Internationale Redaktionskonferenz der WSWS

Bericht über die Perspektiven in Lateinamerika

Den folgenden Bericht zu Lateinamerika hat Bill Van Auken im Rahmen der erweiterten WSWS- Redaktionskonferenz in Sydney vom 22. bis 27. Januar 2006 gehalten. Van Auken ist Mitglied in der Internationalen Redaktion der World Socialist Web Site und im Zentralkomitee der Socialist Equality Party (USA).

Lateinamerika umfasst 20 einzelne Länder, die sich von Patagonien bis zum Rio Bravo erstrecken. Die Genossen werden sicherlich dankbar sein, wenn ich nicht den Versuch unternehme, eine erschöpfende Zusammenfassung der politischen und sozialen Bedingungen in jedem einzelnen dieser Länder zu präsentieren. Ich möchte einige der wichtigsten Trends in dieser Region ansprechen - ausgehend von dem Standpunkt, dass wir unsere internationalen Perspektiven ausarbeiten und die Arbeit des Internationalen Komitees der Vierten Internationale und der World Socialist Web Site in Lateinamerika entwickeln müssen.

Unser Ziel im nächsten Jahr besteht darin, unsere Berichterstattung über Lateinamerika sowohl quantitativ als auch qualitativ zu steigern. Wir gewinnen eine Leserschaft und die besten Elemente, die in den Kampf treten und eine Alternative zur bankrotten Politik des kleinbürgerlichen Nationalismus und seiner stalinistischen und revisionistischen Verteidiger suchen.

Wie die Genossen wissen, ist Lateinamerika seit langer Zeit eine instabile Region, in der es wiederholt zu explosiven Massenkämpfen sowie großen und tragischen Verrätereien kam, in deren Folge die Massen brutalen Militärdiktaturen ausgeliefert wurden. Die pablistisch-revisionistische Tendenz, die mit dem Trotzkismus gebrochen hat, spielte eine entscheidende Rolle bei diesen Verrätereien, besonders in den 1960er und frühen 1970er Jahren.

Heute ist Lateinamerika immer noch die sozial am schärfsten polarisierte und politisch instabilste Region des Planeten. Seit dem Jahr 2000 wurden im Rahmen von Krisen, Staatsstreichen, Massenaufständen und einer US-Invasion zehn Regierungen gestürzt.

Wenn wir uns mit diesen explosiven Bedingungen auseinandersetzen, sollten wir uns zwei miteinander verknüpften Themen widmen, die in wachsendem Maße nicht nur die Washingtoner Expertenkommissionen sondern auch die Medien und Teile der beiden großen Parteien in den USA beschäftigen.

Dies betrifft erstens den sichtlich geringer werdenden Einfluss der Vereinigten Staaten in einer Region, die lange Zeit als ihr "Hinterhof" angesehen wurde, und zweitens die so genannte "Linkswende" in Lateinamerika. Die kleinbürgerlichen Linken und Revisionisten spielen dieses letztere Phänomen zu einer entscheidenden Konfrontation mit dem Imperialismus hoch oder preisen es sogar als neuen Weg zum Sozialismus.

Es ist nichts dergleichen. Aber die Tatsache, dass mehrere lateinamerikanische Regierungen an die Macht gekommen sind, die sich in der einen oder anderen Weise mit der "Linken" identifizieren und Opposition gegen die Wirtschafts- und Außenpolitik der USA zum Ausdruck bringen, hat zweifellos eine tiefe objektive Bedeutung.

In den herrschenden Kreisen Amerikas mehren sich die Sorgen über diese Region. In der letzten Ausgabe der Foreign Affairs, des halboffiziellen Organs der US-Außenpolitik, fand sich ein Artikel mit der Überschrift "Verliert Washington Lateinamerika?" Der Autor ist ein gewisser Peter Hakim, Leiter des Thinktanks Inter-American Dialogue, der von Großkonzernen finanziert wird und Washingtons Version von Freihandel in der Region unterstützt.

Er verurteilt sowohl die Clinton- als auch Bush-Regierung wegen ihrer wohlwollenden oder auch nicht so wohlwollenden Vernachlässigung dieser Region. Dies habe dazu geführt, dass "die US-Politik gegenüber Lateinamerika ohne viel Nachdruck oder Richtung dahintrieb", nachdem Lateinamerika in der vorausgegangenen Periode angeblich "auf dem richtigen Weg" gewesen sei.

Tatsächlich ist der verminderte Einfluss der USA in Lateinamerika nicht bloß eine Frage von außenpolitischen Fehlern oder das Ergebnis subjektiver Entscheidungen von diesem oder jenem Politiker. Vielmehr ist er sowohl mit Veränderungen in der Weltwirtschaft verbunden als auch mit den katastrophalen Auswirkungen einer Politik, die mit Rückendeckung der Vereinigten Staaten in einer Zeit durchgesetzt wurde, in der Hakim zufolge die Region "auf dem richtigen Weg" war.

Zu den Veränderungen in der Weltwirtschaft, die mit der Globalisierung eintraten, zählt der relative Stellungsverlust des US-Kapitalismus gegenüber Westeuropa und auch China, wie wir bereits zuvor auf diesem Treffen diskutiert haben.

