Den folgenden Bericht hat Ulrich Rippert anlässlich der Internationalen Redaktionskonferenz der World Socialist Web Site gegeben, die vom 22. bis 27. Januar 2006 im australischen Sydney stattfand. Rippert ist Mitglied der internationalen Redaktion und Vorsitzender der Partei für Soziale Gleichheit in Deutschland.
Zwei Ereignisse der vergangenen Wochen werfen ein grelles Licht auf die explosive politische Lage in Europa.
Am 1. Januar stoppte der staatliche russische Energiekonzern Gasprom die Gaslieferungen an die Ukraine, um eine Verfünffachung des Gaspreises durchzusetzen. Bisher hatte die Ukraine als ehemalige Sowjetrepublik russisches Gas zum Sonderpreis von 50 Dollar pro 1.000 Kubikmeter bezogen, etwas mehr als ein Fünftel des Weltmarktpreises. Zwar wurde der Konflikt nach wenigen Tagen durch einen Kompromiss entschärft, aber die grundlegenden Probleme bleiben.
Alexander Rahr, ein deutscher Russland-Experte, wies darauf hin, dass Moskau in all den Jahren des Kalten Kriegs niemals von seinem "wirksamsten Machtinstrument", der "Energiewaffe" Gebrauch gemacht habe. Er wertete die Tatsache, dass die Machthaber im Kreml sie jetzt einsetzen, als neues Stadium der internationalen Situation.
Rahr sah den "Gaskrieg" im Zusammenhang mit der zunehmenden Einkreisung Russlands durch die USA. Der Schlagabtausch zwischen Moskau und Washington werde immer erbitterter, schreibt er, und fährt fort:
"Nach dem Verlust seines Einflusses auf die Ukraine musste Russland in der ersten Jahreshälfte auch einen Verlust seiner Interessenssphäre im Südkaukasus hinnehmen und seine Militärbasen in Georgien räumen. Durch die Öffnung der Ölpipeline Baku-Ceyhan verlor Moskau sein Monopol über die Energielieferungen aus dem Kaspischen Raum in den Westen. Russlands Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Im Sommer wurde die Schanghai-Organisation für Zusammenarbeit zu einem politisch-militärischen Bündnis unter russisch-chinesischer Führung ausgebaut und die amerikanischen Militärbasen aus Zentralasien vertrieben. Indien, Pakistan, Iran und Belarus traten als Beobachter dem neuen Gravitationszentrum - das sich als Gegengewicht zur unipolaren Weltordnung der USA verstehen möchte - bei. Turkmenistan und Usbekistan wurden verpflichtet, ihr Gas nach Westen nicht in Umgehung Russlands zu transportieren. Russland setzte sich über bestehende Abmachungen hinweg und begann den Iran und Syrien mit Raketenabwehrsystemen aufzurüsten.
Die USA reagierten mit der Ankündigung, ihre Militärpräsenz an der Westküste des Schwarzen Meeres auszubauen, in Polen ein amerikanisches Raketenabwehrsystem zu stationieren, die Ukraine stärker in die NATO-Strukturen zu integrieren und Russland aus seiner Marinebasis auf der Krim zu vertreiben."
Wie ein Wetterleuchten kündigte der Gasstreit Anfang des Jahres eine Konfrontation der Großmächte über die Kontrolle der Energieversorgung an, die weit über den Irakkrieg hinausgeht. Ich werde darauf zurückkommen.
Das zweite wichtige Ereignis sind Enthüllungen über die Beteiligung des deutschen Geheimdienstes am Irakkrieg. Deutlicher könnte der zynische und verlogene Charakter der rot-grünen Bundesregierung kaum sichtbar werden. Während sie in offiziellen Erklärungen den Irakkrieg als Fehler bezeichnete und ablehnte, hat die deutsche Regierung nicht nur den Luftraum zur Verfügung gestellt und die Sicherung deutscher US-Militärbasen übernommen, sie war über ihren Geheimdienst auch direkt an Kriegshandlungen beteiligt.
Das zeigt, dass nicht eine Regierung in Europa bereit war oder bereit ist, dem aggressiven amerikanischen Militarismus entgegenzutreten. Das Desaster des US-Imperialismus im Irak hat auch den Niedergang und die Krise Europas beschleunigt. Um diese Entwicklung zu verstehen, muss man an die Analyse anknüpfen, die wir vor anderthalb Jahrzehnten zu Beginn der kapitalistischen Restauration in Osteuropa und der Sowjetunion gemacht haben.
Als vor 15 Jahren die stalinistischen Regime in Osteuropa und der Sowjetunion zusammenbrachen, erklärten wir, dies sei Ausdruck einer tiefen Krise des Weltimperialismus.
In einer Erklärung zum Untergang der DDR schrieben wir im Sommer 1990: "Der Zusammenbruch der stalinistischen Regimes in Osteuropa kennzeichnet den Zusammenbruch des wirtschaftlichen und politischen Gleichgewichts, auf dem die verhältnismäßige Stabilität des Imperialismus seit dem Zweiten Weltkrieg beruhte. Die Kette des Imperialismus ist in Osteuropa an ihrem schwächsten Glied gerissen. ... Der Bankrott des Stalinismus eröffnet keine neue Blüteperiode des Kapitalismus, sondern eine neue revolutionäre Epoche, eine neue Periode von erbitterten Klassenkämpfen und Kriegen, in denen die Bourgeoisie versucht, auf den Knochen der Arbeiter ein neues Gleichgewicht zu schaffen, während sich der Arbeiterklasse die Möglichkeit bietet, den Imperialismus weltweit zu stürzen." (1)
Wenn man bedenkt, dass der Fall der Mauer damals allgemein als Triumph des Kapitalismus gefeiert - oder, je nach Standpunkt, bedauert - wurde, so war das eine sehr weitreichende Feststellung. Fünfzehn Jahre später ist sie in vollem Umfang bestätigt. Der amerikanische und der europäische Imperialismus befinden sich in einer tiefen Krise. Alle inneren und äußeren Widersprüche, die Europa in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in heftige Klassenkämpfe und zwei Weltkriege gestürzt hatten, brechen wieder auf.
Der amerikanische Imperialismus betrachtete das Ende der Sowjetunion als Gelegenheit, eine unangefochtene Weltmachtstellung zu erlangen und seine Vorherrschaft auch auf die Weltregionen auszudehnen, die bisher unter dem Einfluss der Sowjetunion standen.
Der europäische und insbesondere der deutsche Imperialismus sahen im Fall der Mauer die Chance, die amerikanische Vorherrschaft abzuschütteln, die EU nach Osteuropa auszudehnen und sie zu einer Macht zu entwickeln, die den USA wirtschaftlich und militärisch ebenbürtig oder überlegen ist.
