Den folgenden Bericht hat Nick Beams anlässlich der Internationalen Redaktionskonferenz (IEB) der World Socialist Web Site gegeben, die vom 22. bis 27. Januar 2006 im australischen Sydney stattfand. Beams ist Mitglied des WSWS IEB und Nationaler Sekretär der Socialist Equality Party (Australien).
Dieses Jahr begann mit Voraussagen, dass das starke Wirtschaftswachstum in allen großen Industrienationen und der globalen Wirtschaft insgesamt anhalten werde, nachdem die weltweite Wachstumsrate 2005 bei 4 Prozent gelegen hatte - das höchste Niveau seit geraumer Zeit.
Der Präsident der Europäischen Zentralbank, Jean Claude Trichet, erklärte bei einem Treffen von Bankiers am 9. Januar, das globale Wirtschaftswachstum könne 2006 sogar das vom Vorjahr übersteigen. Andere teilen diese Meinung. Laut Trichet glauben die Chefs der Zentralbanken, dass "das globale Wachstum sich in einem dynamischen Tempo fortsetzt, und wir schließen nicht aus, dass das weltweite Wachstum 2006 im Vergleich zu 2005 noch etwas höher liegen könnte".
Als wollte er diese rosigen Aussichten bestätigen, stieg am folgenden Tag der Dow Jones Industrial Index über 11 000 - das war das erste Mal seit Juni 2001, dass dieses Niveau erreicht wurde - nachdem er an den ersten vier Handelstagen des Neuen Jahres mehr als 2 Prozent zugelegt hatte. Als der Dow Jones das letzte Mal über 11 000 kletterte, gab es Prognosen, er könne bis auf 36 000 steigen. Solche Äußerungen gibt es nicht mehr, aber es gibt immer noch, zumindest an der Oberfläche, den Anschein von Optimismus.
Die Wirtschaft der USA soll im kommenden Jahr um 3,4 Prozent wachsen, die der Eurozone um 1,9 Prozent, Japans Wirtschaft um 2 Prozent und die von Großbritannien um 2,1 Prozent. Für China, das für 2005 eine Wachstumsrate von 10 Prozent bekannt gegeben hat, wird ein Wachstum von 8 bis 9 Prozent im nächsten Jahr erwartet. Die Unternehmensgewinne sollen ebenfalls steigen, wobei eine Gewinnsteigerung für den S&P-500-Aktienindex von 13 Prozent vorhergesagt wird.
Hinter der kurzfristig optimistischen Prognose jedoch machen sich ernsthafte Volkswirtschaftler Sorgen über den Zustand der Weltwirtschaft. Sie verweisen auf eine Reihe von tiefgehenden strukturellen Ungleichgewichten und Spannungen - hervorgerufen vor allem durch das wachsende Zahlungsbilanz-Defizit der USA und die sich beschleunigende Verschuldung - die an einem gewissen Punkt zu raschen Veränderungen, wenn nicht zu einer Krise führen müssen. Diese Besorgnis spiegelte sich in einer Reihe von Kommentaren wider, die zu Anfang des Jahres veröffentlicht wurden.
Adam Posen, Wirtschaftswissenschaftler am Institut für Internationale Wirtschaft, zog in einem Artikel mit dem Titel "Macht die Schotten dicht, bevor der Sturm losgeht" einen Vergleich mit dem Wirbelsturm Katrina und warnte vor dem "möglichen wirtschaftlichen Sturm, der durch den nicht zu vermeidenden Ausgleich der globalen Ungleichgewichte ausgelöst werden wird.
Niemand hätte Katrina verhindern können, aber der Schaden, den er angerichtet hat, hätte deutlich gemindert werden können. Auf ähnliche Weise sollten politische Maßnahmen ergriffen werden, um die Weltwirtschaft vor einem möglichen schweren Schock zu schützen, der durch neuerlichen Handelsprotektionismus oder eine Wertanpassung des Dollars ausgelöst würde."
Es wurde allerdings sehr wenig getan. "Wenn die Regierungen der großen Wirtschaftsnationen allerdings von Katrina lernen wollten, dann müssten sie Maßnahmen ergreifen, um den Schaden zu begrenzen, der durch den Ausgleich der derzeitigen globalen Ungleichgewichte entstehen könnte." (Financial Times 28. Dezember 2005)
Obwohl Posen es nicht genauso so formulierte, existiert dennoch die Angst, dass im Falle eines ökonomischen Sturms die Reaktion der Wirtschaftsverantwortlichen gleich ausfallen könnte wie die der Bush-Regierung, als sie mit Katrina konfrontiert war.
Ein Artikel von Kenneth Rogoff, dem ehemaligen leitenden Wirtschaftswissenschaftler des Internationalen Währungsfonds (IWF), erschienen am 3. Januar, beginnt folgendermaßen: "Zunächst möchte ich festhalten, dass wir in der Tat in einer Zeit des Aufschwungs leben. Das zentrale Szenario für 2006 ist anhaltend starkes weltweites Wachstum. Steigende globale Investitionen verknüpft mit einer höheren Nachfrage auf Seiten der Öl- und Warenexporteure sollten 2006 die gesamte weltweite Nachfrage schnell steigen lassen, auch bei einem Nachlassen des US-Konsums und des chinesischen Investitionswachstums."
Es gebe, fuhr er fort, zahlreiche positive Entwicklungen, die dieses zufrieden stellende Szenario untermauern, darunter der Aufschwung in Asien, speziell in China, der Rückgang der Inflation und das Sinken der langfristigen Zinssätze. Aber das ist nicht das Ende vom Lied.
"Auch wenn die wirtschaftlichen Grundlagen gut sind, so ist es dennoch einfach, ziemlich ernüchternde Schwachstellen zu finden. Angeführt wird die Liste von den weltweiten Immobilienpreisen - die genau genommen nicht mehr sehr realistisch sind. Angesichts einer Preissteigerungsrate in den USA von 60 Prozent seit dem Jahr 2000 und einer sogar noch stärkeren Preisinflation in vielen anderen Ländern ist ein plötzlicher Preisverfall leicht vorstellbar..."
Die Zeitschrift Economist zog in einer Untersuchung, die am 16. Juni 2005 erschien, ähnliche Schlussfolgerungen. Dort beschreibt sie den globalen Anstieg der Immobilienpreisen als die möglicherweise "größte Spekulationsblase in der Geschichte".
Rogoff erklärt dazu: "[Das] globale Finanzsystem, ist, obwohl es grundsätzlich der Ursprung der Stärke ist, auch der Ursprung von Schwäche. Der Zusammenbruch von nicht regulierten Hedge-Fonds (spekulativen Fonds) und der weit verbreitete Einsatz von Kredit-Derivaten wie z. B. Credit Default Swaps bedeuten Risiken, die man ganz einfach nicht kalibrieren kann, bevor das System nicht einem Belastungstest unterworfen wurde. Das könnte z. B. als Folge eines Kursverfalls des Dollars passieren, der immer noch ein erhebliches Risiko darstellt, da die weltweiten Zinssätze sich angleichen und die Investoren dem unhaltbaren Außenhandelsdefizit der USA mehr Beachtung schenken." (Financial Times 3. Januar 2006)
In einem Kommentar, der am folgenden Tag erschien, weist der Wirtschaftskorrespondent der Financial Times, Martin Wolf, darauf hin, dass die Tatsache, dass den Gefahren für die Weltwirtschaft auf den Finanzmärkten keine Beachtung geschenkt werde, selbst ein Faktor möglicher Instabilität ist.