Die Monroe-Doktrin ist mittlerweile praktisch zur Makulatur geworden. Diese Doktrin, nach der die Vereinigten Staaten jede andere Macht davon abhielten, ihren Einfluss auf die westliche Hemisphäre auszudehnen, hatte die US-Außenpolitik in ihrer Geschichte entscheidend geprägt. Seit fast 200 Jahren hat sich eine Washingtoner Regierung nach der anderen auf diesen außenpolitischen Grundsatz berufen, um US-Interventionen in der Region zu rechtfertigen, und während des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts diente sie dazu, Militärdiktaturen an die Macht zu bringen, um die revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse zu unterdrücken. Die meiste Zeit wurde die Doktrin von den nationalen bürgerlichen Regimes in Lateinamerika übernommen, die sich dem US-Imperialismus unterordneten. Dieser Konsens wurde durch die veränderten wirtschaftlichen Beziehungen zunichte gemacht.

US-Rivalen gewinnen an wirtschaftlichem Einfluss

Im Verlauf des letzten Jahrzehnts hat die Europäische Union den US-Kapitalismus als wichtigsten ausländischen Investor und Handelspartner Südamerikas abgelöst. In Bezug auf den Handel innerhalb der gesamten lateinamerikanischen Region stehen die USA dank ihrer engen Beziehungen zu Mexiko im Rahmen des NAFTA-Abkommens von 1993 weiterhin an erster Stelle. Zwei Drittel des US-Exports in die Region gehen nach Mexiko und ein großer Teil davon besteht aus Einzelteilen, die über die Grenze in Maquiladora-Fabriken geschickt werden, wo billigere mexikanische Arbeitskräfte die Warenproduktion für den US-Markt übernehmen.

Noch beunruhigender ist für Washington, dass China südlich des Rio Grande immer selbstsicherer auftritt. Der chinesische Präsident Hu Jintao und Vizepräsident Zeng Quinghong, haben in den letzten zwei Jahre Lateinamerika zweimal bereist und Handelsverträge sowie Militärabkommen unterzeichnet. Die Region ist zu einem immer wichtigeren Rohstofflieferanten für die chinesische Industrie geworden. Chinas Importe aus der Region haben sich in den letzten sechs Jahren versechsfacht und man erwartet, dass sie bis zum Ende dieses Jahrzehnts die 100-Milliarden-Dollar-Marke erreichen werden.

Um die Versorgung mit knappen strategischen Rohstoffen sicherzustellen, hat China sich verpflichtet, im Verlauf des nächsten Jahrzehnts 100 Milliarden Dollar in den Bau von Straßen, Häfen und weiterer Infrastruktur zu investieren. Peking verfolgt eine Reihe von großen Projekten, darunter Vorhaben, die den Zugang zu venezolanischem Öl, bolivianischem Erdgas und wichtigen Erzen sichern sollen.

Im US-Kongress gab es zwei Anhörungen zu dem, was als chinesische Bedrohung der traditionellen Einflusssphäre der Vereinigten Staaten angesehen wird und die halbkoloniale Herrschaft der USA über den lateinamerikanischen Kontinent in Frage stellt. In seiner Aussage vor dem Kongress im vergangenen Jahr versprach der damalige für die westliche Hemisphäre zuständige Staatssekretär im Außenministerium Roger Noriega, die Regierung werde "aufmerksam alle Anzeichen beobachten, die darauf hindeuten, dass wirtschaftliche Zusammenarbeit zu politischen Beziehungen führt, die unseren zentralen Interessen in dieser Region zuwider laufen".

Kurz gesagt bedeuten diese Veränderungen in den globalen wirtschaftlichen Beziehungen, dass der US-Kapitalismus beileibe nicht die einzige Option für Lateinamerika ist - und in vielen Fällen auch nicht die profitabelste. Die wachsenden wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Lateinamerika und den Rivalen der Vereinigten Staaten haben den Regierungen in der Region einen Spielraum für Manöver verschafft, der durchaus größer ist als jener, den viele nationalistische Regimes bei ihrem Balanceakt zwischen Washington und Moskau in der Zeit des Kalten Kriegs nutzten. Dies ist eine der zentralen materiellen Grundlagen für die so genannte Linkswende. In mancher Hinsicht könnte man diesen Trend vielleicht besser als Hinwendung zum Euro und Yuan beschreiben.

Auf dem amerikanischen Kontinent selbst sind die USA mit einem zunehmend selbstbewusster auftretenden Brasilien konfrontiert. Mit einer Bevölkerung von mehr als 180 Millionen und bedeutenden Rohstoffvorkommen hat sich das Land sich zur zehntgrößten Industriemacht und zum fünftgrößten Waffenexporteur der Welt entwickelt. Brasiliens Wachstum hat wiederholt zu Konflikten mit den USA in Handelsfragen geführt, die Urheberrechte ebenso betreffen wie Agrarexporte.

Die politischen Folgen dieser Veränderungen zeigten sich kürzlich, als das Weiße Haus einem spanischen Flugzeugbauer die Exportgenehmigung für Flugzeuge verweigerte, die amerikanische Technologie enthielten und entsprechend einem Abkommen zwischen der Regierung Chavez und dem spanischen Verteidigungsministerium nach Venezuela verschifft werden sollten. Spanien hat versprochen, die Blockade dadurch zu umgehen, dass es die Flugzeuge mit alternativer europäischer Technologie ausrüstet. Erwartet werden ähnliche Konfrontationen hinsichtlich Spaniens Verkauf von militärischen Patrouillebooten und einer Lieferung von Militärflugzeugen, die vom brasilianischen Rüstungskonzern Embraer für Venezuela gefertigt werden.