Im Januar 1991 griff ein von den USA geführtes Militärbündnis den Irak an. Es war der Beginn einer langen Reihe von Bemühungen, die amerikanische Vorherrschaft mit militärischen Mitteln auszuweiten. Es folgten der Krieg gegen Jugoslawien, die Osterweiterung der Nato, der Krieg gegen Afghanistan, die Stationierung von Truppen in Zentralasien und schließlich der zweite Irakkrieg.
Ebenfalls 1991, im Dezember, versammelten sich die europäischen Staats- und Regierungschefs in Maastricht und entwickelten Pläne für die Umwandlung der Europäischen Gemeinschaft in eine politische Union; für die Einführung einer gemeinsamen Währung, die dem Dollar Konkurrenz macht; für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die Europa in die Lage versetzt, politisch und militärisch unabhängig von den USA zu handeln; für eine enge Zusammenarbeit im Bereich von Polizei und Justiz; und für die Osterweiterung der EU bis an - und zum Teil über - die Grenzen der ehemaligen Sowjetunion hinaus.
Diese Pläne wurden neun Jahre später, in der Erklärung von Lissabon, durch das Ziel ergänzt, die EU in den "wettbewerbsfähigsten und dynamischsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt" zu verwandeln.
Der Versuch, die USA als "einzige Weltmacht" zu etablieren, hat in ein militärisches Desaster geführt, auf das der US-Imperialismus nur eine Antwort kennt: Weitere und aggressivere militärische Abenteuer. Aber auch die europäische Bourgeoisie musste feststellen, dass es eine Sache ist, den Kontinent mit Unterstützung der USA wirtschaftlich zu integrieren, und eine ganz andere, ihn gegen die USA politisch zu vereinen.
Die EU in der Krise
Die Europäische Union steckt in einer tiefen Krise. Der Einigungsprozess hat - außer auf dem Gebiet der Polizeiaufrüstung - nur noch Rückschläge vorzuweisen. Die europäische Verfassung ist an den Meinungsverschiedenheiten zwischen den Regierungen und am Widerstand der französischen und holländischen Wähler gescheitert. Von einer gemeinsamen Außenpolitik gibt es keine Spur. Militärisch gibt nach wie vor die US-dominierte Nato in Europa den Ton an. Großbritannien wird der Euro-Zone auf absehbare Zeit nicht beitreten. Und der Euro selbst wird durch das Fehlen einer einheitlichen Finanz- und Steuerpolitik zusehends in Frage gestellt.
Die USA haben ihre Machtstellung in Europa benutzt, um die innereuropäischen Konflikte zu schüren. Das zeigte sich während des Irakkriegs, als US-Verteidigungsminister Rumsfeld den Gegensatz zwischen dem "alten" und "neuen" Europa anheizte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die USA die Rolle des Schiedsrichters in den europäischen Angelegenheiten übernommen. Mit dem Wegfallen dieser Rolle brechen die alten Fragen wieder auf: Wer dominiert Europa? Wie kann das wiedervereinte Deutschland unter Kontrolle gehalten werden? Wie kann Großbritannien verhindern, von einer deutsch-französischen Achse dominiert zu werden? Wie können die kleineren Mitgliedstaaten ihre Interessen gegenüber den Großen wahren? Wie kann Polen verhindern, dass es zwischen Deutschland und Russland erdrückt wird?
Die europäischen Regierungen beobachten sich misstrauisch. Keine traut der anderen über den Weg. Trotzki hatte Recht, als er 1915 schrieb: "...ein einigermaßen vollständiger wirtschaftlicher Zusammenschluss Europas von oben herab, durch Verständigung zwischen kapitalistischen Regierungen [ist] eine Utopie. Weiter als zu Teilkompromissen und halben Maßnahmen kann hier die Sache niemals kommen. Daher wird eine wirtschaftliche Vereinigung Europas, welche sowohl für die Produzenten wie für die Konsumenten und für die kulturelle Entwicklung überhaupt von größtem Vorteil ist, zu einer revolutionären Aufgabe des europäischen Proletariats in seinem Kampf gegen den imperialistischen Protektionismus und dessen Waffe, den Militarismus." (2)
Die europäische Bourgeoisie wagt es nicht, dem amerikanischen Imperialismus in den Arm zu fallen - auch die deutsche und französische nicht, die in der Öffentlichkeit gegen den Irakkrieg auftraten.
In Deutschland gewannen SPD und Grüne 2002 aufgrund ihrer offiziellen Ablehnung des Irakkriegs die Bundestagswahl. Doch das hinderte sie nicht daran, den USA die uneingeschränkte Nutzung ihrer Basen auf deutschem Boden für den Kriegseinsatz zu gestatten, obwohl dies - wie ein hohes deutsches Gericht später feststellte - völkerrechtswidrig war.
Die deutsche und die französische Regierung wollten den Krieg nicht aus Rücksicht auf das Völkerrecht verhindern, oder weil sie Skrupel hatten, ein weitgehend wehrloses Land zu bombardieren und militärisch zu erobern. Es ging ihnen ausschließlich um die eigenen wirtschaftlichen und strategischen Interessen in der Golfregion, die sie durch das amerikanische Vorgehen bedroht sahen. Nachdem der Krieg einmal begonnen hatte, setzten sie sich uneingeschränkt für den militärischen Sieg der Invasoren ein.
Während in Deutschland Millionen gegen den Krieg auf die Straße gingen, sicherten der damalige grüne Außenminister Joschka Fischer und der sozialdemokratische Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier (mittlerweile selbst Außenminister) der US-Regierung hinter dem Rücken der Öffentlichkeit die weitestgehende Kooperation zu. Der deutsche Geheimdienst unterstützte die USA bei der Jagd auf Saddam Hussein und bei der Festlegung von Zielen im Irak, wie kürzlich bekannt wurde.
Später schwieg die deutsche Regierung, als deutsche Staatsbürger von der CIA entführt und gefoltert wurden, und enthielt sich jeder Kritik an Guantanamo und anderen illegalen Praktiken der USA.
Das aggressive Vorgehen des amerikanischen Imperialismus stellt die europäische Regierungen vor ein Dilemma, wie wir zu Beginn des Irakkriegs schrieben: Folgen sie den USA, bleibt ihnen nur die Rolle eines amerikanischen Vasallen. Stellen sie sich den USA entgegen, riskieren sie die Spaltung Europas und langfristig eine wahrscheinlich katastrophale militärische Konfrontation.
Im Falle Deutschlands stellt sich dieses Dilemma in besonders ausgeprägter Form. Die Regierung Schröder hatte sich in der Auseinandersetzung um den Irakkrieg eng an Frankreich und an Russland angelehnt. Schon zu Schröders Amtszeit hatte dies Befürchtungen ausgelöst, die deutsche Außenpolitik könne zu stark in Abhängigkeit von Paris oder Moskau geraten, die beide ihre eigenen Interessen verfolgen.
