Im Folgenden veröffentlichen wir einen dreiteiligen Berichts zu China, den der Korrespondent der World Socialist Web Site, John Chan, im Rahmen der erweiterten WSWS- Redaktionssitzung in Sydney vom 22. bis 27. Januar 2006 gehalten hat.
China entwickelt sich zu einer der zentralen Fragen in Hinblick auf unsere Perspektive, eine internationale sozialistische Bewegung im einundzwanzigsten Jahrhundert aufzubauen.
Das Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI) hat schon seit langem in seinen Analysen darauf hingewiesen, dass das Ende des Nachkriegsgleichgewichts, das auf den Zusammenbruch der Sowjetunion folgte, eine neue Periode enormer sozialer und politischer Erschütterungen für den Weltkapitalismus einleiten werde.
Heute drückt sich die Krise durch zwei miteinander verbundene Phänomene aus - den Niedergang der Vereinigten Staaten als Weltmacht und dem offensichtlichen Aufstieg Chinas zur globalen Wirtschaftsmacht. Mit einem gewissen Abstand folgt Indien auf Chinas Spuren.
Der Niedergang Amerikas zeigt sich am deutlichsten in der gewaltigen Eruption des US-Militarismus. Die USA haben in nur 15 Jahren vier Kriege geführt - zwei im Irak, einen auf dem Balkan und einen in Afghanistan - und drohen mit weiteren. Da ihre ökonomische Macht zerfällt, sehen sich die Vereinigten Staaten gezwungen, zunehmend auf militärische Macht zu setzen, um ihre globale Vormachtstellung aufrechtzuerhalten. Das wird die Vereinigten Staaten unvermeidlich in Konflikt mit ihren europäischen und asiatischen Konkurrenten bringen. Einer ihrer Hauptrivalen ist China.
Es sollte darauf hingewiesen werden, dass die Öffnung der chinesischen Wirtschaft Teil der amerikanischen Außenpolitik der 1970er Jahre war. Washington wollte durch die Annäherung an Mao Tsetung 1972 ursprünglich eine prowestliche Allianz gegen die Sowjetunion erreichen. Drei Jahrzehnte später sind die Vereinigten Staaten mit den Auswirkungen der ökonomischen Kräfte konfrontiert, die sie entfesselt haben. Angesichts der stark wachsenden chinesischen Marktwirtschaft nehmen die USA das Land jetzt als "strategischen Konkurrenten" wahr.
Chinas Aufstieg als neue Wirtschaftsmacht in den 1990ern steht im Zentrum dessen, was bürgerliche Ökonomen als "globales Ungleichgewicht" bezeichnen. China ist eine wichtige Triebkraft für das Weltwirtschaftwachstum gewesen, doch das Land ist in seinen sozialen und ökonomischen Grundlagen sehr instabil und entwickelt gleichzeitig wirtschaftliche und geopolitische Beziehungen, die die bisherigen internationalen Beziehungen destabilisieren und stören.
Der wichtigste Wirtschaftskommentator der Financial Times Martin Wolf bemerkte am 13. Dezember: "Paris stand in Flammen, der Ölpreis erreichte neue Spitzenwerte, der amerikanische Notenbankchef Alan Greenspan sprach vom 'Rätsel' niedriger Zinssätze, das globale 'Ungleichgewicht' wuchs an, Mexiko quälte sich und Chinas Textil- und Bekleidungsexporte wurden weiteren Beschränkungen unterworfen. Was verbindet diese sehr verschiedenen Ereignisse? Die Antwort lautet: der Chinaschock. [...]
Mit einer Gesamtbevölkerung von mehr als 3,3 Milliarden Menschen leben in den Entwicklungsländern Ost- und Südasiens mehr als dreimal so viele Menschen wie in den heutigen Ländern mit hohem Einkommen. Die gewaltige Verringerung der Kommunikationskosten und die weltweite Öffnung der Märkte, die zwei treibenden Kräfte hinter der gegenwärtigen Globalisierung, vervielfachen die Auswirkungen dieser Zahlen auf die Weltwirtschaft."
Der Eintritt Chinas und Indiens in den Prozess der globalisierten Produktion hat vor allem durch das enorme Reservoir an billigen Arbeitskräften in diesen Länder die Verhältnisse der Weltwirtschaft dramatisch verändert. China ist eine wichtige Triebkraft hinter dem zunehmenden Wettbewerbs der globalen Industrien, den steigenden Warenpreise und sinkenden Löhnen, die große Teile der Arbeiterschaft auf der ganzen Welt betreffen.
Im Dezember hat Chinas Nationales Statistikamt die geschätzte Wirtschaftskraft des Landes um beinahe ein Fünftel nach oben korrigiert. Nach dieser jüngsten Berichtigung lag das Bruttoinlandsprodukt 2005 bei über 2,1 Billionen US-Dollar, was China zur sechstgrößten Volkswirtschaft der Welt macht. Mit einem jährlichen Wirtschaftswachstum von über neun Prozent wird China 2006 wahrscheinlich Frankreich und Großbritannien überholen und hinter den USA, Japan und Deutschland zur viertgrößten Volkswirtschaft der Welt werden.
Noch in den frühen 1980er Jahren war China ein vorwiegend agrarisch geprägtes Land mit einer Wirtschaft, die vor allem auf Autarkie ausgerichtet war. Heute gilt das Land als "Werkstatt der Welt" und hat damit den Titel übernommen, den Großbritannien im neunzehnten Jahrhundert trug. Die meisten Spielsachen und Schuhe weltweit sowie ein Großteil der Textilien und elektrischen Haushaltsgeräte werden jetzt in China hergestellt. Das Land ist mittlerweile auch ein Hauptverbraucher von Rohstoffen und Energie. 2004 lag Chinas Anteil am Weltrohölverbrauch bei 7,4 Prozent, zudem konsumierte das Land 31 Prozent der Kohle, 30 Prozent des Eisenerzes, 27 Prozent des Walzstahls, 25 Prozent des Aluminiums und 40 Prozent des Zements weltweit.
Chinas Industrialisierung wird hauptsächlich von transnationalen Konzernen betrieben, die das Land als riesige Produktionsstätte für den Export benutzen. Das ist mit einem weiteren ökonomischen Phänomen verbunden: dem Aufstieg riesiger Einzelhandelsdiscounter in den westlichen Märkten. Besonders in den Vereinigten Staaten sind diese Einzelhändler mit ihren breiten Logistiknetzwerken und Verkaufsstätten ein idealer Vertriebsweg für billige Massenprodukte aus China.
In der Vergangenheit war das Symbol des amerikanischen Kapitalismus General Motors, heute ist es Wal-Mart - der größte Einzelhandelskonzern der Welt. Die Einfuhren von Wal-Mart aus China machten mehr als 10 Prozent aller US-Importe aus China im Jahr 2002 aus. Chinesische Exporte spielen eine wichtige Rolle beim wachsenden US-Handelsdefizit, das in Bezug auf China letztes Jahr wahrscheinlich bei mehr als 200 Milliarden US-Dollar lag.
In Hinblick auf Europa ist ein ähnlicher Trend zu verzeichnen. Der Handel zwischen der EU und China ist seit 1978 um mehr als das Vierzigfache gewachsen, was China zu Europas zweitgrößtem Handelspartner nach den USA macht. Der Handelsüberschuss der EU gegenüber China zu Beginn der 1980er Jahre ist einem Defizit von 78 Milliarden Euro im Jahre 2004 gewichen. Dem chinesischen Handelsministerium zufolge erreichte der bilaterale Handel in den ersten elf Monaten des vergangenen Jahres 196,78 Milliarden US-Dollar - das entspricht einem Anstieg um 23,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Die wachsenden Exporte Chinas in die EU, insbesondere von Textilien und Bekleidung, haben zu Spannungen mit Brüssel geführt, weil sie Teile der europäischen Industrie und Millionen von Arbeitsplätzen bedrohen. Aber China wird nicht bloß ein Exporteur von Kleidern, Schuhen und DVD-Playern bleiben. Getrieben von den Sachzwängen des Marktes werden transnationale Konzerne in China stärker in kapital- und technologieintensive Industrien wie die Automobil- und Chemieproduktion investieren.