"Für die Weltwirtschaft wird jetzt ein glückliches neues Jahr erwartet. Aber Konjunkturbeobachter nehmen normalerweise an, dass die jüngsten Trends sich fortsetzen werden, modifiziert, wo es angebracht ist, durch eine Rückkehr zu einem längerfristigen Mittelwert. Es ist jedoch viel sinnvoller, zu fragen, was sich ändern könnte. Wenn alles ganz gut läuft, wie im Moment, dann bedeutet das meistens, man sollte sich fragen, was schief gehen könnte, und - noch wichtiger - ob die Risiken einer solchen Wende angemessen bewertet werden. Die Antwort ist: das werden sie nicht."
Die Ursachen für diese Besorgnisse waren klar. Damit es so weiter gehen könne, stellte Wolf fest, müssten weiterhin Gelder in die USA fließen, um deren wachsende Zahlungsbilanzlücke zu schließen, die Zinssätze müssten niedrig bleiben und Kreditnehmer, speziell in den USA, müssten bereit und in der Lage sein, weiterhin Schulden zu machen, um die Ausgaben für den Konsum zu finanzieren.
Es gibt "viele Risiken" für Störungen ausgelöst durch die "Ungleichgewichte" in der Weltwirtschaft. Das Finanzdefizit US-amerikanischer Haushalte, betont er, betrug mehr als 7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Verschuldung des Haushaltssektors stieg von 92 Prozent des verfügbaren Einkommens im ersten Quartal des Jahres 1998 auf 126 Prozent im dritten Quartal des letzten Jahres. Die Rückzahlungen der Haushalte für den Schuldendienst sind auf eine Rekordhöhe von 14 Prozent des verfügbaren Einkommens hochgeschnellt. "Was würde passieren, wenn die Immobilienpreise nicht mehr stiegen oder die Zinssätze erhöht würden?"
"Ein großes Störungspotential existiert. Aber die Märkte ignorieren es. Deshalb müssen wir außer der Gefahr, dass etwas schief läuft, auch eingestehen, dass die Märkte die dann nötigen Berichtigungen vervielfachen werden." (Financial Times 4. Januar 2006)
Mit anderen Worten, wenn eine plötzliche Änderung stattfindet, werden die Folgen umso schlimmer sein, weil eine solche Möglichkeit in der Zeit davor ignoriert wurde.
Und was sind - speziell in den Vereinigten Staaten - die politischen Folgen eines Zusammenbruchs der Weltwirtschaft als Resultat der augenblicklichen Ungleichgewichte? Diese Frage stellte der Leitartikler der Financial Times, Anatol Lieven, in einem Artikel im letzten Jahr. Ist das gegenwärtige politische System der USA angesichts einer Krise zu einer ernsthaften Reform fähig fragt er?
"Die zentrale Frage ist nicht, ob eine solche Reform schnell durchgesetzt werden kann, sondern ob die amerikanische Gesellschaft in der Lage ist, darüber ernsthaft zu diskutieren. Die tatsächliche Durchsetzung einer radikalen Veränderung — in den USA oder woanders — vollzieht sich nicht ohne eine Krise. Derzeit wird eine solche Krise dadurch verhindert, dass China und Japan bereit sind, US-Anleihen zu kaufen, mit ihren Exporten die Konsumausgaben der USA zu stützen und der Bush-Regierung zu erlauben, weiterhin Steuern zu senken. Aber dieser Zustand ist zerbrechlich. Die beiden Wirbelstürme Katrina und Rita haben diese Zerbrechlichkeit unterstrichen und die Umrisse zukünftiger Krisen aufgezeigt, indem sie das US-amerikanische Haushaltsdefizit erhöht und die zukünftigen Kosten der globalen Erwärmung herausgestrichen haben."
Lieven weist drauf hin, dass das amerikanische wirtschaftliche und politische System das letzte Mal in der Großen Depression mit einer "existentiellen Krise" konfrontiert war. Sie wurde durch Roosevelt und die Politik des New Deal überwunden. Aber New Deal war durch die Entwicklung einer reformistischen politischen Bewegung in den vorangehenden 40 Jahren vorbereitet worden. Eine solche Bewegung existiert in den USA zurzeit nicht. In Wirklichkeit können ernsthafte politische Reformen nicht einmal vernünftig diskutiert werden. Eine solche Situation kann ernsthafte Konsequenzen haben.
"Falls eine Krise vom Ausmaß wie die von 1929-32 die USA heute trifft, dann hätte das Land keinen F. D. Roosevelt mit einem New Deal-Programm, der gegen einen Herbert Hoover von den Republikanern antreten könnte. Es hätte einen ängstlichen, erfolglosen Hoover auf Seiten der Demokraten, der gegen einen republikanischen Calvin Coolidge antreten müsste, einen engstirniger Verteidiger der schlimmsten Erscheinungen des augenblicklichen Systems. Wenn das 1932 die Alternativen gewesen wären, dann wäre tatsächlich das Fundament des amerikanischen Staats in Gefahr gewesen." (Financial Times 15. Oktober 2005)
Die Bedeutung des rasanten Wachstums Chinas
Wir wollen nun versuchen, die zentralen Trends der Entwicklung der Weltwirtschaft zu umreißen, weil wir nur auf dieser Grundlage die unzähligen widersprüchlichen Prozesse und Tendenzen verstehen können, die hier wirksam sind.
Eine solche Analyse muss auf einer historischen Einschätzung basieren. In seinem berühmten Referat, das er 1921 vor dem Dritten Kongress der Komintern (Kommunistische oder Dritte Internationale) gehalten hat, begann Leo Trotzki mit einem Hinweis darauf, dass der Kapitalismus über ein "dynamisches Gleichgewicht" verfügt, "das sich immer entweder im Prozess der Zerstörung oder der Restaurierung befindet". Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs kennzeichnete sicherlich einen solchen Zusammenbruch. Es gab zwar Höhen und Tiefen in der Wirtschaftsperiode der 1920er Jahre, aber es stellte sich kein neues Gleichgewicht ein. Alle Widersprüche des Weltkapitalismus, die zum Weltkrieg geführt hatten, verfaulten und verfielen weiter und führten zunächst zur Großen Depression, den sich daraus ergebenden entsetzlichen Folgen und dann schließlich zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.
In unserer Epoche markiert der Zeitraum von 1971-75 - mit dem Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods, dem Beginn der globalen Rezession, gefolgt von einer Stagflation - das Ende des wirtschaftlichen Gleichgewichts der Nachkriegszeit, das auf der beherrschenden Stellung der USA gegründet war. Es stellt sich uns die Frage: Gibt es ein neues Gleichgewicht oder haben sich, ganz im Gegenteil, die Widersprüche, die zum Zusammenbruch der vorigen ökonomischen Ordnung geführt haben, vertieft und verschärft? Bewegt sich der Weltkapitalismus in Richtung auf ein neues wirtschaftliches Gleichgewicht oder entfernt er sich weiter davon?
Wenn wir auf die letzten 30 Jahre zurückblicken, dann gibt es zwei hervorstechende Phänomene. Der wirtschaftliche Niedergang der Vereinigten Staaten und der wirtschaftliche Aufstieg Ostasiens, Indiens und vor allem Chinas. Als Präsident Nixon das Währungssystem von Bretton Woods über Bord warf und den US-Dollar zur weltweiten Papierwährung machte - d. h. zum Weltgeld, das nicht durch eine Wertrücklage gedeckt wird, sondern nur durch die Autorität eines Staates - waren die Vereinigten Staaten immer noch bei weitem die mächtigste Wirtschaft der Welt. Sie waren die Hauptquelle von Investitionen und die führende Gläubigernation. Diese Stellung behielten sie noch bis Ende der 1980er Jahre bei. Seither sind die USA jedoch zum größten Schuldner der Welt geworden. Der Weltkapitalismus hat eine solche Situation - in der die führende Weltmacht die am höchsten verschuldete ist - noch nie erlebt.