Als dann Russland der Ukraine zu Beginn dieses Jahres den Gashahn abdrehte, wurde die Forderung nach einer außenpolitischen Neuorientierung lauter. Deutschland werde durch die Abhängigkeit von Russland erpressbar, lautete die vielfach geäußerte Befürchtung. Die neue Kanzlerin Angela Merkel bemüht sich seither, die Achse der deutschen Außenpolitik wieder in Richtung Washington zu verschieben. "Näher an Amerika, realistischer mit Russland, konkurrierender mit China" lautet die neue Devise, wie eine Zeitung kommentierte.
Doch bisher beschränkt sich diese Neuorientierung auf diplomatische Gesten. Die Spannungen zwischen Washington und Berlin haben tiefere Ursachen, die sich auf diplomatischem Wege nicht so einfach aus der Welt schaffen lassen.
Streit um Energie
Im Kampf um die Neuaufteilung der Welt treffen Amerika und Deutschland sowie andere europäische Mächte als Rivalen aufeinander. Es würde umfangreiche Untersuchungen erfordern, das komplexe Geflecht der internationalen Wirtschaftsbeziehungen umfassend zu analysieren. Ich will mich hier auf eine Frage beschränken, die zunehmend zum zentralen Zankapfel in den internationalen Beziehungen wird: die langfristige Sicherung der Energieversorgung.
Der größte Teil des weltweiten Energieverbrauchs wird durch fossile Brennstoffe gedeckt - durch Öl, Erdgas und Kohle. Deren Vorkommen ist endlich. Wissenschaftliche Schätzungen darüber, wie lange sie ausreichen, schwanken. Es ist aber unbestritten, dass es sich höchstens um Jahrzehnte handeln kann. In spätestens 20 bis 60 Jahren wird der Weltbedarf die vorhandenen Vorkommen deutlich übersteigen.
Während der wachsende Bedarf Chinas und die Folgen des Irakkriegs schon jetzt zu einem deutlichen Ansteigen der Energiepreise geführt haben, werden zukünftige Konflikte zu Versorgungslücken führen und das Überleben ganzer Volkswirtschaften in Frage stellen. Der Zugang zu Energiequellen wird damit für die herrschende Klasse aller Länder zu einer Überlebensfrage, für die sie notfalls auch militärische Konflikte in Kauf nimmt. Er spielt eine ähnlich wichtige Rolle, wie der Zugang zu Kohle und Stahl vor dem ersten und zweiten Weltkrieg.
Deutschland befindet sich in dieser Hinsicht in einer besonders prekären Situation. Außer relativ ineffektiver Braunkohle, extrem teurer Steinkohle und geringen Gasvorkommen verfügt es über keine eigenen Energievorkommen. Es deckt drei Viertel seines Energiebedarfs aus ausländischen Quellen. 97 Prozent des Erdöls, 83 Prozent des Erdgases und 60 Prozent der Steinkohle werden importiert.
Diese drei Energieträger sowie Braunkohle machen gegenwärtig 84 Prozent des deutschen Primärenergieverbrauchs aus. Lediglich 13 Prozent stammen aus Kernenergie (deren Brennstoff ebenfalls importiert werden muss) und 3 Prozent aus erneuerbaren Energien.
Ein großer Teil der deutschen Energieimporte kommt aus Russland. Im vergangenen Jahr bezog Deutschland 43 Prozent seines Erdgases, 34 Prozent seines Erdöls und 16 Prozent seiner Steinkohle aus russischen Quellen.
Obwohl diese Abhängigkeit in den führenden Kreisen Deutschlands wachsende Besorgnis auslöst, wird sie durch den Bau der Ostseepipeline, die im Jahr 2010 fertig sein soll und Russland direkt mit Deutschland verbindet, weiter steigen. Das ist nicht zuletzt ein Ergebnis des Irakkriegs, der die Golfregion destabilisiert und der amerikanischen Vorherrschaft unterworfen hat. Am Golf befinden sich nicht nur die weltweit größten Erdölvorkommen, der Iran verfügt nach Russland auch über die zweitgrößten Erdgasvorräte der Welt.
Der Gaskrieg zwischen Russland und der Ukraine hat in Deutschland Forderungen nach einer stärkeren Diversifizierung der Energieversorgung aufkommen lassen. Doch das ist leichter gesagt als getan. Wo man hinblickt - nach Zentralasien, in den Mittleren Osten, nach Nord- und Zentralafrika oder nach Lateinamerika -, liegen die Energiereserven in Krisenregionen, in denen sich bereits andere Großmächte intensiv um Einfluss bemühen. Die Sicherung der Energieversorgung wird so immer mehr zu einer machtpolitischen und zu einer militärischen Aufgabe.
Die herrschende Klasse Deutschlands ist sich darüber voll bewusst. Schon Anfang der neunziger Jahre hieß es in den Verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundeswehr, die deren Umwandlung aus einer Verteidigungs- in eine internationale Eingreiftruppe anleiteten, die zukünftige Aufgabe der deutschen Armee sei die "Förderung und Absicherung weltweiter politischer, wirtschaftlicher, militärischer und ökonomischer Stabilität", sowie die "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des Zugangs zu strategischen Rohstoffen".
Betrachtet man den russisch-ukrainischen Gaskrieg, mit dem ich meinen Beitrag begonnen habe, in diesem Zusammenhang, steht außer Zweifel, dass sich hier internationale Konflikte ankündigen, die alle Großmächte mit einbeziehen.
Die wachsenden Konflikte zwischen den Großmächten gehen mit umfassenden Angriffen auf die Arbeiterklasse einher. Vor allem in den letzten fünf bis sechs Jahren hat der gesellschaftliche Niedergang in Europa ein enormes Tempo angenommen.
Eine wichtige Rolle spielt dabei die Osterweiterung der EU, deren Auswirkungen bereits vor dem offiziellen Beitritt der neuen Mitglieder im Jahr 2004 spürbar wurden. Den europäischen Unternehmen stehen auf engstem Raum eine große Menge billiger, gut ausgebildeter Arbeitskräfte zur Verfügung, die systematisch eingesetzt werden, um den Lebensstandard auch im übrigen Europa zu senken.
Das Lohngefälle innerhalb der EU ist enorm. Eine Arbeitsstunde in Skandinavien, Deutschland Großbritannien und Frankreich kostet zwischen 25 und 30 Euro, in Polen 5 Euro, in den baltischen Staaten und der Slowakei 4 Euro und in Bulgarien, das demnächst in die EU aufgenommen werden soll, 1,40 Euro.
Die durchschnittlichen Bruttolöhne in Firmen, die mehr als zehn Leute beschäftigen, liegen in den großen westeuropäischen Ländern bei 2.500 bis 3.300 Euro monatlich, in Polen bei 540 Euro, in Litauen bei 345 und in Lettland bei 208 Euro.
Dieses Gefälle findet sich auf engstem Raum. Von der deutschen Hauptstadt bis zur polnischen Grenze sind es nur 100 km, bis in die lettische Hauptstadt Riga etwas mehr als 1000 km. Auf einer Distanz von 1000 km gibt es also ein Lohngefälle von über 90 Prozent.