Nach einem Treffen Anfang März zwischen dem brasilianischen Regierungschef Lula und seinen venezolanischen und argentinischen Amtskollegen Chavez und Kirchner präsentierte Brasilien den Vorschlag, eine gemeinsame Rüstungsindustrie unter dem Dach des Mercosur-Handelsabkommens aufzubauen. Der Plan sieht vor, zunächst die Rüstungsindustrien, die unter den früheren Diktaturen in Argentinien und Brasilien errichtet wurden, miteinander zu verknüpfen und eine Embraer-Fabrik in Argentinien zu bauen. Das Ziel ist letztendlich Militärflugzeuge und andere Militärausrüstungen für den gesamten Kontinent herzustellen und den teureren Modellen der US-Hersteller Konkurrenz zu machen, die traditionell den militärischen Bedarf Lateinamerikas in Höhe von ca. 3,5 Milliarden Dollar jährlich gedeckt haben.

Militärische Vorbereitungen der USA

Dies ist eine ernsthafte Bedrohung der Interessen Washingtons. Man darf kaum erwarten, dass der US-Imperialismus friedlich die Kontrolle über seinen "eigenen Hinterhof" und damit über Märkte und strategische Rohstoffe abgibt. In dem Maße, wie die ehemalige wirtschaftliche Vorherrschaft der Vereinigten Staaten schwindet, kann man hier wie auch überall sonst davon ausgehen, dass sich die USA verstärkt in den Militarismus flüchten.

In den letzten Jahren hat Washington still und unauffällig ein Netzwerk von Militärbasen in der Region errichtet und gleichzeitig die Operationen des US-SouthCom, ihres militärischen Führungsstabs für die Region, ausgedehnt. Dieser verfügt über mehr Personal, das sich mit Lateinamerika beschäftigt, als alle anderen US-Behörden zusammengenommen.

Im Jahr 2002 fand ein gescheiterter Putsch gegen die Regierung Chavez statt, der von den Vereinigten Staaten unterstützt wurde und an dem nach einigen Berichten US-Militärberater und US-Militärschiffe sowie Spionageflugzeuge direkt beteiligt waren. Und 2004 wurde Aristide in Haiti gestürzt und die US-Marineinfanterie marschierte in der verarmten Inselnation ein.

Washington verfügt über weit gediehene Pläne für eine Invasion, um die Kontrolle über Venezuelas Ölreichtum zu übernehmen. Das Vorgehen wird mehr oder weniger der Art und Weise ähneln, in der die Vereinigten Staaten in den Irak einmarschiert sind und ihn besetzt haben.

Es gibt regelmäßig Grenzstreitigkeiten zwischen Venezuela und Kolumbien wegen der seit vierzig Jahren andauernden Aufstände in Kolumbien. Kolumbien ist mittlerweile von den USA mit circa 3 Milliarden Dollar massiv militärisch aufgerüstet worden (angeblich für den "Drogenkrieg"), und die Truppenstärke des Landes hat sich auf 275 000 verdreifacht. Das Land würde sich sehr wahrscheinlich an einer US-Intervention zum Sturz der Regierung Chavez beteiligen.

Historische Streitigkeiten existieren auch zwischen Bolivien und Chile über den Zugang zum Pazifik und ebenso zwischen Peru und Chile. Dass es über eine dieser Streitigkeiten zum Krieg kommen könnte, in dem ausländische Mächte die Widersacher unterstützen, ist eine durchaus reale Möglichkeit.

Sicherlich liegt eine zentrale Verantwortung der WSWS darin, die Bedrohung durch den US-Imperialismus zu enthüllen und anzuprangern. Diese aktive Verteidigung Lateinamerikas gegen Washingtons Aggression verpflichtet uns aber nicht dazu, uns an die Illusionen in Chavez und andere bürgerlich-nationalistische Regime anzupassen.

Um die Ursprünge dieser Regime zu verstehen, muss man den Einfluss der Politik untersuchen, die im Auftrag der US-Regierung und der amerikanisch dominierten Finanzinstitutionen im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre durchgesetzt wurde - die Politik der "Freien Marktwirtschaft", bekannt geworden als "Washington Consensus".

Diese so genanten Wirtschaftsreformen, die als Mittel zur Förderung des Wirtschaftswachstums verkauft wurden, bedeuteten einen endgültigen Bruch mit der Importsubstitution und den nationalen Entwicklungsprogrammen, die mit den nationalistischen Regimes der vorausgegangenen Periode verbunden waren. Sie leiteten die gewaltsame Integration dieser Volkswirtschaften in den globalisierten Kapitalismus ein.

Die Zölle wurden im Vergleich zu den 1970er Jahren um die Hälfte gesenkt. In den meisten Ländern wurden die Beschränkungen für ausländische Investitionen außer Kraft gesetzt.

Allein in den 1990er Jahren wurden staatseigene Betriebe im Wert von 178 Milliarden Dollar privatisiert, was die Zerstörung von vielen hunderttausenden Arbeitsplätzen zur Folge hatte. Zum Vergleich: Der Wert dieser Privatisierung beläuft sich auf mehr als das 20fache dessen, was in Russland nach dem Zusammenbruch der UdSSR aus dem Staatsbesitz in Privateigentum überführt wurde.

Das auf dieser Grundlage entstandene irreal-fantastische Wirtschaftswachstum ist nicht wiederholbar. Man kann denselben Staatsbetrieb nicht zweimal verkaufen.