Während die USA sich immer weiter in Schulden stürzen - die Zahlen der Außenhandelsbilanz von November wurden als "gute Nachricht" betrachtet, weil das monatliche Handelsdefizit von 68 Milliarden Dollar auf 64 Milliarden Dollar gefallen war - macht China eine explosive industrielle Entwicklung durch, wie sie es in diesem Umfang noch nicht gegeben hat. Diese beiden Prozesse, die eng miteinander verknüpft sind, sind der hoch dramatische Ausdruck von gewaltigen Kräften, die direkt im Zentrum der kapitalistischen Weltwirtschaft arbeiten.
Jeder ernsthafte Wirtschaftswissenschaftler ist gewöhnlich schnell bei der Hand, zu betonen, dass die augenblickliche Situation, in der die USA immer weiter in Schulden versinken - mit Geldern, die von den Zentralbanken Japans, Chinas und Ostasiens bereitgestellt werden, während sie zur gleichen Zeit einen Markt für die dort produzierten Güter bieten - an und für sich auf Dauer unhaltbar ist. Aber es ist genau diese instabile Beziehung, welche die Grundlage für das wirtschaftliche Wachstum der Weltwirtschaft bildet. Laut IWF waren von 2000 bis 2005 China und die USA alleine für zirka 40 Prozent des Wachstums der Weltwirtschaft verantwortlich und für mehr als 50 Prozent, wenn man ihren Bedarf an Exporten aus anderen Ländern berücksichtigt. (Australian Financial Review 9. Januar 2006)
Die derzeitige Wirtschaftsordnung wird beherrscht von einem, wie es der frühere US-Finanzminister Lawrence Summer genannt hat, "Gleichgewicht des finanziellen Schreckens" - die asiatischen Banken versorgen die USA weiterhin mit Geldmitteln aus Angst vor den Folgen, falls sie es nicht täten.
Der Wirtschaftskolumnist Clyde Prestowitz drückte es so aus: "Das Horrorszenario - das wirtschaftliche 9/11 - ist ein plötzlicher, massiver Verkauf von Dollars; eine Weltfinanz-Panik, deren Auslöser — relativ gesehen — ganz geringfügig sein könnte, wie zum Beispiel die Ermordung eines zweitrangigen Erzherzogs in einer drittrangigen europäischen Stadt. Ein plötzlicher Kursverfall des Dollars und sein nachfolgendes Abtreten als Weltreservewährung würden zu einer schwerwiegenden Rezession in den Vereinigten Staaten führen. Gas- und Benzinpreise schnellten in die Höhe, alles was importiert wird, würde plötzlich sehr viel teurer werden, die Zinssätze stiegen sprunghaft an, genauso wie die Arbeitslosigkeit. Die Stagflation’ der 1970er Jahre - langsames Wachstum und hohe Arbeitslosigkeit kombiniert mit einer zweistelligen Inflation und zweistelligen Zinssätzen - nähme sich dagegen wie ein Spaziergang im Park aus. Und da die Vereinigten Staaten zurzeit die einzige große Nettoimport-Nation sind, würden alle Exporteure, die von ihrer wirtschaftlichen Stabilität abhängig sind, ebenfalls extrem darunter leiden. Es ist der Gedanke an diese Konsequenzen, der die Besitzer großer Dollarbestände so nervös macht, und dafür sorgt, dass sie vorerst ihren Überschuss an Dollars behalten." (Clyde Prestowitz Three Billion Capitalists Seiten xii-xiii)
Die rasante Expansion Chinas kann nur durch Statistiken nicht angemessen dargestellt werden, aber sie sind ein Indiz für das Ausmaß der Verwandlung. Während der letzten zwei Jahrzehnte betrug das wirtschaftliche Wachstum etwa 9 Prozent pro Jahr. Das bedeutet, die chinesische Wirtschaft verdoppelt ihren Umfang etwa alle acht Jahre. Chinas Anteil am Welthandel hat sich im selben Zeitabschnitt zumindest versechsfacht - von 1 Prozent auf 6 Prozent im Jahr 2004. Wahrscheinlich liegt er heute höher. China ist heute der zweitgrößte Exporteur der Welt nach den Vereinigten Staaten; es hat damit Deutschland in diesem Jahr überholt. Seit Mitte 2002 wurde China nach Japan zum zweitgrößten Besitzer von US-amerikanischen Schuldverschreibungen. Es verfügt jetzt über offizielle Fremdwährungsreserven in Höhe von 847 Milliarden Dollar. Man geht davon aus, dass es Ende des Jahres Reserven in Höhe von 1 Billion Dollar besitzen wird. (Financial Times 16. Januar 2006)
In den letzten 20 Jahren hat sich die Zusammensetzung von Chinas Exporthandel verändert. Der Anteil an Industriegütern ist von 50 auf 90 Prozent gestiegen, während der Anteil von Grundstoffen auf 9 Prozent zurückgegangen ist.
Tatsächlich ist China zum Fertigungszentrum der Welt geworden. Es produziert die meisten Fotokopierer, die meisten Schuhe, das meiste Spielzeug und die meisten Mikrowellenherde der Welt, außerdem die Hälfte der DVD-Player, Digitalkameras, des Zements und der Textilien der Welt sowie ein Drittel aller DVD-ROM-Laufwerke und Computer sowie ein Viertel der Handys, Fernseher, Organizer, des Stahls und der Auto-Stereoanlagen. Ein Großteil dieser Produktion wird exportiert - die Exporte sind seit 1990 um das Achtfache auf 400 Milliarden Dollar gestiegen, und letztes Jahr verschiffte China mehr als 30 Prozent der Exporte an elektronischen Gütern Asiens.
Gewiss, wenn wir davon sprechen, dass China dies und das exportiert, reflektieren die Begriffe, die wir verwenden, die Tatsache, dass unsere Sprache hinter den enormen und rasanten Veränderungen der Weltwirtschaft zurückgeblieben ist. Es wäre korrekter, von Firmen zu sprechen, die von China aus agieren, weil das Hauptmerkmal der Veränderung in der chinesischen Wirtschaft der Aufbau von Fabriken durch den Zufluss von ausländischen Direktinvestitionen (Foreign Direct Investment = FDI) war.
In der Zeit von 1979 bis 1982 betrug der Zufluss von FDI nur 1,77 Milliarden Dollar. Er stieg auf 3,49 Milliarden Dollar im Jahr 1990 und gewann dann richtig an Fahrt, insbesondere nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens vom Juni 1989 und den nachfolgenden Beteuerungen Dengs (1992), dass China den ausländischen Investitionen und Marktbeziehungen verpflichtet sei. 1991 betrugen die FDI 4,37 Milliarden Dollar. Sie wuchsen im nächsten Jahr um mehr als das Doppelte auf 11,01 Milliarden und stiegen 1993 erneut um mehr als das Doppelte auf 27,52 Milliarden Dollar. Heute betragen die FDI etwa 60 Milliarden Dollar im Jahr. China ist der größte Empfänger von FDI und stellt damit die Vereinigten Staaten in den Schatten. Der Gesamtumfang an ausländischen Investitionen beträgt jetzt mehr als 500 Milliarden Dollar.