Auch die Beträge, die für soziale Leistungen - Rente, Gesundheit, Sozialhilfe usw. - ausgegeben werden, schwanken enorm: In Schweden sind es jährlich 10.000 Euro pro Einwohner, 250 km weiter östlich, auf der anderen Seite der Ostsee, sind es 1.100 Euro in Polen, bzw. 590 Euro in Lettland.
Die Löhne in Polen, dem größten osteuropäischen Beitrittsland, sind mit dem EU-Beitritt nicht etwa gestiegen, sondern gesunken. Laut offizieller EU-Statistik sank der polnische Durchschnittslohn von monatlich 625 Euro im Jahr 2001 auf 536 Euro im Jahr 2003. Ein Grund ist, dass viele Firmen in die benachbarte Ukraine abwandern, wo der Durchschnittslohn 50 Euro beträgt. Das sind weniger als zehn Prozent des polnischen und 1,7 Prozent des westeuropäischen Durchschnittslohns!
Der durchschnittliche Lebensstandard in Osteuropa und der Sowjetunion war zwar schon vor der Wende niedriger als in Westeuropa. Doch die heutigen katastrophalen Zustände sind vor allem ein Ergebnis der kapitalistischen Restauration. Sie hat zu einer Zerstörung von Produktionskapazitäten und sozialer Infrastruktur gefügt, die in Friedenszeiten einzigartig ist.
Anschaulicher als viele Statistiken zeigt dies ein Beispiel aus einem Dokumentarfilm, den wir kürzlich auf der WSWS besprochen haben. Es schildert das Schicksal zweier Frauen, einer Ärztin aus Russland und einer Musiklehrerin aus Weißrussland, das typisch für Hunderttausende ist. Die beiden fristen ihr Leben, indem sie regelmäßig in die polnische Hauptstadt Warschau fahren, um dort Waren auf dem Trödelmarkt verkaufen.
Die Ärztin, eine Kardiologin, leitete früher eine Poliklinik. Jetzt nimmt sie regelmäßig eine 14-tägige Reise von 4.000 km, stundenlanges Ausharren in eisiger Kälte und den gefährlichen Schmuggel über die Grenze auf sich. Dabei verdient sie durch den Verkauf einiger billiger Waren maximal 100 Dollar pro Reise. Eine Verschwendung geistiger und physischer Ressourcen, die in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion an der Tagesordnung ist.
Auf der anderen Seite gibt es das Phänomen der "neuen Russen", die Millionen und in einigen Fällen Milliarden US-Dollar ihr Eigentum nennen, teure Villen bewohnen, Luxuskarossen aus dem Westen fahren und in den Nobelkurorten an der französischen Riviera und den Schweizer Alpen sogar die Amerikaner aus den Luxushotels verdrängen. Sie sind reich geworden, indem sie das Staatseigentum der ehemaligen Sowjetunion geplündert haben - der umfassendste Raubzug der modernen Geschichte.
In Westeuropa ist die Bourgeoisie dabei, sämtliche sozialen und politischen Errungenschaften, die sich die Arbeiterklasse während der Nachkriegszeit erkämpft hat, wieder rückgängig zu machen.
Über das Ausmaß des sozialen Niedergangs existieren nur sehr beschränkte statistische Daten. Es gibt - teilweise veraltete - Statistiken über Arbeitslosigkeit, Einkommen und soziale Ungleichheit. Kaum erfasst werden dagegen die Folgen der permanenten Kürzungen bei Gesundheit, Renten, Bildung und kommunalen Dienstleistungen. In Gesellschaften, wo der kostenlose Zugang zur Bildung bis zum Hochschulabschluss, ein umfassendes, öffentlich oder solidarisch finanziertes Gesundheitssystem und eine gut entwickelte öffentliche Infrastruktur bisher einen großen Teil des Lebensstandards ausmachten, haben diese Kürzungen verheerende Auswirkungen.
Die offizielle Arbeitslosenquote in den 25 Mitgliedsländern der EU lag im Oktober 2005 bei 8,5 Prozent. Diese Zahl sagt wenig aus, da die Berechnungsgrundlagen ständig verändert und die Zahlen geschönt werden. Die Quote schwankt außerdem regional sehr stark. Sie reicht von unter 5 Prozent in Irland, Großbritannien, Dänemark und den Niederlanden über etwa 10 Prozent in Deutschland und Frankreich auf nahezu 20 Prozent in Polen und der Slowakei.
In einzelnen Regionen und unter Jugendlichen ist die offizielle Arbeitslosenquote noch wesentlich höher. Fast in jedem europäischen Land gibt es Gebiete, wo sie zwischen 25 und 40 Prozent liegt. Nahezu jeder fünfte Jugendliche unter 25 Jahren ist in Europa ohne Arbeit, in Polen sind es sogar 38 Prozent.
Aber wie bereits gesagt: Diese Zahlen sind nur ein schwacher Widerschein des tatsächlichen sozialen Niedergangs. Neue Formen unbezahlter oder kaum bezahlter Arbeit, wie Praktika und Volontariate, die in keiner Statistik auftauchen, entwickeln sich wie Krebsgeschwüre. In den Niederlanden - dem europäischen Spitzenreiter - sind inzwischen 21 Prozent der Männer und 74 Prozent der Frauen nur noch teilzeitbeschäftigt, mit entsprechend niedrigen Einkommen.
Selbst ein Universitätsabschluss ist keine Garantie mehr für einen Arbeitsplatz, geschweige denn für einen gut bezahlten. Unter gut ausgebildeten Universitätsabgängern entwickelt sich ein neues, extrem ausgebeutetes Proletariat - ein Umstand, der für den Aufbau unserer Bewegung nicht unbedeutend ist.
Auch über die Armut gibt es einige Daten: 2001, also noch vor der EU-Osterweiterung, galten rund 15 Prozent der EU-Bevölkerung oder 68 Millionen Menschen als arm. Besonders Kinder und Frauen waren davon besonders stark betroffen. Spitzenreiter war Italien mit einer Armutsquote von 20 Prozent.
In den neuen Mitgliedsländern ist die Lage noch wesentlich schlimmer. Dort herrschen teilweise unbeschreibliche soziale Zustände. In den baltischen Staaten klagen mehr als ein Drittel der Haushalte über mangelhafte Wohnverhältnisse. 20 bis 25 Prozent haben keine Toilette mit Wasserspülung. Bei den Beitrittskandidaten Bulgarien und Rumänien sind es sogar 30 bzw. 39 Prozent.
Eine Folge des Anwachsens von Armut und Arbeitslosigkeit ist das Ansteigen von Selbstmorden und der Zahl der Gefängnisinsassen. Bei männlichen Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 30 Jahren ist Selbstmord inzwischen die zweithäufigste Todesursache. 400.000 Menschen sitzen in Europa in Gefängnissen. Das sind zwar weniger als die zwei Millionen in den USA, aber bedeutend mehr als noch vor wenigen Jahren. In Frankreich ist die Zahl der Gefangenen 40.000 im Jahr 1981 auf 56.000 im Jahr 2000 gestiegen und wird 2010 voraussichtlich 70.000 erreichen. In den Niederlanden hat sie sich seit 1990 verdoppelt.