Das jüngste Beispiel für eine solche Entwicklung ist Airbus. Nachdem Airbus im Dezember einen Vertrag mit Peking über den Kauf von 150 Passagierflugzeugen im Wert von 9 Milliarden Euro unterzeichnet hat - das größte Geschäft in der Geschichte von Airbus - überlegt das Unternehmen jetzt, ein Montagewerk in China zu errichten. Wenn es dazu kommen sollte, wäre dies die erste Produktionsstätte des Luftfahrtriesen außerhalb Europas. China hat sich mit 120 Millionen Luftfahrtpassagieren im Jahr 2004 zum drittgrößten Reisemarkt nach den Vereinigten Staaten und Europa entwickelt. Es kauft gegenwärtig ein Sechstel aller neu produzierten Flugzeuge der Welt auf.
Der chinesischen Vereinigung von Automobilherstellern zufolge hat China letztes Jahr Japan vom zweiten Platz auf dem Weltautomarkt verdrängt, nachdem der chinesische Markt mit 5,92 Millionen verkauften Einheiten sein Volumen seit 2001 verdoppeln konnte. Durch massive Investitionen transnationaler Automobilkonzerne hat Chinas Produktionskapazität im Automobilsektor 5,7 Millionen Einheiten erreicht.
Volkswagen zum Beispiel produziert schon mehr Autos in China als in Deutschland. General Motors ist in China zum größten Automobilkonzern geworden, obwohl dem Unternehmen in den Vereinigten Staaten der Bankrott droht und schon Fabriken in Nordamerika und Europa geschlossen wurden. GM plant, seine Produktion in China bis 2007 mit weiteren Investitionen in Höhe von 3 Milliarden US-Dollar zu verdoppeln. Der Konzern möchte aufstrebende Märkte wie Indien, Indonesien und den Nahen Osten mit Niedrigpreisautos (um die 5.000 US-Dollar) aus seiner Chinaproduktion beliefern. In Anbetracht der Tatsache, dass die Produktionskapazitäten bereits die Inlandsnachfrage übertreffen, ist für die kommenden Jahre mit einem Export billiger, in China hergestellter Autos in die ganze Welt zu rechnen.
Die Erwartungen an Chinas Autoexporte ergeben sich aus den gegenwärtigen chinesischen Exporten im Bereich der Informationstechnologie.
Ein OECD-Bericht vom 13. Dezember stellt fest, dass China der weltgrößte Exporteur von IT-Produkten wie Mobiltelefonen und PCs geworden ist. Mit einem Exportvolumen von 180 Milliarden Dollar im Jahr 2004 hat China die Vereinigten Staaten um mehr als 30 Milliarden Dollar übertrumpft. Die Zahl würde noch größer ausfallen, wenn über Hongkong verschiffte Waren eingerechnet wären. "Nach einem Wert unter 35 Milliarden Dollar im Jahre 1996 hat Chinas Handelsvolumen [bei Produkten der Informations- und Kommunikationstechnologie] 2004 fast 235 Milliarden Dollar erreicht und wächst seit 1996 um fast 38 Prozent pro Jahr", erklärt der Bericht.
Fast 90 Prozent von Chinas IT-Exporten werden von ausländischen Firmen hergestellt, die auch andernorts Produktionsstätten oder Lager unterhalten. 2004 hatte China bei IT-Gütern ein Handelsdefizit von 20 Milliarden Dollar gegenüber Taiwan, von 11 Milliarden gegenüber Südkorea und 6 Milliarden Dollar gegenüber Japan.
Neue globale Arbeitsteilung
China ist zu einem riesigen Fließband geworden, verarbeitet in anderen Ländern hergestellte Teile und Komponenten und hat dadurch einen enormen Anstieg der Industrieproduktion erlebt. Das Sinken der Importzölle nach Chinas Eintritt in die Welthandelsorganisation 2001 hat es für transnationale Konzerne deutlich billiger gemacht, ihre Güter in dem Land zusammenbauen zu lassen. Die Folge ist eine radikale Neuorganisation der Arbeitsteilung im asiatisch-pazifischen Raum.
Vor der asiatischen Finanzkrise 1997/98 waren die so genannten asiatischen "Tigerstaaten" voneinander unabhängige Anbieter billiger Arbeitskraft, die in die Vereinigten Staaten und nach Japan exportierten. Heute hat China in der Region die Verarbeitung für den Export größtenteils übernommen und überlässt Südostasien, Südkorea, Japan, Taiwan und Australien die Rolle der Zulieferer von Investitionsgütern, Komponenten und Rohmaterialien. Für die meisten dieser Volkswirtschaften ist China zum größten Exportmarkt geworden. Weil das Exportvolumen nach dem Gesamtwertes der gefertigten Produkte berechnet wird, kommen sich in China die in anderen asiatischen Ländern produzierten Werte zusammen und nehmen die Form eines riesigen Handelsüberschusses gegenüber den Vereinigten Staaten an.
Dieser Wandel ist ein wichtiger Faktor für die massive Häufung von US-Dollars in den ostasiatischen Zentralbanken. 2005 hielt China allein ausländische Währungsreserven in einer Gesamthöhe von 819 Milliarden Dollar. Der größte Teil dieser Reserven ist in US-Dollar ausgewiesen und die Summe wächst monatlich um 15 Milliarden Dollar an. Ende 2006 wird China vermutlich Japan als weltgrößten Halter ausländischer Währungsreserven überholen.
Diese Konzentration finanzieller und ökonomischer Ressourcen in China hat Teile der amerikanischen herrschenden Elite in Alarmstimmung versetzt. Sie fürchten, Peking könnte einen Handelsblock bilden, der potentiell den US-Interessen in der Region schadet.
Der US-Kongress wirft Peking vor, den Yuan künstlich unterbewertet zu halten, um "unfaire" Exportvorteile zu erlangen und dadurch für das wachsende US-Handelsdefizit verantwortlich zu sein. Die Gewerkschaftsbürokratie und Teile der amerikanischen Wirtschaft machen Chinas niedrige Arbeitskosten dafür verantwortlich, dass Millionen von Arbeitern in den Vereinigten Staaten ihren Job verlieren, die Löhne fallen und sich die Arbeitsbedingungen verschlechtern. Sie treten für eine protektionistische Lösung ein und fordern, dass entweder Peking den Yuan gegenüber dem Dollar aufwerten müsse oder andernfalls Handelssanktionen verhängt werden sollten.
Solch eine Reaktion auf die Krise des amerikanischen Kapitalismus setzt am falschen Ende an. Der Aufstieg von China, Indien und ganz Asien als Billiglohnanbieter ist nicht die Ursache sondern die Folge einer sich vertiefenden ökonomischen Krise des Weltkapitalismus.
Um sinkenden Profiten entgegenzuwirken, haben transnationale Konzerne in den vergangenen 30 Jahren die Fortschritte in der technologischen Entwicklung und der Kommunikationstechnik genutzt, um ihre Aktivitäten rund um den Globus dort aufzubauen oder dorthin zu verlagern, wo die Arbeitskraft billiger und der Gewinn höher ist. Folgerichtig haben sich Länder, die ehemals nur von marginaler Bedeutung für die Weltwirtschaft waren, in höchst bedeutsame Produktionsstätten und Dienstleistungsanbieter verwandelt.
Gleichzeitig hat sich die Ausbeutung der Arbeiterklasse in jedem Land enorm verschärft und überall ist die Kluft zwischen Reich und Arm größer geworden. Hieraus ergibt sich eine objektive Notwendigkeit für den internationalen Zusammenschluss der Arbeiterklasse gegen das globale Kapital. Wal-Mart zieht seine Profite einerseits aus tausenden Ausbeuterbetrieben in China und andererseits aus Niedriglohnjobs in den Vereinigten Staaten, was eine gemeinsame Front amerikanischer und chinesischer Arbeiter unerlässlich macht.