Diese massiven Investitionen wurden durch das Bestreben der großen Konzerne angetrieben, die endlose Abwärtsbewegung der Profitraten zu überwinden und die Kosten zu reduzieren. Man schätzt, dass eine Verlagerung nach China einem Produzenten zwischen 20 und 50 Prozent an Produktionskosten erspart. Die Lohnkosten in China betragen ein Fünfzehntel oder ein Dreißigstel der Kosten in den USA oder Europa. Gebäude- und Anlagekosten liegen um zirka 70 Prozent niedriger.
Wenn China zum Produktionszentrum der Welt geworden ist, dann wurde Indien zu dessen Büro - das Zentrum für Informations-Technologie und -Dienstleistungen. Im Jahr 2000 beliefen sich die indischen Softwareexporte auf zirka 6 Milliarden Dollar. Ende 2004 schätzte man sie auf 16 Milliarden Dollar. Laut dem Wirtschaftsprüfungsunternehmen Deloitte, werden innerhalb der nächsten fünf Jahre die größten Finanzunternehmen der Welt 356 Milliarden Dollar und 2 Millionen Jobs nach Übersee verlegen, größtenteils nach Indien. Eine Schätzung sagt voraus, dass Indiens Informatikdienstleistungen im Jahr 2008 57 Milliarden Dollar erwirtschaften, 4,4 Millionen Menschen beschäftigen und 7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen werden.
In einem Kommentar, der am 9. Januar veröffentlicht wurde, stellt Stephen Roach, der leitende Wirtschaftswissenschaftler von Morgan Stanley, fest. "Vor fünf Jahren beschränkte sich das Auslagern im Bereich der Angestellten noch auf Datenverarbeitung und Kundenkontaktzentren, heute hat es sich dank informationstechnologischer Vernetzung weiter nach oben gearbeitet, bis in die oberen Etagen der qualifizierten Wissens-Hierarchie - Softwareprogrammierung, Maschinenbau, Doktoren, Rechtsanwälte, Buchhalter, Versicherungsfachleute, Unternehmensberater und Finanzanalysten."
Die Industrialisierung Chinas hat tief greifende Auswirkungen auf die wirtschaftlichen und damit auf die politischen Beziehungen des asiatischen Raums. In einem Bericht der 2004 veröffentlicht wurde, stellt der IWF fest, Chinas Importe aus allen Regionen seien gestiegen, aber die Importe aus den angrenzenden Regionen seien am schnellsten gewachsen. "Dies reflektiert Chinas aufstrebende Rolle als regionales Verarbeitungszentrum und Fertigungs-Knotenpunkt für den Re-Export und legt nahe, dass sein Einfluss als regionaler Wachstumsmotor bald sogar größer werden könnte als der Japans."
In dem Jahrzehnt von 1991 bis 2001 wuchs der Welthandel um 177 Prozent. Der Handel zwischen den Regionen in Ostasien jedoch nahm in derselben Zeit um 304 Prozent zu.
Nehmen wir das Beispiel Südkoreas, das eins der Länder ist, die mehr und mehr in den wirtschaftlichen Orbit Chinas gezogen werden. Chinas Anteil an Südkoreas Exporten ist von 2 Prozent im Jahr 1990 auf heute 24 Prozent gestiegen. Südkoreas Unternehmen haben massiv in China investiert und auf China entfallen zirka 90 Prozent von Südkoreas Außenhandelsüberschuss.
Im Jahr 1999 wickelte Südkorea weniger als 10 Prozent seines Warenhandels mit China ab. Diese Zahl ist auf 18 Prozent gestiegen. 1999 lag der Umfang des Warenhandels mit Australien knapp über 5 Prozent; er ist auf zirka 12 Prozent gestiegen. Der Zuwachs für Singapur liegt bei einer Steigerung von 5 auf 10 Prozent, für Malaysia von 2,5 auf zirka 9 Prozent und für Japan von 9 auf 17 Prozent. [ Financial Times 9. Dezember 2005]
Mehr als die Hälfte des Handelsvolumens Chinas entfällt auf den ostasiatischen Raum. 2003 stieg der Handel Chinas mit dem übrigen Asien auf 495 Milliarden Dollar, eine Steigerung von 36,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das war hauptsächlich eine Folge des wachsenden Exports aus diesem Raum, der um 42,4 Prozent auf einen Umfang von 272,9 Milliarden Dollar stieg. Allein 2003 wuchsen Chinas Importe aus Japan um 38,7 Prozent, aus Südkorea um 51,7 Prozent, aus Indien um 87 Prozent. (Siehe Power Shift China and Asia’s New Dynamics David Shambaugh ed. S. 37)
Das gewaltige Wachstum der verarbeitenden Industrie Chinas hat die wirtschaftlichen Beziehungen, die in den 1980er und 1990er Jahren im ostasiatischen Raum entstanden waren, vollständig zerstört. Dieses System war bekannt als das "fliegende Gänse"-Modell. Japan war die Leitgans des Schwarms, und die anderen Länder, einschließlich Chinas, gruppierten sich dahinter.
In dem Modell der "fliegenden Gänse" importierten die ostasiatischen Wirtschaften im Rahmen der japanischen Investitionsoffensive in der Region Anlagegüter aus Japan, mit denen Fabrikwaren produzierten wurden, die dann in die Vereinigten Staaten und andere Märkte exportiert wurden. Dieses System war die Grundlage des so genannten "asiatischen Wirtschaftswunders", das in den frühen 1990er Jahren für mehr als 50 Prozent des weltweiten wirtschaftlichen Wachstums sorgte.
Die asiatische Wirtschaftskrise von 1997-98 hatte verheerende Auswirkungen auf alle Länder dieser Region, auch auf Japan. Die USA nahmen die Krise zum Anlass, um weit reichende wirtschaftliche und finanzielle Umstrukturierungen durchzusetzen, wofür sie schon zuvor plädiert hatten, aber ohne Erfolg. Da das Kapital ihnen zufloss, standen die asiatischen Wirtschaften unter keinerlei Druck, Veränderungen in der Richtung vorzunehmen, wie die USA sie forderte; die USA sahen Japan als den Begünstigten des existierenden Systems. Als die Krise ausbrach, lautete der Schlachtruf der USA, der "Kapitalismus der Vetternwirtschaft" müsse ein Ende haben - und der Chef der US-Notenbank, Greenspan, erklärte, das sei nur ein weiteres Beispiel dafür, dass jegliche Art von Steuerung zum Scheitern verurteilt sei.
Das wirkliche Problem war nicht der "Kapitalismus der Vetternwirtschaft", sondern die Stellung Japans. Das erkannte man in Tokio sehr wohl, und als die Krise ausbrach, schlug die japanische Regierung einen 100-Milliarden-Rettungsfond für die Region vor. Die Folge war ein Frontalzusammenstoß mit den Vereinigten Staaten, die darauf bestanden, dass der IWF - d. h. die US-Banken und Kreditinstitute - die entscheidende Rolle spielen müssten.
Konfrontiert mit einem größeren Zusammenstoß mit den USA, zog Japan seinen Vorschlag zurück, und die Umstrukturierung geschah unter dem Diktat des IWF. Zweifellos war einer der Faktoren, die Japan beeinflussten, die Tatsache, dass seine Vorschläge keine Unterstützung von China erhielten.