Klassenkämpfe
Die scharfen sozialen Gegensätze äußern sich immer wieder in heftigen Klassenkämpfen, die nur deshalb nicht zu revolutionären Auseinandersetzungen geführt haben, weil der Arbeiterklasse nach Jahrzehnten der sozialdemokratischen und stalinistischen Dominanz jede unabhängige politische Orientierung fehlt.
Ein kurzer Überblick zeigt, welche Intensität diese Kämpfe in den vergangenen Jahren angenommen haben. Ich habe die Zeit vom Frühjahr 2001 bis zum Frühjahr 2004 in Italien ausgewählt, die ersten drei Amtsjahre der Regierung Berlusconi.
Nur zwei Monate nach Berlusconis Amtsantritt, im Juli 2001, demonstrierten in Genua 100.000 Menschen gegen den G8-Gipfel. Bei den äußerst brutalen Polizeieinsätzen wurde ein Demonstrant erschossen.
Im folgenden Jahr, 2002, kam es dann zu einer Welle von politischen und sozialen Protesten:
* Im März demonstrieren in Rom eine halbe Million gegen "die schleichende Unterhöhlung des Rechtsstaats" durch die Regierung. Diese Demonstration wird nicht von der offiziellen Opposition oder den Gewerkschaften, sondern von Künstlern und Intellektuellen organisiert.
* Zwei Wochen später demonstrieren in ganz Italien zwei Millionen gegen den Abbau des Sozialstaats.
* Im April, beteiligen sich 13 Millionen Arbeiter an einem Generalstreik zur Verteidigung des Kündigungsschutzes.
* Im Oktober beteiligen sich erneut 13 Millionen an einem Generalstreik und jeweils eine Million an Demonstrationen in Rom, Turin und andern Städten. Fabriken, Bahnhöfe und Autobahnen werden besetzt.
* Während des ganzen Herbstes kommt es zu Unruhen, Streiks, Kundgebungen und Besetzungsaktionen gegen den Abbau von insgesamt 300.000 Arbeitsplätzen.
Im folgenden Jahr, am 15. Februar 2003, findet in Rom mit drei Millionen die wohl größte Demonstration gegen den Irakkrieg in Europa statt. Die Regierung Berlusconi unterstützte den Krieg. Im April kommt es zu weiteren Anti-Kriegskundgebungen mit vielen Hunderttausend Teilnehmern.
Im Oktober 2003 findet erneut ein Generalstreik mit rund zehn Millionen Teilnehmern statt, diesmal zur Verteidigung der Renten.
Im März 2004 demonstrieren zum Jahrestag des Irakkriegs wieder eine Million in Rom.
Ich breche hier ab. Die Liste ließe sich bis zum heutigen Tag fortsetzen. Allein dieser kurze Überblick macht aber schon deutlich, wie intensiv die sozialen und politischen Proteste der vergangenen Jahre waren.
Ähnlich verhält es sich in Frankreich, wo die Liste der Streiks und Protestdemonstrationen eher noch länger ausfällt als in Italien. Ich will sie hier nicht vortragen, sondern lediglich auf eine interessante Statistik eingehen - die Zahl der Arbeitstage, die durch Streiks verloren gegangen sind.
1995 hatte diese Zahl mit 5,8 Millionen verlorenen Arbeitstagen - 2,1 Millionen im privaten und 3,7 im öffentlichen Sektor - einen Rekord erreicht. Es war das Jahr der Massenproteste und -streiks gegen die konservative Regierung Juppé, die im folgenden Jahr zurücktreten musste und durch ein Linksbündnis unter dem Sozialisten Lionel Jospin abgelöst wurde.
Unter der neuen Regierung gingen die Streiks erst einmal deutlich zurück: 1997 gingen nur eine halbe Million Arbeitstage verloren. Doch als Jospin seine Wahlversprechen nicht erfüllte, stieg die Zahl der Streiks und Proteste rasch wieder an. Im Jahr 2000 erreichte die Zahl der durch Streik verlorenen Arbeitstage wieder 3,1 Millionen. 2002 unterlag Jospin dann in der Präsidentenwahl und die Konservativen kehrten an die Macht zurück.
Seither gab es weniger Streiks, dafür eine stärkere politische Mobilisierung. Schon während der Präsidentenwahl 2002 wurde das ganze Land wochenlang von Demonstrationen gegen die Nationale Front Jean-Marie Le Pens erschüttert, der überraschend in die zweite Wahlrunde gelangt war. Und im vergangenen Jahr wurde dann die Europäische Verfassung in einem Referendum abgelehnt. Im vergangenen Herbst entluden sich die Wut, Frustration und Empörung arbeitloser Jugendlicher in Unruhen, die sich innerhalb weniger Tage auf 250 Städte ausweiteten und trotz massivem Polizeieinsatz erst nach drei Wochen eingedämmt werden konnten.
Auch in Deutschland gab es in den letzten Jahren eine starke soziale Mobilisierung. Sie fiel zwar quantitativ geringer aus als in Italien und Frankreich - was mit den politischen Traditionen des Landes und den gesetzlich verankerten korporatistischen Strukturen zusammenhängt, die es den Gewerkschaften erleichtern, solche Bewegungen unter Kontrolle zu halten. Aber auch hier kam es zu bemerkenswerten Entwicklungen.
So beteiligten sich im Frühjahr 2004 eine halbe Million Teilnehmer an Demonstrationen gegen den Sozialabbau durch die rot-grüne Regierung, doppelt soviel wie die Organisatoren erwartet hatten. Im Sommer entwickelten sich dann völlig unabhängig von den Gewerkschaften und politischen Parteien die Demonstrationen gegen die Hartz-Gesetze. Wochenlang gingen Zehntausende jeden Montag auf die Straße. Wir werteten diese Demonstrationen damals als "ein untrügliches Zeichen, dass in der Tiefe der Gesellschaft etwas in Bewegung geraten ist."
Politische Erfahrungen
Man kann ohne Übertreibung sagen, dass all diese sozialen Kämpfe in der einen oder anderen Form von den Gewerkschaften oder den reformistischen Parteien verraten oder abgebrochen wurden, ohne dass sie ihr Ziel erreicht hätten. Dennoch haben sie ein wichtiges Ergebnis: Millionen von Arbeitern und Jugendlichen sind durch wichtige politische Erfahrungen gegangen.
Sie haben erlebt, dass sie unter der Führung ihrer alten Organisationen - der reformistischen und stalinistischen Parteien und Gewerkschaften - den sozialen Niedergang nicht stoppen können. Alle Versuche, die etablierten politischen Parteien zu einem Kurswechsel zu zwingen, verliefen im Sand.