Diese Politik führte zu einer Verarmung und sozialen Polarisierung, die heute die gesamte Gesellschaftsordnung bedrohen. Die der UNO angegliederte ECLAC (Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik) berichtete kürzlich, dass etwa 213 Millionen Menschen - oder 40,6 Prozent der Gesamtbevölkerung Lateinamerikas von 523 Millionen - unter der Armutsgrenze und 88 Millionen von diesen in bitterster Armut leben.

Laut einer Studie der Weltbank von 2003 streichen die reichsten 10 Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung nicht weniger als 48 Prozent des Gesamteinkommens ein, während die ärmsten 10 Prozent nur 1,6 Prozent hiervon erhalten.

"Die Ungleichheit in Lateinamerika ist beträchtlich: Das Land in der Region mit der geringsten Einkommensungleichheit weist immer noch eine größere Ungleichheit auf als irgendein Land der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit) oder irgendein osteuropäisches Land", stellt die Studie fest.

Und weiter heißt es an gleicher Stelle: "Die Ungleichheit in Lateinamerika beherrscht und prägt jeden Aspekt des Lebens, einschließlich Bildungschancen, Gesundheitsversorgung und öffentliche Dienstleistungen, den Zugang zu Land und anderen Wirtschaftsgütern, die Chancen bei der Kreditvergabe und auf dem öffentlichen Arbeitsmarkt, das politische Mitspracherecht und politischen Einfluss."

Venezuela ist eins der extremeren Beispiele für diesen Prozess, obgleich ähnliche Zahlen für Argentinien, Uruguay und eine Reihe anderer Länder angeführt werden können. In Venezuela war die Periode von einer rasant steigenden Inflation gekennzeichnet, die 1996 100 Prozent betrug. Von 1988 bis 1997 ging die Zahl der Industriearbeitsplätze in diesem Land um 15 Prozent zurück.

Gegen Ende der 1990er Jahre waren die Reallöhne auf 40 Prozent des Niveaus von 1980 gesunken. Die Kaufkraft des Mindestlohns war 1994 im Vergleich zu 1978 um zwei Drittel gesunken.

Im selben Zeitraum wurden die staatlichen Pro-Kopf-Sozialausgaben ebenfalls um 40 Prozent gesenkt. Darunter fielen Kürzungen bei den Ausgaben für Bildung um 40 Prozent, für Wohnungsbau und Stadtentwicklung um 70 Prozent und für die Gesundheitsversorgung um 37 Prozent. Von 1984 bis 1995 verdoppelte sich die Zahl der Armen, die jetzt zwei Drittel der Bevölkerung ausmachen.

Die gewaltige Zunahme an sozialem Elend wurde begleitet von einer dramatischen Vertiefung der Kluft zwischen Reich und Arm, da sich ein Teil der herrschenden Elite und der oberen Mittelschichten in Venezuela durch Geschäfte mit den transnationalen Konzernen bereicherte.

Die großen Gewerkschaften, die der Partei Accion Democratica (AD) nahe standen, diskreditierten sich völlig dadurch, dass sie bei der Zerschlagung der früheren Errungenschaften mit der Regierung zusammenarbeiteten. Die Mitgliederzahl der Gewerkschaften ging drastisch zurück, als die Arbeiter ihre Arbeitsplätze verloren und in die so genannte Schattenwirtschaft (wie Straßenverkauf, Gelegenheitsarbeit etc.) gedrängt wurden, in der jetzt mehr als die Hälfte der Bevölkerung tätig sind. Der Anteil der Erwerbstätigen, die Gewerkschaften angehören, halbierte sich von 1988 bis 1995 beinahe und fiel von 26,4 Prozent auf 13,5 Prozent.

Dementsprechend wurden die Gewerkschaften auf keinerlei Weise mit Opposition oder gesellschaftlichem Protest in Zusammenhang gebracht. Dieser nahm vielmehr eine explosive und spontane Form an, was besonders machtvoll beim so genanten Aufstand von Caracazo von 1989 zum Ausdruck kam. Die Proteste richteten sich gegen ein Strukturanpassungsprogramm des Internationalen Währungsfonds (IWF), das durch Carlos Andres Peres von der AD eingeführt worden war - etwa 1.500 Menschen wurden damals von der Armee getötet, die den Aufstand in Blut ertränkte.

Diese Art von Entwicklungen, die sich in verschiedenen Ausprägungen überall auf dem Kontinent wiederholten, stellen die unmittelbaren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen dessen dar, was jetzt Lateinamerikas Linkswende genannt wird, d. h. die jüngst erfolgte Wahl von Evo Morales in Bolivien, die Regierungen von Tabare Vasquez in Uruguay, von Lula in Brasilien, Kirchner in Argentinien und natürlich Chavez in Venezuela.

Weitere derartige politische Entwicklungen zeichnen sich am Horizont ab. Ollanta Humala, ein ehemaliger Militärputschführer und Verbündeter von Chavez, der vom Wall Street Journal als "linker Gegner des Freihandels und der freien Marktwirtschaft" beschrieben wird, hat die besten Chancen, die anstehenden Präsidentschaftswahlen in Peru zu gewinnen. Andres Manuel Lopez Obrador, Kandidat der PRD, ist der aussichtsreichste Kandidat bei den mexikanischen Wahlen, die für Juli angesetzt sind; und in Nicaragua glaubt man, dass der sandinistische Führer Daniel Ortega mit einer hohen Wahrscheinlichkeit an die Macht zurückkehren könnte.