Die Aufhäufung enormer Finanzreserven in den asiatischen Zentralbanken und enormer Schulden in den Vereinigten Staaten ist untrennbar verbunden mit dem Niedergang der Vereinigten Staaten als Industriemacht und ihrer wachsenden Abhängigkeit von importierten Produkten und Dienstleistungen, insbesondere aus Asien. Auf die Unbeständigkeit solcher ökonomischer und finanzieller Beziehungen hat Nick Beams in seinem Bericht zur Weltwirtschaft deutlich hingewiesen.
Ich möchte zwei Punkte ergänzen. Während große Geldmengen in die Vereinigten Staaten und dort in immer riskanteren Formen der Spekulation fließen, sind die Fundamente der chinesischen Wirtschaft auch nicht stabiler. China wird zwar bald der größte Eigner von US-Dollar sein, ist aber vollkommen abhängig vom fortwährenden Zufluss ausländischer Direktinvestitionen und der Ausweitung seiner Exportmärkte in den Vereinigten Staaten und anderswo.
Über 60 Milliarden Dollar fließen jährlich als ausländische Investitionen nach China, um das durch die Proletarisierung von hunderten Millionen Bauern geschaffene Reservoir an billiger Arbeitskraft auszubeuten. Aber das ökonomische Gesetz, das das globale Kapital dazu treibt in China zu investieren, wirkt noch darüber hinaus. Aus Sicht der Kapitalistenklasse als Ganzer nützt diese große Reservearmee von Arbeitskräften, einen ständigen Druck auf die Löhne auszuüben. Für jedes einzelne Unternehmen ergibt sich der Druck, die Produktivität z.B. durch Automatisierung zu erhöhen, und so mit weniger Arbeitskraft mehr zu produzieren.
In Folge sind immer größere Investitionen notwendig, um neue Fabriken zu bauen, die Produktion auszuweiten und hierüber genügend Arbeitsplätze zu schaffen. Investitionen und Exporte sind für den größten Teil von Chinas wirtschaftlichem Wachstum verantwortlich. Aber der Bedarf des Weltmarktes nach Chinas Exporten ist begrenzt und der Konsum im Inland stark eingeschränkt durch die Notwendigkeit, die Arbeit billig zu halten, um Investitionen anzuziehen. Sinkende Nachfrage aus den Vereinigten Staaten nach chinesischen Exporten oder auch nur eine Verlangsamung des ökonomischen Wachstums würden zu massiver Arbeitslosigkeit führen.
Aus diesem Grund hat die chinesische Regierung auch die außergewöhnliche durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von 9 Prozent nicht großartig gefeiert - die Führung weiß, dass dies das notwendige Minimum darstellt, um das Überleben des Regimes zu sichern.
Das von Investitionen und Exporten bestimmte Wachstum ist von besonderen Widersprüchen gekennzeichnet. Der Konkurrenzkampf der Provinzregierungen um Investitionen in ihren jeweiligen Regionen muss zur Doppelung industrieller Projekte und zu massiver Überkapazität führen. Dadurch dass die Vereinigten Staaten auf eine Neubewertung der chinesischen Währung drängen, hat sich das Problem der Investitionsblasen verschlimmert, weil "heißes Geld" in Chinas Immobilienmarkt geflossen ist. Jedes Platzen dieser Spekulationsblasen wird eine riesige Finanzkrise in China hervorrufen. Das Bankenwesen kämpft schon jetzt mit faulen Krediten in unüberschaubarer Höhe.
Grundlegender als die unmittelbaren wirtschaftlichen Probleme ist die soziale Katastrophe, die durch die Anarchie des Marktes und die Konzentration des Reichtums in den privilegierten Gesellschaftsschichten hervorgerufen wird. Das Entwicklungsprogramm der UN berichtete im Dezember, dass Chinas Gini-Koeffizient - das international anerkannte Maß für soziale Ungleichheit - auf 0,45 und damit auf das gleiche Niveau wie in der amerikanischen Gesellschaft gestiegen ist. Der UN-Bericht betonte, dass dieser Graben zwischen Arm und Reich in nur einer Generation entstanden ist, und warnte, der Prozess bedeute für Millionen von Menschen enorme Belastungen und Entwurzelungen.
Wichtige soziale Errungenschaften der Revolution von 1949 wie öffentliche Bildung und allgemeine Gesundheitsversorgung sind praktisch vollständig zusammengestrichen worden. Die Privatisierung der Wirtschaft hat zu schlimmster Umweltverschmutzung und zu negativen Rekorden bei der Arbeitssicherheit geführt. Bis 2010 wird sich China vermutlich zum weltgrößten Produzenten von Treibhausgasen entwickeln. Der Blutzoll der kapitalistischen Produktion zeigt sich am deutlichsten in Chinas Kohlebergbau. China ist der größte Kohleproduzent der Welt. Diese Stellung erreicht es vorrangig durch massenhafte Niedriglohnarbeit und nicht durch Maschineneinsatz. Mit dem enormen Anstieg der Energienachfrage nahmen auch die jährlichen Todesfälle in den Bergwerken zu. Viele weitere chinesische Industrien werden unter ähnlich barbarischen Bedingungen betrieben.
Das ist der chinesische Kapitalismus: arbeitsintensiv, unterdrückerisch gegenüber Arbeitern und sozial ungerecht, sowie vollkommen anarchisch und umweltzerstörend. Öffentliche Korruption, Drogenmissbrauch, Prostitution und all die anderen gesellschaftlichen Übel aus der vorrevolutionären Ära sind zurückgekehrt. Da China und Indien als neue Orientierungsmarken für Löhne und Arbeitsbedingungen rund um die Welt gelten, werden diese ökonomischen Prozesse die Klassengegensätze und -spannungen sowohl in China als auch international schnell verschärfen.
Kann China zu einer neuen Kraft werden, die Gleichgewicht in die kapitalistische Weltordnung bringt? Das ist sehr unwahrscheinlich.
Werfen wir einen Blick auf die Versprechen, die die chinesische Regierung gemacht hat. Zu Beginn der "Marktreformen" Anfang der 1980er Jahre stellte der damalige chinesische Führer Deng Xiaoping drei Grundgedanken vor, die Pekings Außen- und Innenpolitik zugrunde liegen sollten.
Erstens: In den nächsten Jahrzehnten würden die internationalen Beziehungen mit "Frieden und Fortschritt" einhergehen und dies sei die Grundlage für Chinas wirtschaftliche Modernisierung. Zweitens: Peking werde Hongkong und Taiwan im Rahmen des Projektes, den großchinesischen Kapitalismus aufzubauen, wieder ins Mutterland eingliedern. Drittens: Dengs Slogan "Lasst einige Leute zuerst reich werden" werde ein vorübergehendes Phänomen darstellen, da jeder, so die Argumentation, schließlich durch die Möglichkeiten des Marktes reich werde.
Was ist aus diesen Vorhersagen und Versprechen geworden?
Seit Hongkong 1997 an China zurückgegeben wurde, war Peking nicht in der Lage, eine stabile politische Umgebung in der ehemaligen britischen Kronkolonie zu schaffen. Teile der lokalen Elite lehnen weiterhin Pekings exzessive Einmischung in die Angelegenheiten der Stadt ab. Peking hat noch keine Lösung für den politischen Stillstand gefunden, der entstanden ist, nachdem Massendemonstrationen für demokratische Rechte den ersten Verwaltungschef Tung Chee-hwa zum Rücktritt gezwungen haben und sein Nachfolger Donald Tsang mit den gleichen Situation konfrontiert ist. Peking befürchtet, dass jedes Zugeständnis an Hongkong Forderungen nach demokratischen Rechten in China Auftrieb geben könnte, wo das Thema explosiv bleibt.