Wo die herrschende Klasse unter dem Druck sozialer Proteste zu taktischen Rückzügen gezwungen wurde, bildeten diese stets nur den Auftakt zu neuen, schärferen Angriffen. Wo unter dem Druck von unten angeblich linke Regierungen an die Macht gelangten, setzten sie die Angriffe ihrer rechten Vorgänger in verstärkter Form fort. Die alten Organisationen, die einst vorgaben, die Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten, haben sich vollkommen in den bürgerlichen Herrschaftsapparat integriert. Die Begriffe "links" und "rechts" sind politisch bedeutungslos geworden.
Als Reaktion auf die sozialen Kämpfe sind die etablierten Parteien stets näher zusammen und gemeinsam weiter nach rechts gerückt. Die große Koalition in Deutschland - die gemeinsame Regierung von SPD und konservativer Union - ist symptomatisch für diesen Prozess.
Überall in Europa hat die herrschende Klasse auf Druck von unten mit der Aufrüstung des Staatsapparats reagiert. Der "Kampf gegen den Terror" ist zum Deckmantel für den umfassendsten Angriff auf demokratische Rechte seit dem Fall des Hitler-Regimes geworden.
In Frankreich hat die Regierung Chirac auf die Revolte in den Vorstädten reagiert, indem sie ein Gesetz aus dem Algerienkrieg reaktivierte und für drei Monate den Ausnahmezustand ausrief. In Deutschland setzte sich die politische Elite über die eigene Verfassung hinweg, um einen vorzeitigen Regierungswechsel herbeizuführen. Und in Italien ändert Berlusconi das Wahlrecht nach Gutdünken und schafft die verfassungsmäßigen Voraussetzungen für eine Präsidialdiktatur.
Der völlige Bankrott des Sozialreformismus in all seinen Formen - gewerkschaftlich, sozialdemokratisch, stalinistisch und kleinbürgerlich-radikal - bildet den Schlüssel zum Verständnis der politischen Lage in Europa. Die Arbeiterklasse ist in dieser Hinsicht in den vergangenen Jahren durch enorme Erfahrungen gegangen. Doch aus diesen Erfahrungen entsteht nicht automatisch sozialistisches Bewusstsein.
Es ist unsere Aufgabe, diese Erfahrungen zu verallgemeinern, ins politische Bewusstsein zu heben und die politischen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Die Angriffe auf soziale und demokratische Rechte können nur durch eine unabhängige politische Bewegung der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines internationalen, sozialistischen Programms zurückgeschlagen werden. Der organisatorische, politische und ideologische Bruch mit dem Sozialreformismus in all seinen Formen ist die Voraussetzung für eine solche Bewegung.
Trotzki hat im Vorwort zu seiner Geschichte der "russischen Revolution" die sozialen und psychologischen Voraussetzungen für eine revolutionäre Entwicklung der Massen beschrieben: "Schnelle Veränderungen von Ansichten und Stimmungen der Massen in der revolutionären Epoche", erklärte er, "ergeben sich nicht aus der Elastizität und Beweglichkeit der menschlichen Psyche, sondern im Gegenteil aus deren tiefem Konservativismus. Das chronische Zurückbleiben der Ideen und Beziehungen hinter den neuen objektiven Bedingungen, bis zu dem Moment, wo die letzteren in Form einer Katastrophe über die Menschen hereinbrechen, erzeugt eben in der Revolutionsperiode die sprunghafte Bewegung der Ideen und Leidenschaften..."
Und weiter: "Die Massen gehen in die Revolution nicht mit einem fertigen Plan der gesellschaftlichen Neuordnung hinein, sondern mit dem scharfen Gefühl der Unmöglichkeit, die alte Gesellschaft länger zu dulden. Nur die führende Schicht der Klasse hat ein politisches Programm, das jedoch noch der Nachprüfung durch die Ereignisse und der Billigung durch die Massen bedarf. Der grundlegende politische Prozess der Revolution besteht eben in der Erfassung der sich aus der sozialen Krise ergebenden Aufgaben durch die Klasse und der aktiven Orientierung der Masse nach der Methode sukzessiver Annäherungen." (3)
Analysiert man die soziale und politische Lage in Europa im Zusammenhang mit den Erfahrungen, durch welche die Arbeiterklasse in den vergangenen Jahren gegangen ist, so wird deutlich, dass wir uns in eine solche Epoche hineinbewegen. Ein "scharfes Gefühl der Unmöglichkeit, die alte Gesellschaft länger zu dulden", ist vorhanden. Auch die 15.000 Stimmen, welche die Partei für Soziale Gleichheit bei der Bundestagwahl erhalten hat, sind ein klares Indiz für eine wachsende Radikalisierung.
Wir können damit rechnen, dass unsere Reihen in der kommenden Periode stark anwachsen und wir zu einem wichtigen Faktor der politischen Entwicklung werden. Voraussetzung ist, dass wir uns nicht an den vorherrschenden politischen Druck anpassen und selbst vor reformistischen und zentristischen Konzeptionen kapitulieren.
Angesichts des Niedergangs der Sozialdemokraten und des Stalinismus ist die Bourgeoisie auf neue linke Stützen angewiesen. In Frankreich bereitet sich die pablistische Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) darauf vor, in eine Linksregierung einzutreten. Eine politische Abrechnung mit dem Pablismus ist daher von großer Bedeutung.
Vor einem halben Jahrhundert waren Pablo und Mandel mit der Behauptung angetreten, die sozialistische Revolution werde sich nicht durch eine unabhängige Bewegung der Arbeiterklasse unter dem Banner der Vierten Internationale entwickeln, sondern mittels der stalinistischen Bürokratie, die sich unter dem Druck der Massen nach links bewegt. Dieses Konzept übertrugen sie auch kleinbürgerliche Nationalisten wie Fidel Castro und die Sandinistas, auf die Sozialdemokratie und auf die Gewerkschaften.
Die kapitalistische Restauration in der Sowjetunion sowie der allgemeine Bankrott des bürgerlichen Nationalismus, des Sozialreformismus und der Gewerkschaften haben diese Konzeption gründlich widerlegt. Die Pablisten und die kleinbürgerlichen Radikalen haben darauf reagiert, indem sie sich vollständig in den bürgerlichen Staat integrieren. Diese Organisationen sind kein Ausdruck der organisierten Revolte der Massen, sondern der linke Flügel des bürgerlichen Überbaus.
Besonders deutlich zeigt sich das in Frankreich, wo der Klassenkampf weit fortgeschritten ist und der pablistische Opportunismus aus historischen Gründen eine besonders einflussreiche Rolle spielt.