Bei allen Unterschieden, die diese Regierungen in ihrer politischen Zusammensetzung aufweisen, haben sie doch Eines gemein: Sie prangern den "Neo-Liberalismus" auf populistische Weise an, beziehen zumindest in Worten Stellung gegen die Vereinigten Staaten und appellieren an die weit verbreitete Wut über die soziale Ungleichheit. Gleichzeitig verteidigen sie jedoch das Privateigentum und befolgen weitgehend die wesentlichen ökonomischen Rezepte der internationalen Finanzinstitutionen.

Es ist klar, dass keine dieser Regierungen einen Weg vorwärts für die Arbeiterklasse bietet. In vielen Fällen wiederholen sie die Politik einer früheren Epoche des linken Nationalismus und militärischen Populismus, den man mit Personen wie Juan Peron in Argentinien und Getulio Vargas in Brasilien verbindet. Während jene Bewegungen sich jedoch in gewissem Maße auf stärker werdende Gewerkschaften stützten, sind diese neuen Populisten zumindest teilweise aus dem Zerfall der alten nationalen Gewerkschaftsbewegung entstanden, insbesondere in Ländern wie Venezuela und Brasilien.

Was ist das Wesen der Regierung Chavez in Venezuela? Ihr politischer Ursprung liegt in einer konspirativen Bewegung junger Offiziere, die sich aus Opposition gegen die Verdorbenheit des alten politischen Systems in Venezuela und aus Empörung über den Militäreinsatz zur Aufstandsunterdrückung in Caracazo 1989 entwickelte. Mit seinem gescheiterten Putsch gegen die Regierung der Accion Democratica von Carlos Andres Perez wurde Chavez im Jahre 1992 schlagartig zu einer nationalen Berühmtheit.

Nachdem man ihn nach kurzer Haftdauer wieder freigelassen hatte, schmiedete Chavez Bündnisse mit diversen Elementen der venezolanischen Linken und wurde 1998 mit einer großen Stimmenmehrheit zum Präsidenten gewählt.

Die ideologischen Grundlagen der Bewegung von Chavez zeichnen sich durch den eklektischen Charakter aus, der dem bürgerlichen Populismus eigen ist. Als Inspiration für seine politische Karriere nennt Chavez das Regime in Panama, an dessen Spitze Omar Torrijos stand, und die "revolutionäre" Militärregierung unter der Führung von General Juan Velasquez Alvarado im Peru der späten 1960er und frühen 1970er Jahre.

Zu seinen frühen politischen Ratgebern gehörte ein ehemaliges führendes Mitglied der kommunistischen Partei Venezuelas ebenso wie ein im Exil lebender argentinischer Halbfaschist, der für seinen Antisemitismus berüchtigt ist und darüber hinaus die Vorzüge der Militärherrschaft preist.

Wer die Regierung Chavez als "sozialistisch" beschreibt, verzerrt aufs krasseste die Tatsachen. Sie ist nicht aus irgendeiner unabhängigen Bewegung der Arbeiterklasse hervorgegangen. Zudem ist in Venezuela heute ein größerer Teil der Wirtschaft in den Händen von privatem und ausländischem Kapital als zur Blütezeit der Accion Democratica vor 30 Jahren. Die Landverteilung in Venezuela ist weiterhin extrem ungleich und in dieser Ausprägung kaum woanders auf dem lateinamerikanischen Kontinent zu finden.

In einem kürzlich erschienenen Artikel wird der venezolanische Vertreter der Inter-Amerikanischen Entwicklungsbank Ramon Mayorga zitiert, der die Zusammenarbeit zwischen den Privatbanken des Landes und der Regierung Chavez als "in höchstem Maße einträglich" bezeichnete.

"Die Banken haben bergeweise Geld gemacht", erklärte Mayorga. Die Gewinnsteigerung nach Steuern erreichte im letzten Jahr 30 Prozent und war damit fast die höchste Zuwachsrate der Welt. Die Vermögenswerte der venezolanischen Banken haben sich verdreifacht, seit Chavez sein Amt angetreten hat.

Die Befehlszentrale der venezolanischen Wirtschaft bleibt so fest wie immer unter der Kontrolle des Finanzkapitals, während ein Teil der Einnahmen aus dem Erdölgeschäft abgezweigt wurde, um die Armen durch Bildungs-, Gesundheits- und Lebensmittelprogramme zu unterstützen und um genossenschaftliche Unternehmen ins Leben zu rufen.

Die venezolanische Regierung ist immer noch durch die militärischen Ursprünge der Bewegung von Chavez geprägt. Zahlreiche ihrer Spitzenvertreter sind Armeeoffiziere, von denen die meisten pensioniert, einige aber noch aktiv sind.

Es gibt eine lange Geschichte solcher "linker" Militärtendenzen in Lateinamerika und eine ebenso lange Geschichte der opportunistischen Anpassung von Seiten der Stalinisten, Revisionisten und linken Nationalisten an diese Regimes. Häufig wurden sie als Abkürzung auf dem Weg an die Macht betrachtet, die es überflüssig mache, die Massen zu mobilisieren oder eine politische Avantgarde des Proletariats heranzubilden.

Die Erfahrungen mit Velasco in Peru, J.J. Torres in Bolivien und Torrijos in Panama endeten alle mit einem Verrat an der Arbeiterklasse. In praktisch jedem dieser Fälle waren diese Regierungen die Wegbereiter von rechten Regimes - oder sie endeten wie im Fall von Panama damit, dass eine US-Invasion widerstandslos hingenommen wurde.