Im Falle von Taiwan haben auch zig Milliarden Dollar taiwanesischer Investitionen auf dem Festland nicht zur politischen Vereinigung geführt. Teile der taiwanesischen Bourgeoisie wollen immer noch die formelle Unabhängigkeit von China erreichen, um ihre Interessen auf internationaler Bühne vertreten zu können. Sie wurden durch den Ostasiengipfel letztes Jahr in Malaysia wieder schwer enttäuscht: Taiwan, dessen Wirtschaft größer ist als die jedes anderen südostasiatischen Landes, wurde einfach ausgeschlossen. Nach dem international anerkannten "Ein China"-Prinzip wird die Insel formal als "Provinz" der Volksrepublik betrachtet.
Peking bemüht sich, die Regierung in Hongkong zu festigen und hat wiederholt gedroht, in Taiwan einzumarschieren, wenn das Land seine Unabhängigkeit erklären sollte. Um die taiwanesische Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen, hat Peking über 700 Raketen an der Küste gegenüber Taiwan stationiert. Das ist kaum ein Zeichen für Pekings Vertrauen in die "friedliche" Wiedervereinigung mit seiner "abtrünnigen Provinz".
Im asiatisch-pazifischen Raum ist Chinas Strategie, seine ökonomische Potenz einzusetzen, um einen um Peking zentrierten Handelsblock der Vereinigung Südostasiatischer Staaten mit Japan und Südkorea (ASEAN+3) zu schaffen, von Japan heftig zurückgewiesen worden. Dem Projekt, analog zur Europäischen Union eine Ostasiatischen Gemeinschaft zu gründen, fehlt wegen der wachsenden Spannungen zwischen China und Japan, den beiden Hauptrivalen in der Region, die politische Grundlage.
Hinter Chinas Problemen mit Taiwan, Japan und Asien insgesamt stehen die Vereinigten Staaten. Die Vereinigten Staaten betrachten China als potentiellen "strategischen Konkurrenten" und haben seit den 1990ern enormen politischen und militärischen Druck ausgeübt. Ein Konfliktpunkt mit den USA und anderen wichtigen Mächten ist Chinas wachsendes Bedürfnis nach Rohstoffen, insbesondere nach Öl. Der Internationalen Energiebehörde zufolge betrug Chinas Anteil an der weltweit wachsenden Nachfrage nach Öl von 2002 bis 2005 28 Prozent - mehr als die 25,3 Prozent ganz Nordamerikas.
Wie die europäischen Mächte, Japan und Indien verstand auch China die US-Invasion im Irak als Versuch, die weltgrößten Ölvorkommen im Nahen Osten unter amerikanische Kontrolle zu bringen und dadurch einen strategischen Vorteil gegenüber Rivalen zu gewinnen. Chinas staatseigene Ölkonzerne haben in den letzten Jahren große Anstrengungen unternommen, um sich Öl- und Gaslieferungen aus Angola, Indonesien, Australien und Venezuela zu sichern. Die Strategie der chinesischen Regierung besteht darin es, Zugang zu alternativen Ölquellen zu erhalten, in anderen Gegenden als dem von den Vereinigten Staaten kontrollierten Nahen Osten.
Nach dem gescheiterten Versuch Chinas im vergangenen Jahr, den bedeutenden US-Ölkonzern Unocal zu kaufen, bezahlte die größte chinesische Ölfirma, die China National Petroleum Corporation (CNPC), 4,2 Milliarden US-Dollar für Kasachstans größten Ölkonzern PetroKazakhstan. Am 15. Dezember wurde die neue, 962 Kilometer lange Kasachstan-China-Pipeline eröffnet - ein Projekt, das als Konkurrenz zu der von Washington unterstützten Pipeline Baku-Tiflis-Ceyhan (BTC) in der Kaspischen Region angesehen wird. Russland hat sich hinter die chinesisch-kasachische Zusammenarbeit bei der Erschließung von zentralasiatischem Öl gestellt. Dies ist Teil einer sich entwickelnden strategischen Partnerschaft zwischen Peking und Moskau mittels der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, die dem US-Einfluss in Zentralasien entgegenwirken soll.
Im Mittleren Osten ist das Konfliktpotential mit den Vereinigten Staaten noch größer, da China stark in die iranische Öl- und Gasgewinnung investiert hat. Der Iran ist mit einem Anteil von fast 14 Prozent Chinas drittgrößter Öllieferant. Ende 2004 unterschrieb Peking Energieverträge im Wert von 70 Milliarden US-Dollar mit Teheran. Diese Verträge beinhalten den Kauf von 350 Millionen Tonnen Flüssiggas über einen Zeitraum von 30 Jahren, die Erschließung von Irans riesigem Yadavaran-Ölfeld und den Bau einer 386 Kilometer langen Pipeline zum Kaspischen Meer, die mit dem kasachischen Netz verbunden werden und schließlich nach China führen soll.
Chinas Handel mit Afrika steigt rapide an, besonders seine Rohstoffimporte von dem Kontinent. So zahlte zum Beispiel die staatliche Chinese National Offshore Oil Corporation (CNOOC) am 9. Januar 2,3 Milliarden US-Dollar für einen 45-prozentigen Anteil an einem nigerianischen Ölfeld, das die Ölproduktion des Konzerns um ein Fünftel erhöhen soll. Ähnliche chinesische Projekte in Lateinamerika beunruhigen Washington ebenso.
Die renommierte amerikanische Zeitschrift für Außenpolitik Foreign Affairs warnte in ihrer Ausgabe von Januar/Februar 2006, dass Lateinamerika, der einstige "Hinterhof" der Vereinigten Staaten, ein wichtiger Rohstofflieferant für China geworden ist. In den vergangenen sechs Jahren sind die chinesischen Importe aus Lateinamerika um mehr als das Sechsfache gestiegen. Zusätzlich betrachtet Peking die Region als wichtiges Feld seiner Diplomatie, da zwölf der 26 Staaten, die Taiwan anerkennen, in dieser Region liegen. China möchte diese Zahl durch die Schaffung enger politischer, wirtschaftlicher und militärischer Beziehungen mit diesen Ländern reduzieren.
Vor drei Jahrzehnten war Chinas Volkswirtschaft weitgehend auf Autarkie ausgerichtet. Heute verfolgt Peking weit reichende Interessen in Übersee. Der chinesische Außenhandel erreichte letztes Jahr über 1,4 Billionen US-Dollar und war damit der drittgrößte weltweit. In diesem Sinne ist China heute durch äußere militärische Bedrohung gefährdeter als in den 1960ern. Um seine Energiereserven zu schützen, Taiwan von der formellen Unabhängigkeitserklärung abzuhalten und sich vor allem vor einem Militärangriff der Vereinigten Staaten zu schützen, hat Peking seine konventionellen und atomaren Streitkräfte ausgebaut. Obwohl China lange noch nicht mit dem US-Militär mithalten kann, erschüttert sein wachsender Einfluss in Ostasien das zuvor von den Vereinigten Staaten und Japan gehaltene Kräftegleichgewicht.
Anders als während des Kalten Krieges, als die zwei feindlichen Blöcke ökonomisch weitgehend voneinander abgeschottet waren, sind die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten in Europa und Asien heute durch Handel und Investitionen stark mit China verbunden. Peking versucht, diese Beziehungen zu nutzen, um die Vereinigten Staaten auszumanövrieren.
Chinas intensivierte Handelsbeziehungen mit Europa haben die steigenden Spannungen zwischen der EU und den Vereinigten Staaten verstärkt. Mit dem Trumpf wachsender ökonomischer Interessen der EU in China setzte Peking Brüssel unter Druck, das Waffenembargo aufzuheben, das nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz 1989 gegen China verhängt worden war. Die europäischen Mächte schrecken vor diesem Schritt noch zurück, größtenteils aus Angst vor drohender politischer Vergeltung durch die Vereinigten Staaten.