Die französische Bourgeoisie findet im Milieu der Ex-Trotzkisten und der Ex-Radikalen seit langem ein unerschöpfliches Reservoir für ihren politischen und intellektuellen Nachwuchs. Edwy Plenel, langjähriger Chefredakteur von Le Monde und selbst zehn Jahre Mitglied der pablistischen LCR, spricht in seinen Memoiren von "einigen Zehntausenden", die sich in den sechziger und siebziger Jahren auf der extremen Linken engagiert und seither "die kämpferischen Lehren zurückgewiesen haben". Man findet sie in den Redaktionsstuben, den philosophischen Fakultäten und den politischen Parteien.
Als die Streikbewegung vom Winter 1995-96 die konservative Regierung von Alain Juppé in eine schwere Krise stürzte, kürte die herrschende Klasse einen Mann zum Premierminister, der zwanzig Jahre seines politischen Lebens - von Mitte der sechziger bis Mitte der achtziger Jahre - in der Organisation Communiste Internationaliste (OCI) Pierre Lamberts verbracht hatte.
Lionel Jospin war 1971 als heimliches Mitglied der OCI der Sozialistischen Partei beigetreten und hatte den Aufstieg François Mitterrands unterstützt und begleitet. Als Mitterrand 1981 Präsident wurde, war Jospin nationaler Sekretär der Sozialistischen Partei und immer noch Mitglied der OCI.
Als Premierminister stellte sich Jospin dann als linker Sozialist dar, der - anders als Tony Blair in England oder Gerhard Schröder in Deutschland - nicht vor dem Neoliberalismus kapituliert habe. Tatsächlich unterschied sich seine Politik inhaltlich kaum von derjenigen Blairs und Schröders. Fünf Jahre später war Jospin derart diskreditiert, dass er in der ersten Runde der Präsidentenwahl dem Amtsinhaber Jacques Chirac und Jean-Marie Le Pen von der Nationalen Front unterlag.
Die LCR spielte damals eine maßgebliche Rolle, um die spontane Massenbewegung gegen Le Pen unter Kontrolle zu bringen und in das Fahrwasser Chiracs zu lenken. Das Internationale Komitee hat aktiv in diese Ereignisse eingegriffen und ausführlich darüber berichtet.
Während sich die LCR, Lutte Ouvrière und die Lambertisten, deren Kandidaten zusammen zehn Prozent der Stimmen erhalten hatten, für die Wahl Chiracs einsetzten oder passiv verhielten, sprachen wir uns scharf gegen eine Stimmabgabe für Chirac aus und riefen zu einem aktiven Wahlboykott auf. Eine solche Taktik war nötig, um der Arbeiterklasse eine unabhängige politische Linie zu geben, sie politisch zu erziehen und auf kommende Auseinandersetzungen vorzubereiten.
Die seitherige Entwicklung hat gezeigt, wie Recht wir hatten. Die Wahlkampagne für Chirac bescherte dem unpopulären, in Korruptionsaffären verwickelten Präsidenten ein politisches Comeback, das er nutzte, um zwei Monate später auch in der Nationalversammlung die Mehrheit zu erobern. Damit verfügte er über eine Machtfülle, die in keinem Verhältnis zu seiner tatsächlichen gesellschaftlichen Unterstützung stand.
Wie wir damals vorausgesagt hatten, nutzte er diese Macht, um den reaktionärsten Kräften den Weg zu ebnen. Inzwischen hat mit Nicolas Sarkozy ein Mann die Führung von Chiracs UMP übernommen, der in großen Teilen das Programm der Nationalen Front vertritt. Die Pablisten von der LCR tragen dafür eine direkte politische Verantwortung.
Volksfrontpolitik
Mittlerweile arbeiten diese Kräfte intensiv daran, das "Linksbündnis", das unter Jospin so jämmerlich Schiffbruch erlitten hat, mit frischem Blut zu versorgen. Sowohl innerhalb der LCR als auch unter ihren möglichen Koalitionspartnern findet eine offene Diskussion darüber statt, ob und unter welchen Bedingungen die Pablisten an einer Regierung beteiligt werden.
Olivier Besancenot, der Sprecher der LCR, hat auf einem Treffen der stalinistischen Tageszeitung Humanité die Bedingungen für die Unterstützung einer Einheitskandidatur der Linken durch die LCR bei den nächsten Wahlen formuliert. Voraussetzung sei eine "Mehrheitspolitik gegen den Liberalismus", die "klar antikapitalistisch" sei. Diese Bedingung ist derart weitmaschig, dass ein Walfisch bequem hindurch schwimmen kann. Zum Antiliberalismus bekennen sich in Frankreich fast alle, auch ein großer Teil der rechten bürgerlichen Parteien. Und als "antikapitalistisch" bezeichnen sich selbst die rechten Sozialisten.
Mit den Stalinisten arbeitet die LCR bereits eng zusammen. Die Führungsgremien von KPF und LCR treffen sich in regelmäßigen Abständen, um gemeinsame Initiativen und Aktivitäten abzusprechen. Im Oktober letzten Jahres unterzeichnete die LCR gemeinsam mit der Sozialistischen Partei, den Grünen, den Linken Radikalen und der KPF sogar ein gemeinsames Flugblatt für eine Gewerkschaftsdemonstration - ein deutliches Signal der politischen Übereinstimmung.
Als der Vorsitzende der Sozialistischen Partei, François Hollande, von der Zeitung Le Figaro direkt gefragt wurde, ob er bereit sei, mit der LCR zu regieren, antwortete ausweichend: "Wir sind bereit, die gesamte Linke um einen Regierungsvertrag zu sammeln."
Im Resolutionsentwurf für ihren 16. Kongress, der gegenwärtig tagt, ruft die LCR offen zu einer Art Volksfront auf. Die Resolution tritt für eine "einheitlichen Politik" der "sozialen Bewegungen sowie der antiliberalen und antikapitalistischen Linken" ein, um "eine Gegenoffensive gegen den neoliberalen Vorstoß und die nationalistische Rechte zu entwickeln". Auf der Grundlage "eines Programms dringender sozialer und demokratischer Maßnahmen" solle so "ein neues Kräfteverhältnis gegen die liberale Politik" geschaffen werden.
Die Bedeutung dieser Formulierungen ist unmissverständlich: Die LCR will auf der Grundlage eines sozialen und demokratischen Minimalprogramms die Parteien, die an der Regierung Jospin beteiligt waren, sowie Bewegungen wie Attac, die Sans-Papiers (die für die Legalisierung von rechtlosen Immigranten kämpfen) usw. vereinen, um eine neue Regierung zu bilden, sollten die Konservativen die Kontrolle verlieren. Eine solche Regierung hätte - wie einst die Volksfrontregierung unter Leon Blum - die Aufgabe, den französischen Kapitalismus in einer Periode enormer sozialer Krisen zu retten.
In Brasilien haben die Pablisten einen derartigen Schritt bereits vollzogen. Sie stellen einen Minister in der Regierung von Präsident Ignazio "Lula" da Silva.