Den reaktionären Charakter dieser Militärtendenz sieht man vielleicht am deutlichsten in Chavez’ Unterstützung für den peruanischen Präsidentschaftskandidaten Ollanta Humala, einen nationalistischen Ex-Armeeoffizier, der wie Chavez seine politische Karriere mit einem gescheiterten Putsch begann - in seinem Fall im Jahr 2000 gegen das korrupte und reaktionäre Regime von Alberto Fujimori, das knapp einen Monat danach zusammenbrach.

Humala ist jetzt der aussichtsreichste Kandidat für das Präsidentenamt. Er ist der Vorsitzende einer Partei, die sich Movimiento Etnocaceristas nennt. Der Parteiname bezieht sich auf einen peruanischen Präsidenten aus dem neunzehnten Jahrhundert an, Andrés Avelino Cáceres, der im Krieg gegen Chile Heldenstatus erlangte. Mit dem "Etno" im Namen bekennt sich die Bewegung zudem zu einer Form des indianischen Nationalismus.

Unter den politischen Vorläufern von Humalas Partei findet sich es eine Bewegung, die von seinem Vater gegründet wurde und die dafür eintrat, dass nur die Bevölkerung indianischer Abstammung in Peru die volle Staatsbürgerschaft erhalten und Weiße, Asiaten und Schwarze davon ausgeschlossen bleiben sollte. In der Presse war das interessante Detail zu erfahren, dass die einheimische Bevölkerung im Heimatdorf der Familie die Humalas allerdings als Weiße betrachtet, weil es sich um einflussreiche Grundbesitzer handelt.

Humalas Wahlkampf ist stark gegen Chile ausgerichtet und beinhaltet unter anderem die Forderung nach einer Ausweisung chilenischer Firmen. Er fordert ebenfalls eine Amnestie für peruanische Armeeangehörige, denen vorgeworfen wird, während des schmutzigen Kriegs in den 1980er und 1990er Jahren Massaker, Morde und Folter an den Guerilleros von Sendero Luminoso und der MRTA verübt zu haben. Das wäre das Ende der gerade erst begonnenen strafrechtlichen Verfolgung der schlimmsten dieser Verbrechen.

Gleichzeitig gehören diesen so genannten "linken" Regimes in führender Position ehemalige Guerillakämpfer und ihre Anhänger aus den 1960er und 1970er Jahren an, wie z. B. Boliviens Vizepräsident Linares oder Jose Dirceu, eine führende Persönlichkeit der Brasilianischen Arbeiterpartei, der kürzlich wegen massivem Kauf von Wählerstimmen und einem Bestechungsskandal zurücktreten musste.

Pablistische Opportunisten bereiten neue Verrätereien vor

So wie sich die pablistischen Revisionisten in den 1950er Jahren an den Peronismus und ähnliche Bewegungen und in den 1960er und 1970er an den Guerillakampf angepasst haben, so jubeln die pablistischen Gruppen heute Bewegungen wie die von Chavez als neuen Weg zum Sozialismus hoch. Diese haben jedoch eindeutig nicht das Geringste mit einer sozialistischen Bewegung gemein.

In den Beschreibungen - wie auch in den Selbstdarstellungen - der lateinamerikanischen Regierungen, die im Zusammenhang mit der "Linkswende" genannt werden, taucht immer wieder ein bestimmter Begriff auf: "Regierfähigkeit". Die alten traditionellen Parteien sind absolut diskreditiert, nicht nur in Venezuela sondern auf dem ganzen Kontinent. "Schmeißt sie alle raus" - der Schlachtruf, der bei den Unruhen in Argentinien vor fünf Jahren überall zu hören war, wurde in einem Land nach dem anderen wiederholt.

Parteien und Personen, die als Linke gelten, wurden an die Macht gebracht, um die kapitalistische Herrschaft wieder zu stabilisieren. Diese Tendenz tauchte mit dem Aufstieg der Arbeiterpartei (PT) zum wichtigsten politischen Instrument der bürgerlichen Herrschaft zuerst und besonders markant in Brasilien auf. Die herrschende Elite Brasiliens brauchte eine solche Bewegung, weil alle anderen Parteien an der Diktatur sowie der massiven Korruption und sozialen Reaktion beteiligt waren, die sich nach dem Ende des diktatorischen Regimes weiter fortsetzten.

Die pablistischen Revisionisten, die in den 1970er Jahren eine entscheidende Rolle beim Verrat der revolutionären Entwicklungen in Lateinamerika spielten, haben ihre politische Positionen nicht entscheidend verändert seit der Zeit, als sie die linken nationalistischen Bewegungen mit offenen Armeen begrüßten - zunächst den Peronismus und die MNR in Bolivien und später den Castroismus und die Guerillabewegung. Damals wie heute weisen sie die Notwendigkeit einer bewussten, unabhängigen Bewegung der Arbeiterklasse zurück. Jetzt sind sie zu direkten Verteidigern und Instrumenten des bürgerlichen Staats geworden.

Ein typisches Beispiel ist die Reaktion einer bolivianischen Gruppe mit dem Namen POR-Combate, die dem pablistischen Vereinigten Sekretariat angeschlossen ist, auf die Wahl von Morales. Sie beklagte die kritische Haltung des bolivianischen Gewerkschaftsverbandes COB (Central Obrera Boliviana) gegenüber Morales ebenso wie alle Zweifel daran, dass der Präsident die Verstaatlichung der Energieressourcen nicht entschlossen durchführen werde.