Eine Folge der Asien-Krise war das Ende des Modells der "fliegenden Gänse" und die beschleunigte Industrialisierung Chinas. Sie ist eine der zentralen Faktoren hinter den wachsenden Spannungen zwischen Japan und China in jüngster Zeit. Japans wirtschaftliche Vorherrschaft in der Region, die seit dem 2. Weltkrieg bestand, wird durch den Aufstieg einer neuen Macht auf dem asiatischen Kontinent infrage gestellt. In ähnlicher Weise war das Mächtegleichgewicht, das Großbritannien auf dem europäischen Kontinent aufrechterhalten wollte, durch die Industrialisierung Deutschlands Ende des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zerstört worden war.
So spektakulär das Wachstum der chinesischen Wirtschaft auch war, es ist gekennzeichnet durch tiefgehende Widersprüche. Das Zentrum der Wachstumsdynamik bildete die Steigerung des Exports. Von 1980 bis 2005 wuchsen die Exporte um das 41-fache und expandierten um 16 Prozent pro Jahr. Aber eine solche Wachstumsrate kann nicht aufrechterhalten werden. Würde sie noch ein weiteres Jahrzehnt fortgesetzt, dann würde China mehr exportieren als die USA, Japan und Europa zusammen.
Ein Wachstum des Exports mit derselben Geschwindigkeit wie in der Vergangenheit ist sicherlich nicht möglich. Aber wenn er sich nicht fortsetzt, dann wird die Arbeitslosigkeit schnell steigen - und damit die sich daraus ergebende Bedrohung der sozialen Ordnung. Man schätzt, dass der Überschuss an Arbeitskräften in der Landwirtschaft etwa 150 Millionen oder mehr beträgt, und die Öffnung der chinesischen Landwirtschaft für die Konkurrenz auf dem Weltmarkt im Gefolge des Eintritts Chinas in die Welthandelsorganisation bedeutet, dass die globalen Wirtschaftskräfte die Überschussbevölkerung in die Städte treiben wird. Zur gleichen Zeit legt das Regime die staatseigenen Betriebe still - wodurch in den letzten fünf Jahren 14 Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen sind.
Konfrontiert mit diesen Widersprüchen beharrt die herkömmliche ökonomische Weisheit darauf, der Weg vorwärts für die chinesische Wirtschaft liege in der Ausweitung seines Binnenmarktes, auf dem die Ausgaben für den Konsum weniger als 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen, in den USA betragen sie vergleichsweise 70 Prozent. Aber jede signifikante Ausweitung des Binnenmarktes würde eine Verbesserung des Lebensstandards und der Löhne der arbeitenden Massen erfordern. Das würde wiederum eine Erhöhung der Lohnkosten - die schon angefangen haben zu steigen - mit sich bringen, und damit gerade die Vorteile verringern, die China als bevorzugter Ort für das Investitionskapital genießt.
Der Erfolg der chinesischen Industrialisierung wurde durch den Druck erzielt, der auf die Löhne ausgeübt wurde, ermöglicht durch die riesige industrielle Reservearmee, die sich aus Bauern zusammensetzt, die vom Land in die Städte gezogen sind. Zugleich wird der durch den Export angetriebene Industrialisierungsprozess nicht im selben Umfang weiter gehen. Mit anderen Worten, die Industrialisierung Chinas wird - weit entfernt davon ein neues wirtschaftliches Gleichgewicht zu schaffen - von tiefgehenden Widersprüchen begleitet, die das Potential besitzen, heftige Klassenkämpfe auszulösen.
An die wirtschaftlichen Widersprüche Chinas reichen nur die der Vereinigten Staaten heran. Denn beide sind durch die gleichen globalen wirtschaftlichen Prozesse geprägt. Die amerikanische und die chinesische Wirtschaft sind in einer finanziellen Symbiose zusammengekettet, in der die USA immer weiter in Schulden versinkt, um die Exportmärkte zur Verfügung zu stellen, von denen das chinesische Wachstum und das Wachstum der gesamten Weltwirtschaft abhängen. Gleichzeitig legen die chinesischen und anderen ostasiatischen Zentralbanken ihre Ausfuhrerlöse in den Finanzmärkten der USA an, um den Prozess in Gang zu halten.
Das hervorstechendste Merkmal der Finanzkrise ist das Anwachsen der Auslandsverschuldung der USA. Das augenblickliche Leistungsbilanzdefizit der USA, das ca. 6,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beträgt, könnte im Jahr 2006 7,5 Prozent erreichen. Und sogar noch höhere Prozentsätze werden für die unmittelbare Zukunft vorausgesagt. Etwa 75 bis 80 Prozent der Auslandsüberschüsse des Rests der Welt sind nötig, um die Zahlungsbilanzlücke der USA zu finanzieren. Das bedeutet, ein Zufluss von mehr als 2 Milliarden Dollar pro Tag wird benötigt, um die USA zahlungsfähig zu erhalten. Der Wirtschaftswissenschaftler William R. Cline schätzt, dass das Leistungsbilanzdefizit 2010 auf 1,2 Billionen US-Dollar anwachsen könnte und die Schulden der USA, die derzeit bei 2,2 Billionen liegen - etwa 23 Prozent des Bruttoinlandsprodukts - auf 8 Billionen US-Dollar wachsen könnten, was 50 Prozent des BIP entspricht.
Laut Cline wird der wirtschaftliche Schaden umso größer sein, je länger eine Regulierung der Schuldensituation aufgeschoben wird. Eine sofortige Regulierung würde Kürzungen der Inlandsnachfrage bei den Investitionen, dem Konsum und dem Steuerdefizit in Höhe von 4 Prozent des BIPs erfordern - eine beträchtliche Kürzung. Wenn die Regulierung jedoch um zehn Jahre verschoben würde, wären Kürzungen in Höhe von 9 Prozent des BIPs nötig, was eine tiefe globale Rezession auslösen würde.
Die immer weiter wachsende Zahlungsbilanzlücke ist nur eine der großen Ungleichgewichte der US-Wirtschaft. Vor fünf Jahren, als die Spekulationsblase am US-Börsenmarkt platzte und 7 Billionen US-Dollar vernichtete, gab es keine größere Rezession in der US-Wirtschaft. Das wurde hauptsächlich verhindert durch eine Reihe von Zinssatzsenkungen, initiiert durch die US-Notenbank. Diese Senkungen, die dazu führten, dass die Kurzzeitzinsen ins Negative abrutschten, sorgten für die Finanzmittel zur Schaffung einer Spekulationsblase auf dem US-Immobilienmarkt. Laut einer Studie hat diese Spekulationsblase einen Umfang von 5 Billionen US-Dollar - etwas 45 Prozent des BIPs der USA. Diese Zahl ergibt sich, wenn man die Differenz errechnet zwischen dem augenblicklichen Marktwert von Immobilien und dem Wert, den die Immobilien erreicht hätten, wenn der Wert dem langfristigen historischen Trend seit 1997 gefolgt wäre, dem Jahr als die Spekulationsblase sich zu entwickeln begann.