Die Tatsache, dass die Vertreter der französischen Bourgeoisie offen über die Einbeziehung der Pablisten in die Regierung diskutiert, um ihre Herrschaft zu verteidigen, ist selbst ein Ausdruck einer fortgeschrittenen politischen Krise. Die Fronten werden klar. Es gibt nichts mehr, das zwischen der revolutionären Perspektive des Internationalen Komitees und den Verteidigern der bürgerlichen Herrschaft steht.
Auch in Italien spielen die Pablisten seit langem eine maßgebliche Rolle bei der Verteidigung der bürgerlichen Ordnung. Die Partei Rifondazione Comunista, die 1991 als Zerfallsprodukt aus der Kommunistischen Partei hervorging, galt unter den kleinbürgerlichen Radikalen in ganz Europa lange Zeit als Vorbild.
Ihr haben sich die meisten italienischen Radikalen angeschlossen. Der führende italienische Pablist, Livio Maitan, gehörte bis zu seinem Tod im Jahr 2004 zu den wichtigsten Ratgebern von Parteichef Fausto Bertinotti. Ein Mitglied von Maitans Tendenz bezeichnete Rifondazione vor zwei Jahren als Werkzeug, "durch das wir uns durch einen komplexen Prozess von Zusammenstößen, Brüchen, Experimenten, Öffnungen und Neugruppierungen in Richtung der Neugestaltung eines neuen revolutionären politischen Subjekts bewegen konnten". (4)
Rifondazione ist nichts dergleichen. Jede ernsthafte Untersuchung ihrer Rolle zeigt, dass sie ein entscheidendes Hindernis für eine unabhängige, sozialistische Orientierung der Arbeiterklasse darstellt.
Während der politischen Krisen der neunziger Jahre hat Rifondazione mehrere bürgerliche Regierungen mit der nötigen parlamentarischen Mehrheit versorgt, während sie selbst der Regierung nicht beitrat und sich bemühte, mit einem Fuß in den außerparlamentarischen Protestbewegungen zu bleiben.
Im Sommer 2003, als sich die sozialen Proteste zuspitzten und die Regierung Belusconi zunehmend unter Druck geriet, ließ Parteichef Bertinotti dann alle Zweideutigkeiten fallen und erklärte seine Bereitschaft, mit den Mitte-Links-Parteien eine programmatische Übereinkunft abzuschließen und in einer zukünftigen Regierung unter Romano Prodi Ministerposten zu übernehmen.
In Deutschland bemüht sich die Linkspartei von Gregor Gysi und Oskar Lafontaine, eine neue linke Stütze für die bürgerliche Herrschaft zu schaffen. Ihr Anspruch, eine Alternative zu den etablierten Parteien darzustellen, ist noch durchsichtiger und unglaubwürdiger als im Falle von Rifondazione.
Die Nachfolgeorganisation der DDR-Staatspartei ist längst auch in der Bundesrepublik zur staatstragenden Partei geworden. Sie trägt in einem ostdeutschen Land und im vereinigten Berlin Regierungsverantwortung. Das hoch verschuldete Berlin gilt mittlerweile als bundesweiter Vorreiter bei den Angriffen auf den öffentlichen Dienst und bei Kürzungen an Schulen, Krankenhäusern und anderen öffentlichen Einrichtungen. Den Beschäftigten der Berliner Verkehrsbetriebe hat der SPD-PDS-Senat eine pauschale Lohnsenkung von 10 Prozent verordnet.
Oskar Lafontaine, der gemeinsam mit Gregor Gysi die Bundestagsfraktion der Linkspartei führt, war 1998 als SPD-Vorsitzender Architekt von Gerhard Schröders Wahlsieg und erster Finanzminister der rot-grünen Koalition. Zuvor hatte er als Ministerpräsident des Saarlands die Stilllegung der dortigen Stahl- und Kohleindustrie überwacht.
Die Linkspartei erhebt noch nicht einmal den Anspruch, den Kapitalismus in Frage zu stellen. Ihr Programm beschränkt sich auf soziale Reformen im Rahmen des Nationalstaats, den sie vehement verteidigt. Ihr erklärtes Ziel besteht darin, auch auf Bundesebene als Koalitionspartner für die SPD zur Verfügung zu stehen.
Die Enttäuschung und Empörung über die SPD hat der Linkspartei einige Wählerstimmen gebracht und sie in die Lage versetzt, die Grünen zu überholen und in Fraktionsstärke in den Bundestag einzuziehen. Aber dieser Wahlerfolg hat nicht zu einem Anwachsen der Mitgliederzahlen geführt. Ihre Umfragewerte sind längst wieder am Sinken. Die aktive Mitgliedschaft besteht im Westen aus altgedienten Gewerkschaftsbürokraten und im Osten aus ehemaligen SED-Mitgliedern.
Auch hier bleibt es den Pseudotrotzkisten aus dem pablistischen Milieu überlassen, diese stockkonservative Partei in rosigen Farben zu malen und ihr etwas frisches Blut zuzuführen. Nachdem die führenden deutschen Vertreter des Vereinigten Sekretariats bereits nach der Wende in die PDS eingetreten sind, werben jetzt die deutschen Ableger der Militant- und der International-Socialist-Tendenz, die SAV und Linksruck, intensiv für die Linkspartei.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die soziale und politische Krise des europäischen Kapitalismus ein sehr fortgeschrittenes Stadium erreicht hat.
Die Europäische Union steckt in einer Sackgasse, die internationalen Konflikte und die Konflikte innerhalb Europas verschärfen sich, die soziale Ungleichheit hat ein enormes Ausmaß erreicht, der Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten sinkt und die Arbeiterklasse ist in den vergangenen Jahren durch bittere Erfahrung mit ihren alten Organisationen gegangen.
Es ist unsere Aufgabe, diese Erfahrungen ins Bewusstsein zu heben, die politischen Lehren daraus zu ziehen und unermüdlich alle demokratischen und sozialen Rechte zu verteidigen. Die sozialistische Vereinigung Europa als - wie Trotzki sagt - "revolutionäre Aufgabe des europäischen Proletariats" bekommt jetzt eine unmittelbare praktische Bedeutung.
Im Zentrum dieser Aufgaben steht die Entwicklung der europäischen Redaktion der WSWS : Wir müssen mehr, regelmäßiger, gründlicher und vor allem polemischer schreiben. Gleichzeitig sollten wir die sich bietenden Gelegenheiten nutzen, aktiv in die politische Entwicklung einzugreifen - etwa durch die Teilnahme an Wahlen.
Anmerkungen:
1) "DDR: Arbeiterklasse am Scheideweg", Erklärung des Zentralkomitees des Bunds Sozialistischer Arbeiter vom 2. Juni 1990. In: "Das Ende der DDR", S. 369-370
2) Leo Trotzki, "Das Friedensprogramm"
3) Leo Trotzki, "Geschichte der russischen Revolution", Vorwort
4) Flavia D’Angeli, "New turn for PRC", International Viewpoint 359, May/June 2004
Siehe auch:
David North: Einleitender Bericht zur Internationalen Redaktionskonferenz der WSWS
(8. März 2006)