"Es ist notwendig, dass die Reformisten und Revolutionäre, die Nationalisten und Sozialisten gemeinsam analysieren und diskutieren - zu allererst über die Rolle, die das Proletariat spielen soll und welche Allianzen es eingehen kann, dann über die Strategie zur Machtübernahme und zum Aufbaus des Sozialismus", erklärt die pablistische Gruppe. "Alles Andere sind nur Irrtümer und Belanglosigkeiten. Heute sind die Kräfte der MAS und des COB bedauerlicherweise weit von den Zielen und der Taktik entfernt, die in diesem Dokument dargelegt werden."

Dementsprechend beklagen sie, dass der COB es ablehnt, sich völlig in das bürgerlich-nationalistische Regime von Morales zu integrieren - dabei hatte dieser noch vor seiner jüngst erfolgten Amtseinführung eine Weltreise absolviert, auf der er dem ausländischen Kapital versicherte, dass seine Regierung ein verlässlicher Partner bei der Verteidigung des Privateigentums und des Profits sei. Die Perspektive von POR-Combate - dass sozialistische Revolutionäre die Zustimmung der nationalen Reformisten, d. h. der Vertreter der Bourgeoisie, in der Frage anstreben, welche "Rolle das Proletariat spielen soll und welche Allianzen es eingehen kann" - macht unmissverständlich ihre Absicht klar, die bolivianischen Arbeiter dem Kapitalismus unterzuordnen, und ebnet den Weg für einen weiteren Verrat und eine weitere Niederlage.

Angesichts des verminderten Einflusses der Pablisten kann man zwar in diesen Positionen ein Element davon entdecken, dass sich eine Tragödie beim zweiten Mal als Farce darstellt. Und doch zeigen sich in ihnen unverkennbar die großen Verrätereien, die diese revisionistische Tendenz in den 1960er und 70er Jahren von Sri Lanka bis Chile und Argentinien verübt hat.

Zu den schamlosesten Bewunderern der Chavez-Regierung gehört Alan Woods, der Anführer der britischen zentristischen Gruppe, die von Ted Grant gegründet wurde. In einer neulich veröffentlichten Antwort an seine Kritiker, die ihm opportunistische Beziehungen zur venezolanischen Regierung vorwerfen, schreibt Woods: "Wenn die venezolanischen Marxisten nicht zu völliger Isolation und Machtlosigkeit verurteilt werden sollen, dann müssen sie versuchen, Verbindungen zur Bewegung Bolivar zu knüpfen, sie nach links zu treiben und sie für die Politik und das Programm des Marxismus zu gewinnen." Er fährt fort: "Die Massen in Venezuela folgen ihren Führern und vertrauen ihnen. Sie sind noch nicht überzeugt von den Ideen des Marxismus."

Hier werden praktisch Wort für Wort die Rechtfertigungen wiederholt, welche die Führer der amerikanischen Socialist Workers Party in den frühen 1960er Jahren für ihre eigene opportunistische Anpassung an den Castroismus benutzten. Sie wandten sich gegen eine marxistische Perspektive, die auf der politischen Unabhängigkeit der Arbeiterklasse vom Castroismus basierte. Eine solche Haltung, so warnte die SWP-Führung, würde die Parteien der Vierten Internationale in Lateinamerika hoffnungslos isolieren.

Ihre Perspektive - die Anbetung des Castroismus und der Guevara-Bewegung - bedeutete jedoch nichts Geringeres als jeglichen Kampf für den Aufbau revolutionärer Arbeiterparteien aufzugeben und führte zur physischen Vernichtung des trotzkistischen Kaders sowie letztendlich zu katastrophalen Niederlagen der lateinamerikanischen Arbeiterklasse. Die Perspektive, die von den heutigen Pablisten für Venezuela vertreten wird, unterscheidet sich in keinerlei Weise davon.

Der Bankrott dieser Perspektive zeigt sich deutlich in einer Erklärung, die die Grant-Woods-Gruppe 2004 unter dem Titel "Venezolanische Revolution in Gefahr" abgab. Hierin findet sich folgende Einschätzung zur gegenwärtigen Lage in Chavez’ Venezuela:

"Das Justizsystem ist immer noch fest in den Händen der Reaktion. Das zeigte sich deutlich, als der Oberste Gerichtshof entschied, es habe im April 2002 keinen Staatsstreich gegeben, sondern nur ein ‚Machtvakuum’. [...]

Die venezolanische Oligarchie und die multinationalen Konzerne haben die Massenmedien, die Privatindustrie und das Banksystem immer noch fest in der Hand. Sie benutzen ihr Eigentum an diesen zentralen Hebeln der Gesellschaft, um den Willen der Mehrheit zu sabotieren und einen weiteren reaktionären Putsch anzuzetteln. [...]

Obwohl Sabotage an den Ölanlagen durch die direkte Aktion der Ölarbeiter vereitelt wurde, die (gemeinsam mit den Gemeinden und der Nationalgarde) die Kontrolle über die Ölindustrie übernahmen, sind dieselben bürokratischen Strukturen in der staatseigenen Ölgesellschaft PDVSA größtenteils immer noch intakt. [...]

Obwohl viele reaktionäre Offiziere die Streitkräfte verlassen haben, als sie die Rebellion ausriefen, sind viele immer noch im Militär aktiv, und die traditionelle bürgerliche Struktur der Armee bleibt weiterhin größtenteils intakt. [...]

