Körper widerspiegelt" (Trotzki, Verteidigung des Marxismus, Berlin 1973, S. 79). Gegen Ende des Fraktionskampfes, der in den Jahren 1939/40 innerhalb der trotzkistischen Bewegung ausbrach, wies Burnham die sozialistische Politik zurück und begann seinen schnellen politischen Schwenk hin zur extremen Rechten.

[2] Lenin schrieb in seinem Konspekt zu Hegels 'Wissenschaft der Logik' : "Die Logik ist die Lehre von der Erkenntnis. Sie ist Erkenntnistheorie. Erkenntnis ist die Widerspiegelung der Natur durch den Menschen. Aber das ist keine einfache, keine unmittelbare, keine totale Widerspiegelung, sondern der Prozeß einer Reihe von Abstraktionen, der Formierung, der Bildung von Begriffen, Gesetzen etc., welche Begriffe, Gesetze etc. (Denken, Wissenschaft = 'logische Idee') eben bedingt, annähernd die universelle Gesetzmäßigkeit der sich ewig bewegenden und entwickelnden Natur umfassen. Hier gibt es wirklich, objektiv drei Glieder: 1) die Natur; 2) die menschliche Erkenntnis = das Gehirn des Menschen (als höchstes Produkt eben jener Natur) und 3) die Form der Widerspiegelung der Natur in der menschlichen Erkenntnis, und diese Form sind eben die Begriffe, Gesetze, Kategorien etc. Der Mensch kann die Natur nicht als ganze, nicht vollständig, kann nicht ihre 'unmittelbare Totalität' erfassen = widerspiegeln = abbilden, er kann dem nur ewig näher kommen, indem er Abstraktionen, Begriffe, Gesetze, ein wissenschaftliches Weltbild usw. usf. schafft." (Lenin, Werke Bd. 38, S. 172, Hervorhebungen im Original)

Und an anderer Stelle bemerkt Lenin: "Erkenntnis ist die ewige, unendliche Annäherung des Denkens an das Objekt. Die Widerspiegelung der Natur im menschlichen Denken ist nicht 'tot', nicht 'abstrakt', nicht ohne Bewegung, nicht ohne Widersprüche, sondern im ewigen Prozeß der Bewegung, des Entstehens der Widersprüche und ihrer Lösung aufzufassen." (Ebenda, S. 185, Hervorhebungen im Original)

Loading