Dieses Anwachsen des Finanzvermögens - in einer Wirtschaft, die man virtuell nennen könnte - bildet einen krassen Gegensatz zu den wirtschaftlichen Vorgängen in der realen Welt. Die letzten Zahlen zeigen zum Beispiel, dass sowohl die Stunden- als auch die Wochenreallöhne im November 2005 niedriger lagen als ein Jahr zuvor. Seit die US-Wirtschaftsaufschwung im November 2001 begann, sind die Reallöhne von einfachen Arbeitern um 5 Prozent gefallen. Die Produktivität ist jedoch im selben Zeitraum um 13,5 Prozent gestiegen. 2005 stieg die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse um 2 Millionen. Das lag allerdings deutlich unter dem historischen Trend. Denn bei Aufschwüngen, die länger als 49 Monate andauern, liegt die durchschnittliche Zunahme bei 3,1 Prozent. Von März 1991 bis April 1995, eine Periode, die damals "Arbeitslosen-Aufschwung" genannt wurde, stieg die Beschäftigtenzahl um 7,8 Prozent. In der Zeit von November 2001 bis Dezember lag der Anstieg bei 2,7 Prozent. Letztes Jahr stiegen sie nur noch um 1,5 Prozent. Im vorhergehenden Aufschwung war die Zahl der Beschäftigten zur selben Zeit um 3,5 Prozent gestiegen.
Man schätzt, dass die USA etwa 8 Millionen weniger Arbeitsplätze hat, als die, die sie zum augenblicklichen Zeitpunkt bei einem Aufschwung aus einer Rezession erreicht haben müsste. Darüber hinaus liegen die Arbeitsplätze, die geschaffen wurden, am unteren Ende der Lohnskala. Billiglohn-Arbeitgeber wie Wal-Mart (der größte amerikanische Arbeitgeber), schufen 44 Prozent der neuen Jobs. Unterdessen befindet sich General Motors am Rande des Bankrotts.
Das tatsächliche durchschnittliche Haushaltseinkommen ist fünf Jahre hintereinander gesunken. Der Verschuldung der US-Haushalte ist nach Abzug der Inflation in den letzten vier Jahren um 35,7 Prozent gestiegen. Die persönliche Sparrate ist zum ersten Mal in der Nachkriegszeit negativ.
Greenspans "Rätsel"
In seinem halbjährlichen Bericht an den US-Kongress, den er am 16. Februar 2005 hielt, wies der Vorsitzende der US-Notenbank Alan Greenspan auf einige der Ungleichgewichte in der amerikanischen Wirtschaft hin. Er stellte fest, dass ein starkes Anwachsen der Ausgaben für den Konsum begleitet wurde von einem Rückgang der persönlichen Sparrate auf 1 Prozent im Jahr 2004, verglichen mit einer Rate von fast 7 Prozent im Verlauf der vorangehenden drei Jahrzehnte. Während der "rasante Anstieg der Immobilienpreise in den letzten Jahren" den Haushalten "erhebliche Kapitalgewinne" gebracht habe, " erhöhen" diese Gewinne, "die größtenteils durch ein Ansteigen der Hypothekenschuld realisiert wurden, nicht das Reservoir an nationalen Spareinlagen, die der Finanzierung von neuen Kapitalinvestitionen zur Verfügung stehen". Mit anderen Worten, stattgefunden hat ein Anwachsen des fiktiven Kapitals und keine Ausweitung von tatsächlichem Reichtum.
Im Firmenbereich, erläuterte er, hinken die Kapitalanlagen, obwohl sie in einem, was er "vernünftigen Maß" nannte, gewachsen seien, dennoch hinter dem Anstieg der Profite und dem Kapitalfluss hinterher. "Dies ist höchst ungewöhnlich: Es war eine tiefe Rezession nötig, um die letzte solche Konstellation 1975 hervorzubringen." Die Firmen seien zurückhaltend bei neuen Investitionen und "konzentrierten sich auf Kostendämpfung". Obwohl er so nicht argumentierte, war dies umso ungewöhnlicher, weil sich die amerikanische Wirtschaft zur Zeit dieses Berichts seit drei Jahren im Aufschwung befand, für den man eine Expansion von Firmeninvestitionen erwarten würde.
Die Situation enthielt noch andere Eigentümlichkeiten. Obwohl die US-Notenbank die kurzfristigen Zinssätze erhöhte, fiel der Langzeit-Zinssatz für Rentenpapiere weiterhin. Dieses "weitgehend unerwartete Verhalten der Welt-Rentenmärkte" erklärte Greenspan, "bleibt ein Rätsel".
In einer Rede im Juni 2005 stellte Greenspan fest, dass "das deutliche Sinken der langfristigen Zinssätze der US-Notenbank im letzten Jahr trotz eines Ansteigens des Kurses für Staatspapiere um 200 Basispunkte ohne Frage noch nie da gewesen ist. Die Rendite für zehn Jahre laufende Schatzwechsel liegt augenblicklich bei 4 Prozent, 80 Basispunkte niedriger als vor einem Jahr." Andere langfristige Zinsen sind sogar noch deutlicher gesunken.
Das Sinken von langfristigen Zinsen auf risikoarme Schuldtitel war einer der Faktoren, der Investoren dazu veranlasste, ihre Gelder in Schuldtitel mit hohem Risiko zu investieren, wodurch die Zinssätze sanken. "Die Jagd nach Rendite", erklärt er, " zeigt sich besonders deutlich im massiven Geldzufluss zu privaten Eigenkapitalfirmen und Hedge-Fonds. Diese waren in der Lage, beträchtliche Geldmittel von Investoren anzuziehen, die offensichtlich überdurchschnittliche, dem Risiko angepasste Gewinnraten suchen, die natürlich nur von einer Minderheit der Investoren erreicht werden können. Um diese Nachfrage zu befriedigen, entwickeln Hedge-Fonds-Manager immer aufwändigere Handelsstrategien, um vermeintliche Arbitrage-Möglichkeiten auszunutzen, von denen man - in vielen Fällen fälschlicherweise - annimmt, dass sie hohe Renditen bringen."
Mit anderen Worten, die Ursache für dieses beispiellose Phänomen liegt darin, dass das Finanzkapital, das den Globus ständig auf der Suche nach Profit umkreist, jetzt riskantere Investitionen tätigen muss, um dieselbe Rendite wie in der Vergangenheit zu bekommen.
In einer Rede vom 10. März letzten Jahres beschäftigte sich der designierte Chef der US-Notenbank, Ben Bernanke, mit dem "Rätsel" von Greenspan. Nachdem er ausführlich das rasante Anwachsen des US-Zahlungsbilanzdefizits - von 1,5 Prozent des BIPs 1996 auf mehr als 6 Prozent heute - beschrieben hatte, betonte er, dass dies kein amerikanisches Problem sei. "Ich behaupte, dass im Verlauf des letzten Jahrzehnts eine Kombination verschiedenster Kräfte zu einer erheblichen Vermehrung des weltweiten Angebots an Spareinlagen geführt hat - eine globale Spareinlagen-Schwemme - was sowohl die Erklärung bietet für das Anwachsen des US-Zahlungsbilanzdefizits als auch die relativ niedrigen Zinssätze überall auf der Welt heute." Er stellt fest, dass diese Schwemme zwar für den Zufluss an Geldmitteln in die Vereinigten Staaten sorgt, um ihr Zahlungsbilanzdefizit auszugleichen, aber während sie gleichzeitig die Zinssätze niedrig halten, nicht zur Finanzierung von Investitionen genutzt werden. Stattdessen würden sie benutzt, den Konsum und den Hausbau auszuweiten.
Benmarks Bemerkungen weisen auf eine andere charakteristische Besonderheit der Situation hin: Die Mittel, die in die Vereinigten Staaten fließen, werden nicht für produktive Investitionen genutzt, die für eine Vermehrung des Angebots an Gütern für den Weltmarkt sorgen und dadurch mithelfen würden, das Handelsdefizit auszugleichen. Stattdessen finanzieren sie Formen von Ausgaben, die noch höhere Importe erfordern, dadurch das Zahlungsbilanzdefizit erhöhen und die Notwendigkeit von noch höherem Zufluss an Mitteln erzeugen.