China und Südkorea sind beide daran interessiert, die japanische Geschichtsfälschung in Hinblick auf die militärischen Aggressionen Japans in Asien zurückzuweisen. Die beiden Länder haben ebenfalls ein gemeinsames Interesse daran, die Auseinandersetzung zwischen den Vereinigten Staaten und Nordkorea über dessen Atomprogramm zu einem friedlichen Ende zu bringen. Dies bringt sie in Konflikt mit Washington, da die Vereinigten Staaten entschlossen sind, ihren Einfluss in Nordostasien zu verteidigen.
Ein Artikel aus der britischen verteidigungspolitischen Denkfabrik Royal United Service Institute hob im letzten Monat hervor, dass die US-Politik gegenüber China sowohl "wirtschaftliches Engagement" als auch "strategische Inhalte" einbezieht und immer mehr zu einer komplexen und instabilen Operation wird.
In dem Artikel hieß es: "Um dieses Gleichgewicht zu halten, müssen die Vereinigten Staaten Taiwan beeinflussen, um jede De-jure-Abtrennung zu verhindern, während sie gleichzeitig China ernsthaft zu verstehen geben, dass sie im Fall eines an der Meerenge geführten Kriegs intervenieren werden. Die Vereinigten Staaten müssen auch Verbündete wie Japan davon überzeugen, dass es ihnen mit dem Bündnis ernst ist. Ein Vertrauensverlust in Japan würde nicht nur das Herz des pazifischen Bündnissystems der Vereinigten Staaten gefährden, sondern könnte auch die Staaten Nordostasiens zu dem Versuch verleiten, den amerikanischen Nuklearschirm durch einen eigenen zu ersetzen. Durch die Beibehaltung des strategischen Drucks auf China zeigen die Vereinigten Staaten Japan, dass es gegen ein potentiell feindliches China nicht auf sich allein gestellt ist."
Bemühungen der Vereinigten Staaten, China einzukreisen, haben eine instabile Situation erzeugt. Durch die Aufnahme Indiens in das Bündnisnetzwerk der Vereinigten Staaten ermutigt Washington die Atommacht, zum regionalen Herausforderer Chinas zu werden. Japan ist ein begeisterter Anhänger von Washingtons Doktrin der "chinesischen Bedrohung" und will seiner Rolle in der nordostasiatischen Region mehr Geltung verschaffen.
Tokio ist besonders empfindlich gegenüber Pekinger Ansprüche auf das Öl und Gas der Region und gegenwärtig in eine Reihe von Auseinandersetzungen mit China über Vorkommen im Ostchinesischen Meer verwickelt. Man sollte nicht vergessen, dass Japan 1941 Pearl Harbour angriff und einen verheerenden Krieg mit den Vereinigten Staaten im Pazifik begann, nachdem Washington ein Ölembargo verhängt hatte. Was würde passieren, wenn China sich Taiwan einverleiben und drohen würde, mit seinen Streitkräften die Seewege abzuschneiden, auf denen Öl aus dem Nahen und Mittleren Osten nach Japan gelangt?
Die japanische Elite, die im eigenen Land mit wachsender sozialer Ungleichheit und den Folgen von anderthalb Jahrzehnten wirtschaftlicher Stagnation konfrontiert ist, greift wieder zum Nationalismus und Militarismus. Dieses rechte Programm beinhaltet zwangsläufig die Relativierung der Kriegsgräuel, die Japan in Asien und China begangen hat, und hat zu einer Konfrontation mit Peking geführt, wo ebenfalls Nationalismus und antijapanische Stimmungen geschürt werden.
Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, dass Nordostasien zum Pulverfass geworden und die Kriegsgefahr nicht zu unterschätzen ist.
Letztes Jahr erklärte der chinesische General Zhu Chenghu vor ausländischen Journalisten in Peking zu eventuellen Konflikten um Taiwan: "Wenn die Amerikaner ihre Flugkörper und Präzisionswaffen gegen Zielgebiete auf chinesischem Territorium schicken, werden wir wohl mit Atomwaffen antworten müssen. [...] Wir werden uns auf die Zerstörung aller Städte östlich von Xian vorbereiten. Selbstverständlich werden die Amerikaner darauf vorbereitet sein müssen, dass hunderte ihrer Städte von den Chinesen zerstört werden."
Auch wenn die chinesische Regierung die Stellungnahme später als "persönliche Meinung" des Generals zurückwies, spiegelt sie doch die Vorstellungen bestimmter Teile der chinesischen Führung, die einen Atomkrieg nicht als Problem betrachten, selbst wenn er den Tod von hunderten Millionen Chinesen und Amerikanern bedeutete.
Pekings ideologische Abhängigkeit vom chinesischen Nationalismus ist die Folge der wachsenden sozialen und wirtschaftlichen Krise im eigenen Land. Angesichts einer sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich, versucht Peking Unterstützung bei Teilen der aufsteigenden Mittelschichten zu gewinnen.
Ende letzten Jahres erklärte Lin Zhibo, stellvertretender Chefredakteur der Meinungsseite in der offiziellen Tageszeitung People`s Daily, warum Peking den chinesischen Nationalismus insbesondere gegen Japan braucht. Lins Äußerungen erschienen in China and World Affairs, einem Magazin, das sich an Chinas politische Elite wendet.
"Unsere einseitigen Bemühungen um Freundschaft [mit Japan] waren völlig vergebens. Die chinesisch-japanischen Beziehungen werden sich erst verbessern, wenn China eine härtere Haltung einnimmt. Es ist keine absolut schlechte Sache, ein Feindbild zu haben. [Der antike chinesische Philosoph] Mencius sagte: 'Ohne Feinde und äußere Bedrohungen wird ein Staat gewiss untergehen'. Ein Feind und äußere Gefahr zwingen uns, uns selbst zu stärken", schrieb Lin.
Er erklärte dann die Gründe, warum der Nationalismus zu schüren sei: Auf der einen Seite gebe es wachsende soziale Ungleichheit und auf der anderen Seite könne die herrschende Kommunistische Partei nicht länger behaupten, sozialistisch zu sein. "Heute wächst in China ein ideologisches Vakuum heran. Womit kann China das Land zusammenhalten? Ich glaube, dass es außer dem Nationalismus keinen Ausweg gibt", bekannte er.
Der reaktionäre Charakter des chinesischen Nationalismus zeigte sich deutlich im April vergangenen Jahres bei den antijapanischen Protesten und besonders bei den rassistischen Angriffen auf Japaner von Seiten chinesischer Jugendlicher aus den Mittelschichten. Während Tokio durch die Relativierung der japanischen Kriegsgräuel unzweifelhaft für Spannungen mit China verantwortlich ist, fälscht auch Peking die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, insbesondere die der Chinesischen Revolution, die die Grundlage ihres eigenen Nationalismus bildet.
In Schulbüchern, in den staatlich kontrollierten Medien und über andere Kanäle verbreitet die stalinistische Bürokratie, dass die Chinesische Revolution und die Gründung der Kommunistischen Partei nicht ein Produkt der internationalen Erhebung der Arbeiterklasse infolge der Russischen Revolution gewesen sei. Peking besteht vielmehr darauf, dass die Chinesische Revolution ein nationales Unterfangen zur "Erneuerung" Chinas und Befreiung des Landes von ausländischer Herrschaft gewesen sei. Peking versucht seine politische Legitimität mit dem historischen Auftrag zu begründen, den imperialen Ruhm des Reichs der Mitte wiederherzustellen.
Wie das tragische Beispiel von Sri Lanka zeigt, wirkt sich nationalistische und ethnisch-religiös ausgerichtete Politik für die Arbeiterklasse verheerend aus. Sri Lanka hat einen zwei Jahrzehnte andauernden Bürgerkrieg erlebt. In China werden die Konsequenzen bei weitem zerstörerischer sein und zu einem militärischen Konflikt mit Japan und anderen Großmächten führen.