Die Ministerien und der Staatsapparat im Allgemeinen sind voll von Reaktionären, die ständig den revolutionären Prozess sabotieren. Diese kapitalistischen Institutionen müssen abgeschafft und durch die allgemeine Wahl aller öffentlichen Bediensteten ersetzt werden."

Gefahren werden in dieser Erklärung sehr detailliert dargelegt, aber man erfährt nicht, was eigentlich genau das Wesen dieser "Revolution" sein soll, die alle wesentlichen Hebel des Staats und der Wirtschaft in den Händen ihrer reaktionären bürgerlichen Gegner belässt. Dieser Lagebericht bestätig unabsichtlich die absolute politische Notwendigkeit, eine revolutionäre Arbeiterpartei aufzubauen, die unabhängig von der Regierung Chavez ist und zu ihr in Opposition steht.

Darüber hinaus haben wir die Situation in Brasilien, wo sich die reaktionäre opportunistische Rolle der Pablisten ebenso unverhüllt zeigt. Im letzten Jahr veröffentlichte das pablistische Vereinigte Sekretariat eine Erklärung mit dem Titel "Über die Situation in Brasilien", die eine Bilanz der ersten zwei Amtsjahre von Präsident Luiz Inacio "Lula" da Silva und seiner Regierung der Arbeiterpartei (PT) präsentiert.

Hierin wird eingestanden, dass die PT-Regierung treu und brav die Politik durchsetzt, die der Internationale Währungsfond diktiert: Renten, Löhne und grundlegenden Rechte der brasilianischen Arbeiter sind Angriffen ausgesetzt, während gleichzeitig noch reaktionärere Maßnahmen, wie die Privatisierung der staatlichen Universitäten, von der Regierung vorbereitet werden.

"Die allgemeine Ausrichtung der Regierung verwandelt linke Minister in bloße Sicherheitsgurte oder Geiseln für eine Gesamtpolitik, die nicht ihre ist", stellt die Erklärung fest. "Diese zweijährige Erfahrung zeigt deutlich, dass der Aufbau eines anti-neoliberalen, antikapitalistischen sozio-politischen Arbeiterblocks in Widerspruch zur Beteiligung an der gegenwärtigen Regierung steht und auch ihre Unterstützung ausschließt."

Die Pablisten sind mit einer unangenehmen Tatsache konfrontiert: Eines ihrer führenden Mitglieder in Brasilien - Miguel Rossetto - spielt für die Regierung Lula und ihre rechte Politik exakt diese Rolle als "Sicherheitsgurt" und "Geisel", indem er weiterhin als Minister für Agrarreformen fungiert. Auch wenn die pablistische Führung jetzt behauptet, sie habe Vorbehalte gegenüber Rossettos Regierungsbeteiligung gehegt, gibt sie zu, sie habe "es vermieden, die Frage der Mitwirkung an der Lula-Regierung auf dogmatische Weise zu stellen".

Wenn sie sich jetzt dafür entscheidet, mit ihren Bedenken an die Öffentlichkeit zu gehen, so deshalb, weil das reaktionäre Programm und der krasse Betrug der Lula-Regierung Unzufriedenheit hervorgerufen haben - nicht nur unten großen Teile der brasilianischen Arbeiterklasse sondern auch unter den revisionistischen und kleinbürgerlichen Tendenzen, in denen die Pablisten arbeiten. Führende Mitglieder ihrer eigenen Sektion in Brasilien wurden aus der PT ausgeschlossen und haben sich Bestrebungen angeschlossen, eine weitere links-zentristische Wählerpartei aufzubauen - die PSOL (Partei für Sozialismus und Freiheit), welche die Funktion eines Puffers zwischen der Arbeiterklasse und der PT-Regierung einnehmen soll.

In dieser Situation - die führende Fraktion ihrer brasilianischen Gruppe verbleibt in einer Regierung, die Mitglieder derselben Organisation aus der regierenden Partei ausgeschlossen hat, und die so Ausgeschlossenen treten nun wiederum für den Aufbau einer neuen Partei ein, die gegen diese Regierung kämpft - besteht die Empfehlung des Vereinigten Sekretariats darin, "zu leben und leben zu lassen". Es erklärt "die Förderung des Dialogs" zwischen den Ausschließenden und den Ausgeschlossenen zu seinem Ziel.

Ihren eigenen brasilianischen Mitgliedern, die sich jetzt als Gegner gegenüberstehen, raten die Pablisten: "Auch wenn sie heute verschiedene Wege und Entwicklungen gewählt haben, sollten sie sich doch Mühe geben, nicht die Brücken hinter sich abzubrechen und sich für die Zukunft alle Möglichkeiten offen zu halten."

"Brich die Brücken nicht ab" und "Halte alle Möglichkeiten offen" - die grundlegende Anschauung des Opportunismus ließe sich wohl kaum einfacher darstellen.

Es ist von großer historischer Bedeutung, dass sich die lateinamerikanische Bourgeoisie zur Verteidigung ihrer Herrschaft mittlerweile auf Elemente stützen muss, die früher einmal Verbindungen zum Trotzkismus hatten. Wenn diese derzeit von den nationalen Bourgeoisie in die Regierungen geholt werden, so um zu verhindern, dass der Klassenkampf außer Kontrolle gerät.

Entscheidend ist, wie sich das Internationale Komitee der Vierten Internationale und die World Socialist Web Site in dieser Situation verhalten. Es eröffnen sich ohne Frage enorme Möglichkeiten für den Aufbau des IKVI in Lateinamerika, und wir müssen die Arbeit der WSWS entsprechend entwickeln.

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