Der Wirtschaftskorrespondent der Financial Times Martin Wolf, veröffentlichte am 13. Juni 2005 einen Artikel mit dem Titel: "Das Sparparadoxon". "Merkwürdige Dinge spielen sich in der Weltwirtschaft ab: fallende Zinssätze für langfristige Wertpapiere, schwindende Unterschiede zwischen den Renditen für sichere und riskantere Anlagen, große Finanzdefizite und riesige globale Zahlungs-,Ungleichgewichte’ sollten unter normalen Umständen nicht zusammentreffen. Was ist hier also los? Die Antwort ist, kurz zusammengefasst, ein globaler Überschuss an Soll-Spareinalgen auf dem Hintergrund schwacher Investitionen, niedriger Inflation und immer enger miteinander verflochtener Wirtschaften."
"Um die Gegenwart zu verstehen", fährt er fort, "müssen wir zurückgehen in die 1930er. Das,Sparparadoxon" war die am wenigsten eingängige und, für den klassisch ausgebildeten Wirtschaftswissenschaftler moralisch, theoretisch und praktisch anstößigste Idee in John Maynard Keynes The General Theory of Employment, Interest and Money, veröffentlicht 1936, als Antwort auf die Große Depression. Es ist möglich, argumentierte er, dass der Privatsektor mehr sparen als investieren will. Das ist das Paradoxon. Was für Individuen gut ist, kann für die Wirtschaft schlecht sein. Heute, zu Beginn des neuen Jahrtausends, ist Keynes Warnung wieder angebracht." Laut Wolf leben wir wieder in einer "keynesianischen Welt".
Oberflächlich betrachtet ist dies eine ganz außergewöhnliche Schlussfolgerung vom wichtigsten Wirtschaftskommentator einer weltweit führenden Finanzzeitschrift. Trotz allen Pochens auf die Wunder des globalen Markts und den Vorhersagen auf die besten Wachstumszahlen seit zwei Jahrzehnten, zieht er den Schluss, dass die Weltwirtschaft einige derselben Probleme zeigt wie in dem verheerenden Jahrzehnt der dreißiger Jahre. Die "keynesianische Welt", wie er sie nennt, war nicht nur eine Welt der Wirtschaftskrise, sondern auch von wachsendem Handelsprotektionismus und sich vertiefenden Konflikten zwischen den großen kapitalistischen Mächten, was letztendlich zum Krieg führte.
Eine weitere Analyse des "Zinssatz-Rätsels" hat der Präsident der Notenbank Australiens, Ian Macfarlane, vorgelegt. Laut Macfarlane "ist die viel versprechendste Erklärung eine, die mit den Überschuss-Ländern beginnt und sich darauf konzentriert, warum in diesen Ländern die nationalen Spareinalgen so viel höher liegen als die nationalen Investitionen." Wenn die asiatischen Länder hohe Überschüsse aufweisen, dann müssen andere Länder Defizite haben.
"Wenn kein anderes Land bereit wäre, Defizite zu machen, dann würde die Weltwirtschaft in eine Abwärtsspirale geraten, wobei die ex ante (zuvor existierenden) Spareinlagen größer wären als die ex ante Investitionen. Ohne Frage werden die Länder, die bereit sind, Defizite zu machen, diejenigen sein, in denen die Konsumenten, Firmen und Regierungen die größte Bereitschaft zum Verbrauch haben und deren Finanzsysteme am effizientesten dabei sind, den Zufluss an Weltersparnissen weiterzuvermitteln." (Ian Macfarlane, "What are Global Imbalances" Reserve Bank Bulletin Oktober 2005)
Gemäß dieser Analyse sind die US-Defizite und -Schulden notwendig, um das Wirtschaftswachstum der Welt aufrechtzuerhalten und eine "Abwärtsspirale" in eine Weltwirtschaftskrise zu vermeiden, angesichts eines Mangels an Investitionsmöglichkeiten im Vergleich zur Höhe der Spareinlagen. In den 1930er Jahren, als Keynes mit dieser Situation konfrontiert war, riet er dazu, die Staatsausgaben zu erhöhen, um das Defizit bei der effektiven Nachfrage auszugleichen, der durch den Mangel an Investitionen hervorgerufen wurde. Jetzt haben wir einen Keynesianismus, angeführt von den Konsumenten, finanziert durch niedrige Zinssätze und wachsende Schulden.
Eine globale Finanzkrise
Wenn man es aus diesem Blickwinkel betrachtet, wird klar, dass die USA nicht der Ursprung des Problems sind. Das Anwachsen des US-Zahlungsbilanzdefizits, der Anstieg der Schulden, die Immobilien-Spekulationsblase und all die anderen sich anhäufenden finanziellen Widersprüche in der US-Wirtschaft sind der Ausdruck von tiefgehenden Problemen des Akkumulationsprozesses der kapitalistischen Weltwirtschaft als ganzer.
Als die Asien-Krise 1997-98 ausbrach, erklärte das Internationale Komitee, dass es sich in Wirklichkeit nicht um eine "asiatische" Krise handelte - nicht der Mangel an geeigneten Märkten, der Vetternwirtschafts-Kapitalismus oder die diversen anderen Erklärungen, die zu dieser Zeit geboten wurden - sondern das Ergebnis von Widersprüchen innerhalb der Weltwirtschaft. Diese Widersprüche kamen zuerst im asiatischen Raum zum Ausdruck, aber tauchten dann wieder auf beim russischen Schuldenrückzahlungsverzug und in der Krise des globalen Finanzsystems nach dem Aus für den US-Hedge-Fond "Long Term Capital Management" im September 1998.
Bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Krise ausbrach, war der ostasiatische Raum, die am schnellsten wachsende Region der Weltwirtschaft - verantwortlich für zirka 50 Prozent des weltweiten Wachstums in der ersten Hälfte der 1990er Jahre. Daher rührten die Behauptungen der Weltbank von einem "Wirtschaftswunder". Mit dem Ausbruch der Krise setzte ein massiver Schrumpfungsprozess ein. Die Investitionen gingen sehr stark zurück und blieben niedrig. Nach 1997-98 fielen die die Investitionen in Asien, ausgenommen Japan und China, zwischen 7 und 8 Prozentpunkten des BIPs. Das bedeutet, von einem Niveau von fast 35 Prozent des BIPs sind sie auf etwa 25 Prozent gesunken.
Natürlich hören die Erklärungen von Macfarlane, wie alle Keynesianischen Erklärungen, da auf, wo sie eigentlich anfangen sollten. Die entscheidende Frage ist: Was ist die Ursache für den Mangel an Investitionen, der zu der "globalen Spareinlagen-Schwemme" geführt hat. Dieses Phänomen ist der Ausdruck - ebenso wie in den 1930er Jahren - eines Abwärtsdrucks auf die Profitrate. Die Tendenz der Profitrate zu fallen, bedeutet nicht, dass sich dann eine Krise entwickelt, wenn die Profite auf Null fallen - diese Tatsache wird von denjenigen vergessen, die behaupten, Marx’ Analyse biete keine Erklärung, weil eine fallende Profitrate immer noch heißt, dass es Investitionsmöglichkeiten gibt, wenn auch zu einer niedrigeren Ertragsrate.