Eine Bewegung der Arbeiterklasse in China gegen die stalinistische Bürokratie ist untrennbar mit einem Kampf gegen den chinesischen Nationalismus und Pekings Geschichtsfälschung bezüglich der Chinesischen Revolution und der internationalen sozialistischen Bewegung verbunden.
Vor drei Jahrzehnten war es in Peking üblich, mit "linken" Phrasen zum "Sturz des Weltimperialismus" aufzurufen. Gleichzeitig warfen zahlreiche opportunistische und kleinbürgerlich-radikale Tendenzen der trotzkistischen Bewegung vor, sie würde die "großen Errungenschaften" der chinesischen Revolution nicht anerkennen. Sie priesen Mao Tsetungs Slogan "Die Macht kommt aus den Gewehrläufen" als neuen Weg zum Sozialismus, der sich auf bäuerliche Guerrillatruppen stützen und auf die Beteiligung der Arbeiterklasse verzichten sollte.
Heutzutage ist Maos China einer der wichtigsten Stützpfeiler des Kapitalismus. Wie lässt sich diese Entwicklung erklären? Zunächst einmal hatte das maoistische Regime von 1949 nichts mit wirklichem Sozialismus zu tun. Der Name der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) wurde beibehalten, aber der soziale und politische Inhalt der Bewegung hatte sich nach der Niederlage der chinesischen Arbeiterklasse in der Revolution von 1925-27 grundlegend verändert.
Nach dem Desaster von 1927, für das Stalins nationalistische Perspektive der "Zwei-Stufen-Theorie" direkt verantwortlich war, flohen Teile der KPCh aufs Land und gründeten so genannte "Bauernsowjets". Indem sie die Arbeiterklasse in den Städten aufgab und sich den Bauern zuwandte, verwandelte sich die KPCh in eine radikale nationalistische Bewegung, die mit Teilen der chinesischen Bourgeoisie verbündet war.
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg waren Maos "Rote Armeen" aufgrund bestimmter günstiger Bedingungen in der Lage, die korrupte Diktatur von Tschiang Kaischek zu besiegen. Die Aggression des imperialistischen Japans hatte das Kuomintang-Regime ernsthaft geschwächt, gleichzeitig wollte die stalinistische Bürokratie einen Pufferstaat im Fernen Osten errichten. Tschiang Kaischek, mit dem Stalin in den 1920ern ein opportunistisches Bündnis geschlossen hatte, stand jedoch mittlerweile auf Seiten der Vereinigten Staaten.
Moskau übergab eine große Anzahl in der Mandschurei sichergestellter japanischer Waffen an Mao, was das Gleichgewicht der militärischen Kräfte zwischen KPCh und Kuomintang veränderte. Stalins ursprünglicher Plan lautete, dass Mao am Ufer des Yangtse halt machen und das Land mit Tschiang teilen sollte. Aber die Kuomintang war schon vor dem Krieg kaum in der Lage gewesen, das Land zusammenzuhalten, während die maoistische Bewegung wegen ihres Landreformprogramms beachtliche Unterstützung unter der Bauernschaft genoss. Auch für Teile der chinesischen Bourgeoisie stellte die KPCh eine Alternative dar.
Als Mao im Oktober 1949 die Geburt der Volksrepublik verkündete, rief er nicht eine neue sozialistische Arbeiterregierung aus, sondern eine von der KPCh geführte "demokratische" Regierung, an der sich ein Dutzend bürgerlicher Parteien beteiligten. In seiner Rede auf dem Tiananmen-Platz erklärte Mao: "Das chinesische Volk ist aufgestanden." Damit drückte er die Hoffnung von Teilen der Bourgeoisie auf nationale Unabhängigkeit und die Entwicklung des chinesischen Kapitalismus aus.
Die bedeutendste soziale Veränderung, die aus der Revolution von 1949 hervorging, war nicht die Verstaatlichung der Industrie sondern die Landreform - eine klassische bürgerliche Forderung. Nicht Mao sondern Sun Yatsen, der Gründer der Kuomintang, hatte um 1900 als erster in China eine Landreform gefordert und verstand sie als Teil seines revolutionären Programms für den Sturz der Manchu-Dynastie und die Entwicklung der chinesischen kapitalistischen Industrie.
Unter den Bedingungen des "Kalten Krieges" war Peking einer Wirtschaftsblockade durch die Vereinigten Staaten ausgesetzt und schließlich mit dem Ausbruch des Koreakrieges sowie einem drohenden Angriff durch die USA konfrontiert. Um sich auf einen Krieg mit den Vereinigten Staaten vorzubereiten, sah sich das maoistische Regime gezwungen, die meisten Industrien in Staatsbesitz zu stellen und eine bürokratische Planung einzuführen, anstatt den Markt zu fördern und Außenhandel zu ermutigen.
Während des so genannten "Großen Sprungs nach vorn" Ende der 1950er Jahre, führte Mao eine Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft durch, schuf sich selbst versorgende Kommunen und organisierte Bauern und Arbeiter in militärartigen Produktionseinheiten. Diese Maßnahmen spiegelten Maos bäuerliche Auffassung von einem autarken nationalen Sozialismus. Trotz seiner Bekenntnisse zum "Sozialismus" sah Mao den "Großen Sprung nach vorn" immer als ein Mittel, um China wieder zu einer Großmacht zu machen und die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder einzuholen.
Die große Hungersnot und Wirtschaftskrise, die während des "Großen Sprungs nach vorn" zig Millionen Menschen das Leben kosteten, erschütterten Maos Stellung in der Partei. Teile der staatlichen Bürokratie unter Führung von Liu Shaoqi und Deng Xiaoping, den "Wegbereitern des Kapitalismus", begannen, eine Wirtschaftspolitik ähnlich den "Marktreformen" in den späten 1970ern einzuführen.
Um die Initiative zurückzuerlangen, leiteten Mao und seine Fraktion 1966 die so genannte "Kulturrevolution" ein, die den "Wegbereitern des Kapitalismus" Einhalt gebot. Aber Mao hatte keine Lösung für die Wirtschaftskrise des Landes. 1971 erreichte er eine Annäherung mit dem US-Imperialismus und legte damit die diplomatischen Grundlagen für die Einführung von Deng Xiaoping "Marktreformen" und die Öffnung des Landes für ausländisches Kapitals im Jahre 1979.
Dass sich Dengs Programm durchsetzte, war kein Zufall. Die Politik der "Marktreformen" gründete sich auf Maos eigene "Zwei-Stufen-Theorie", der zufolge eine lange Periode des Kapitalismus notwendig sei, bevor in einer unbestimmten Zukunft auch nur der Versuch unternommen werden könne, zum Sozialismus überzugehen.
In den 1980ern verwarf das Regime die staatlich kontrollierte Wirtschaft Maos als das Ergebnis seines "ultralinken" Versuchs, den Kommunismus in einem rückständigen Land aufzubauen, dem die notwendige wirtschaftliche Grundlage dazu fehlte. Deng argumentierte, dass die materiellen und wirtschaftlichen Grundlagen über Jahrzehnte und gar Jahrhunderte kapitalistischer Entwicklung heranreifen müssten. So lautet auch heute in Peking die offizielle Lehre, die den Namen "sozialistische Marktwirtschaft" oder "Sozialismus mit chinesischen Merkmalen" trägt.
Deng wies stets die Kommentare westlicher Medien zurück, dass er mit dem Maoismus gebrochen habe. Im Gegenteil, Deng betonte immer, dass er die Partei wieder auf die "korrekte" maoistische Linie gebracht habe, auf der das Regime 1949 gegründet worden war. Seine "Marktreform" war Teil des umfassenderen Prozesses, der als Globalisierung der Produktion seit Ende den 1970er Jahren an Fahrt gewann. Wie andere kleinbürgerlich-nationalistische Bewegungen der Nachkriegsperiode hatte auch das maoistische Regime kein Problem damit, seine "antiimperialistischen" Phrasen abzulegen und China in ein Billiglohnland zu verwandeln.
Von Anfang an war Maos China vielmehr ein deformierter bürgerlicher Staat, als dass er einen deformierten Arbeiterstaat dargestellt hätte. Der arbeiterfeindliche Charakter des Regimes war seit 1949 immer offensichtlich, da die Pekinger Bürokratie jede unabhängige Regung der Arbeiter unterdrückte. Mit den "Marktreformen" handelte Peking bewusst als kollektiver Interessenvertreter der chinesischen Kapitalisten sowie ausländischen Investoren und setzte polizeistaatliche Maßnahmen ein, um die rücksichtslose Ausbeutung der Arbeiterklasse zu forcieren.
Die "Marktreform" war in China kein spontaner Prozess, sondern bedurfte eines aktiven staatlichen Eingreifens und sogar der Gewalt, um der Masse der chinesischen Bevölkerung die gesellschaftlich zerstörerische Politik aufzuzwingen. Die riesigen Reserven an billiger Arbeitskraft wurden geschaffen, indem Peking in den letzten zwei Jahrzehnten die ländlichen Kommunen auflöste und staatliche Unternehmen schloss. Dieser Prozess erreichte seinen Höhepunkt nach dem brutalen Massaker an Studenten und Arbeitern auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989. Dies war ein Signal an den internationalen Kapitalismus, dass jedes Mittel angewandt werde, um die Arbeiterklasse zu unterdrücken.
Um das rasante Wirtschaftswachstum beizubehalten, subventioniert der Staat seinen Exportsektor und Industrien wie Auto und Stahl durch bevorzugte finanzielle Behandlung. Weil das Land sich im Besitz des Staates befindet, konnte die Regierung Millionen Menschen vertreiben, um Platz für die Erschließung zahlreicher Gewerbegebiete zu schaffen. Außerdem gibt der Staat jährlich zig Milliarden Dollar für den Bau von Schnellstraßen, Häfen, Kraftwerken und Telekommunikation aus, um eine Infrastruktur zu schaffen, die ausländische Investoren anzieht.
Das Ergebnis ist ein explosives Industriewachstum. Die Shenzhen Sonderwirtschaftszone zum Beispiel war Anfang der 1980er Jahre ein einfaches Fischerdorf. Im Jahre 2006 ist sie mit einer Bevölkerung von 10 Millionen Menschen eines der größten Produktionszentren der Welt.
Seit China zur "Werkbank der Welt" geworden ist, wirbt die chinesische Regierung auf allen Ebenen um internationale Investoren. Die Parteilichkeit der Regierung zugunsten des Managements ist offensichtlich. Die Körperschaftssteuer stellt die Haupteinnahmequelle der lokalen Behörden dar, was zu einem scharfen Wettbewerb zwischen Städten, Regionen und Provinzen um das ausländische Kapital führt. Je lockerer die gesetzlichen Vorgaben bezüglich Löhnen und Arbeitsbedingungen sind, desto eher kommen die Investoren. Außerdem sind viele Provinzregierungen und Funktionäre selbst Partner in Joint Ventures. Der chinesische Partner stellt für gewöhnlich das Land und die Gebäude und garantiert fügsame Arbeitskräfte. Angesichts dieser Umstände bilden die Regierung und die Konzerne eine gemeinsame Front gegen die Arbeiter.
Da zig Millionen Menschen ihre Dörfer verlassen, um in den Städten nach Arbeit suchen, und noch viel mehr Arbeiter aus Staatsunternehmen entlassen worden sind, sehen sich Arbeiter gezwungen, Löhne am Existenzminimum, lange Arbeitszeiten und extreme Arbeitsbedingungen hinzunehmen. Einem Artikel im China Daily zufolge ist der Lohnanteil am BIP von 16 Prozent 1989 auf 12 Prozent 2003 gefallen, obwohl sich das Wirtschaftsvolumen vervierfacht hat.
Starke Steuerbelastung, öffentliche Korruption und wachsender Wettbewerb nach Chinas Eintritt in die Welthandelsorganisation sorgten dafür, dass sich die harten Lebensbedingungen und die Armut auf dem Land um ein Vielfaches verschärft und die traditionelle Unterstützung der KPCh bei den Bauern untergraben haben.
Die Ausplünderung von Staatsunternehmen und weit verbreitete Korruption innerhalb des autokratischen Regimes haben eine Verschmelzung von politischer Macht und Geld hervorgebracht. Es ist ein Wiederaufleben dessen, was in der vorrevolutionären Ära als "bürokratischer Kapitalismus" genannt wurde - ein Begriff, um den vorherrschenden Teil der alten chinesischen Bourgeoisie zu beschreiben. Ihre Vertreter waren in China als Kompradoren oder Mittelsmänner des ausländischen Kapitals berüchtigt, die die Ausbeutung der billigen Arbeitskräfte und Ressourcen des Landes organisierten. Sie brauchten die korrupte Kuomintang-Diktatur, um die Arbeiterklasse und Bauernschaft zu unterdrücken.
Die Folgen der wachsenden Unruhe
Das Ergebnis ist wachsende soziale Unzufriedenheit und eine verbreitete Feindschaft unter Arbeitern und Bauern gegen das Regime. Nach den neuesten Zahlen, die Chinas Ministerium für Öffentliche Sicherheit im Januar veröffentlicht hat, ist die Zahl der Proteste und Unruhen 2005 um 6,6 Prozent auf 87.000 gestiegen. Ein Sprecher des Ministeriums wandte sich mit folgender Bitte an die Öffentlichkeit: "Wir hoffen, die Massen werden ihre Forderungen auf gesetzmäßigem Wege ausdrücken, bewusst die öffentliche Ordnung wahren und die Gesetze anerkennen, um Probleme auf harmonische und ordnungsgemäße Weise zu lösen."
Was bedeutet diese wachsende soziale Unzufriedenheit? Sie ist ein Ausdruck extremer gesellschaftlicher Polarisierung zwischen Arm und Reich, wobei kaum ein Puffer zwischen dem Regime und den Massen existiert.
Einer der blutigsten Zusammenstöße zwischen dem Staat und Demonstranten fand im Dezember statt, als paramilitärische Einheiten der chinesischen Polizei mit automatischen Waffen auf Dorfbewohner in der südlichen Provinz Guangdong schossen und eine Reihe von ihnen töteten. Das ist der erste bekannt gewordene Fall seit dem Tiananmen-Massaker, bei dem die chinesische Regierung Schusswaffen eingesetzt hat, um einen Protest zu unterdrücken.
Dieser Vorfall beunruhigte die US-Denkfabrik Stratfor, die zur sich anbahnenden sozialen Explosion in China bemerkt: "Dies ist in jedem Land eine explosive Mischung, aber besonders in China, einem Land mit einer Tradition von Revolution und Unruhe. Die Vorstellung ist naiv, dass die Bauern einfach ihr Land verlassen oder die Arbeitslosen einfach zurück aufs Land gehen. Es sind massive soziale Bewegungen im Spiel, an denen die beiden mächtigsten Kräfte in China beteiligt sind: Arbeiter und Bauern", stellt Stratfor fest.
"Das Bemerkenswerte ist, dass diese Konfrontationen sowohl an Häufigkeit als auch an Intensität zunehmen. Während sich die westlichen Medien auf die Außenansicht des chinesischen Wirtschaftswachstums konzentrieren - die Seite, die in westlichen Hotels jeder größeren Stadt zu sehen ist - erleben die chinesischen Massen sowohl die Kosten der Industrialisierung als auch die Kosten wirtschaftlichen Scheiterns. Die Summe dieser Gleichung ist Unruhe. Die Frage ist, wie weit diese Unruhe gehen wird.
Im Moment scheint es keine nationale Organisation zu geben, die für die Bauern oder Arbeitslosen spricht. Die Erhebungen sind örtlich begrenzt, von Einzelinteressen getrieben und nicht auf Landesebene koordiniert. Die einzige Gruppe, die einen nationalen Widerstand bilden wollte, Falun Gong, ist von der chinesischen Regierung ins Abseits gedrängt worden. Chinas Sicherheitskräfte sind fähig, effektiv und sie werden immer zahlreicher. Sie haben bis jetzt das Aufkommen jeder landesweiten Opposition verhindert.
Gleichzeitig warten die zunehmenden und schärfer werdenden Unruhen nur darauf, von jemandem ausgenutzt zu werden. Sie werden nicht verschwinden, denn die zugrunde liegenden ökonomischen Prozesse können nicht einfach unter Kontrolle gebracht werden. In China wie überall [auf der Welt] bestand der Führungskader jeder Massenbewegung aus Intellektuellen. Aber die chinesischen Intellektuellen sind entweder durch das Tiananmen-Massaker eingeschüchtert oder mit Jobs in westlichen Industrien gekauft. China gibt sich jetzt große Mühe, diese Brandherde örtlich begrenzt zu halten und Orte, die den Siedepunkt erreichen, zu beruhigen - zumindest um Zeit zu gewinnen, bis dann mit den Verhaftungen angefangen werden kann. Das war ihre Vorgehensweise in Shanwei [wo der Schusswaffeneinsatz der Polizei stattfand]. Der Prozess ist im Gange. Aber wenn die Wirtschaft weiterhin wächst und schlimmer wird, muss sich die soziale Unruhe ausbreiten."
Es ist festzustellen, dass Stratfor die Beziehung zwischen der Arbeiterklasse und ihrer Führung bei weitem objektiver sieht als die vielen Akademiker, die in zahlreichen Bänden die Marxisten dafür angreifen, dass diese die Notwendigkeit einer führenden Partei in der sozialistischen Revolution betonen.
Bürgerliche Professoren werden nicht müde, Lenin und insbesondere sein Werk Was tun? anzugreifen. Sie verurteilen ihn als "elitär" und machen ihn für den Aufstieg der stalinistischen Diktatur verantwortlich, weil Lenin die Erziehung der Arbeiterklasse in Fragen der sozialistischen Weltanschauung besonders hervorhob. Aber wirklichkeitsnähere Analytiker, die - wie Stratfor - im Auftrage der Bourgeoisie den Klassenkampf beobachten, erklären frei heraus, dass eine Führung in China wie überall auf der Welt eine notwendige Bedingung ist, damit sich eine revolutionäre Massenbewegung entwickeln kann.
Hierin besteht die grundlegende Bedeutung der WSWS/SEP-Sommerschule, die letztes Jahr in Ann Arbor in den Vereinigten Staaten stattgefunden hat. Die sozialistische Bewegung in China wird nicht wiederaufleben, wenn nicht die enorme Verwirrung bewusst geklärt und aufgelöst wird, die durch die Verbrechen des Stalinismus im letzten Jahrhundert entstanden ist.
Einer der wichtigsten Faktoren bei den Ereignissen von 1989 in der Sowjetunion, Osteuropa und China war, wie David North in seinem ersten Vortrag herausgestellt hat, die Unkenntnis der Geschichte. Die spontane Erhebung gegen die stalinistische Bürokratie hat sich nicht zu einer bewussten Bewegung entwickelt, die für die sozialistische Neubelebung der Sowjetunion oder in China für einen echten sozialistischen und demokratischen Staat kämpfte.
Das stalinistische Regime in China konnte die Arbeiterklasse vor allem deshalb niederschlagen, weil eine trotzkistische Perspektive fehlte. Die Führung der regierungsfeindlichen Bewegung war von kleinbürgerlichen Liberalen dominiert, die die Illusion von Demokratie im Kapitalismus verbreiteten. Sie behaupteten, die Verbrechen des Maoismus und die Krise der Sowjetunion würden beweisen, dass das gesamte sozialistische Projekt zum Scheitern verurteilt sei. Obwohl der Kapitalismus Ungleichheit erzeuge, sagten sie, sei er die einzig tragfähige gesellschaftliche und politische Organisationsform. Ohne ein Verständnis, dass die jahrzehntelange Gleichsetzung des Sozialismus mit dem Stalinismus eine Geschichtsfälschung ist, konnte die Bewegung der chinesischen Arbeiterklasse nicht mehr erreichen. Deng Xiaoping befahl die Truppen nach Peking und schlug die Proteste unter der falschen Flagge der "Verteidigung des sozialistischen Systems" nieder.
Fünfzehn Jahre später ist offensichtlich, dass Peking nichts mit Sozialismus zu tun hat und dass die Ausbreitung des Marktkapitalismus keine Demokratie bringen wird. Das bedeutet aber nicht, dass die chinesische Arbeiterklasse spontan die Perspektive des internationalen Sozialismus annehmen wird. Peking versucht krampfhaft, das ideologische Vakuum mit chinesischem Nationalismus und anderen konservativen Ideologien wie dem Konfuzianismus zu füllen - dem, nebenbei bemerkt, die Gründer der KPCh den Krieg erklärt hatten.
Diese Situation kann sich ändern. Analysen wie die von Stratfor deuten auf das Fehlen einer sozialistischen Führung in China hin, aber sie beziehen keine internationalen Faktoren ein. Sie vergessen, dass die Gründung der Kommunistischen Partei Chinas kein chinesisches Naturprodukt war, sondern aus der internationalen Erhebung der Arbeiterklasse nach der Russischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg folgte.
Vor 1917 sahen nur wenige Leute voraus, dass das damals so rückständige und konservative China ein Land werden würde, in dem Aufstieg und Verrat des Kommunismus sich so entscheidend auf den Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts auswirken sollte. Das Versagen der chinesischen bürgerlichen Revolution 1911, das Wüten der Warlords, die Enttäuschungen über den "demokratischen" Imperialismus während des Ersten Weltkrieges und der Erfolg der Oktoberrevolution 1917 - alle diese explosiven Ereignisse gaben der ideologische Atmosphäre in China eine neue Richtung, was seinen Höhepunkt in der Bewegung des Vierten Mai 1919 und in der Gründung der Kommunistischen Partei 1921 fand.
Im Verlauf von wenigen Jahren führten die fortgeschrittensten Schichten unter den chinesischen Intellektuellen nicht nur eine beispiellose Kampagne bürgerlicher Aufklärung durch, was Sun Yatsen versäumt hatte, sondern zogen auch weit reichende Schlussfolgerungen in Bezug auf die Notwendigkeit dem "russischen Weg zu folgen".
Der ideologische Sprung in der Bewegung des Vierten Mai nahm die Klassenlogik der nahenden chinesischen Revolution vorweg: Entweder vollendete die chinesische Arbeiterklasse die demokratischen Aufgaben als Teil der internationalen sozialistischen Revolution, die in Russland begonnen hatte, oder sie würden überhaupt nicht erfüllt werden.
Der Verrat an der Revolution von 1927 durch den Stalinismus bestätigte die Warnungen, die Trotzki im Laufe seines Kampfes gegen Stalins opportunistische Politik hinsichtlich der Kommunistischen Partei Chinas getroffen hatte. Das Aufkommen des Maoismus und die folgende Entwicklung sind von jenen Ereignissen nicht zu trennen.
Diese historischen Lehren will Peking der chinesischen Arbeiterklasse vorenthalten. Peking fürchtet die starke Verbreitung des Internet in China. Es versucht, die Ausbreitung "gefährlicher" politischer Ideen durch Zensur und die Einrichtung einer so genannten Cyberpolizei zu verhindern, um die vielen Millionen Internetbenutzer zu überwachen.
Aber die Anwendung physischer Gewalt zur Unterdrückung von Ideen ist kein Zeichen ideologischer Stärke. Es wird eine starke Wirkung in China entfalten, wenn die World Socialist Web Site auf das Chinesische ausgeweitet, die Geschichte des Stalinismus geklärt und die kollektiven Erfahrungen und Lehren der internationalen Arbeiterklasse im zwanzigsten Jahrhundert betrachtet werden.