Lange bevor die Profitrate insgesamt auf Null gesunken ist, kann sich eine Krise entwickeln, wenn die Profite aus zusätzlichen Investitionen vernachlässigbar werden. Das bedeutet, die durchschnittliche Profitrate könnte recht hoch bleiben, wenn jedoch die Profitrate aus zusätzlichen Investitionen sehr niedrig ist - das ist die Art und Weise, wie sich der tendenzielle Fall der Profitrate manifestiert - dann wird sich eine Krise entwickeln. In einer solchen Situation werden die Investitionen gedrosselt. Die Investoren werden keine neuen Unternehmungen wagen. Stattdessen werden sie ihr Geld behalten, um auf bessere Zeiten zu warten, und versuchen, andere Möglichkeiten auf den Finanzmärkten oder in der Spekulation zu finden.
Solche Entscheidungen haben weit reichende Folgen, weil die Investition die zentrale Rolle in der Dynamik der kapitalistischen Wirtschaft spielt. Wie die frühen Kritiker des kapitalistischen Systems aufzeigten - und ihre Analyse wurde von den Anhängern der Theorie vom zu geringen Konsum seitdem wiederholt -, bedeutet die bloße Existenz des kapitalistischen Profits, dass die Löhne der Arbeiter nicht ausreichen, um die Waren, die im Prozess der kapitalistischen Produktion entstehen, zu realisieren - d. h. sie wieder in Geld zu verwandeln.
Aber wenn das stimmt, wie funktioniert dann die kapitalistische Wirtschaft? Der Konsum der Arbeiter ist nicht die einzige Quelle echter Nachfrage. Die Nachfrage nach Anlagegütern und darunter die Nachfrage nach Anlagegütern, mit denen die zukünftige Nachfrage befriedigt werden soll (d. h. Investition) spielt die Schlüsselrolle, nicht nur um die Produktion auf demselben Niveau zu halten, sondern um sie zu steigern. Investition eilt der augenblicklichen Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung voraus und schafft die Märkte der Zukunft. Wenn dieser Prozess unterbrochen wird, dann durchläuft die kapitalistische Wirtschaft eine "Abwärtsspirale".
Das Ausbrechen einer solchen Krise kann verhindert werden, wenn eine andere Quelle echter Nachfrage gefunden wird, um die unzureichende Investition zu ersetzen. Solche Maßnahmen werden jedoch nicht allein aus sich heraus die Krise lösen, die ihren Ursprung nicht in dem Mangel an echter Nachfrage als solcher hat, sondern in einem Zuwenig an Mehrwert im Verhältnis zur Masse des Kapitals - ein Defizit, das sich in dem Druck auf die Profitrate manifestiert. Weil sie das grundlegende Problem nicht lösen können, werden ankurbelnde Maßnahmen unweigerlich zur Entwicklung neuer Widersprüche und Probleme führen.
In der gegenwärtigen Situation haben die Finanzmaßnahmen der US-Behörden - die Aufrechterhaltung der Liquidität und ein System von niedrigen Zinssätzen - zwar die USA und die gesamte Weltwirtschaft vor einer Rezession geschützt, sie haben aber auch mächtige Quellen der Instabilität geschaffen. Die enorme Ausdehnung der Liquidität und die Entstehung eines globalen Finanzsystems, das keinerlei Regulierungsmöglichkeiten irgendeiner Autorität mehr unterliegt, verbunden mit der immer verzweifelteren Suche nach Rendite - d. h. nach Profit - haben die Bedingungen für eine Finanzkrise geschaffen, auf die verschiedene Fachleute von Zentralbanken und Finanzbehörden kürzlich hingewiesen haben.
In einer Rede, die er im letzten September gehalten hat, verweist der Generaldirektor der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, Malcolm Knight, auf das "beispiellose Tempo", in dem das globale Finanzsystem in den letzten 30 Jahren expandiert ist. Mit dem Ende der festen Wechselkurse 1973, entwickelten sich Devisenkassa- und Devisentermin-Märkte, gefolgt von einer Ausdehnung der Märkte für Staatsanleihen und dann neue Märkte, auf denen Investoren Risiken absichern oder vermeiden konnten. Die Folge war ein "globales Finanzsystem, das widerstandsfähiger zu sein scheint gegenüber Finanzschocks, die von einzelnen Ländern ausgehen".
"Das heutige globale Finanzsystem", folgert er, "ist weitaus effizienter und robuster gegenüber kleinen oder mittleren Schocks als vor 20 Jahren oder selbst vor einem Jahrzehnt. Und, das Finanzsystem im Lot zu halten erfordert nicht mehr die direkten, nicht vom Markt bestimmten Interventionen der Zentralbanken und Regulierer, die man in jenen weit zurückliegenden Tagen offensichtlich brauchte. Aber das heutige komplexe, vom Markt beherrschte Finanzsystem schafft auch mehr Anreize als in der Vergangenheit für die Marktteilnehmer, "Rendite zu erzielen", mehr Kapazitäten, das Fremdkapital auszuweiten, einen größeren Spielraum für das Reagieren auf die uralten destabilisierenden Gefühle von Euphorie und gedrückter Stimmung. Kurz gesagt, unser Finanzsystem könnte anfällig sein gegenüber neuen Kombinationen von schädlichen Risiken, die sich auf die reale Wirtschaft auswirken könnten." (Rede von Malcolm Knight vor dem Internationalen Währungsfonds, Washington, 6. September 2005)
Der leitende Wirtschaftswissenschaftler des IWF, Raghuram Rajan, gab eine ähnliche Einschätzung in einer Abhandlung, die im letzten August veröffentlicht wurde. "Während das System die Risiko tragenden Möglichkeiten der Wirtschaft besser ausnutzt, indem es die Risiken breiter verteilt, nimmt es gleichzeitig mehr Risiken auf sich. Darüber hinaus sind jetzt die Verflechtungen zwischen den Märkten und zwischen den Märkten und den Institutionen ausgeprägter. Während das dem System hilft, sich auf kleine Schocks einzustellen, setzt es das System gleichzeitig großen systemischen Schocks aus - umfangreiche Veränderungen von Anlagepreisen oder Veränderungen der angesammelten Liquidität. ... Kurzum, während ich glaube, es wäre eine angemessene Verallgemeinerung zu sagen, dass das Finanzsystem die meiste Zeit stabiler ist, gibt es auch die Chance für exzessive Instabilität in wirklich schlimmen Zeiten (genauso wie eine höhere Wahrscheinlichkeit für solche nachfolgenden Vorfälle). Bedauerlicherweise wissen wir nicht, ob dies ernste Sorgen sein sollten, bis das System auf die Probe gestellt worden ist. Das Beste wäre, wenn das System mit Schocks von wachsender Größe konfrontiert würde, es jedes Mal herausfindet, was der Fehler ist und stabiler wird... Die Gefahr liegt darin, dass die Wirtschaft von einem vollendeten Sturm getroffen wird, bevor sie stresserprobt ist."
Und was könnten die Bedingungen für ein solches Ereignis sein?
"Eins der möglichen Szenarien besteht darin, dass die Wirtschaft durch eine Periode von extrem niedriger Risikoabneigung geht (d. h. eine lang gezogene Periode mit niedrigen Zinssätzen), in der die Anlagekurse falsch ausgerichtet werden und damit die Möglichkeit für eine Neuaufstellung schaffen, mit negativen Folgen, die sich in die Wirtschaft fortpflanzen."
Kurz gesagt, eine Periode wie die gegenwärtige.
Zum Abschluss dieses Überblicks möchte ich einige neulich gemachte Bemerkungen des stellvertretenden Präsidenten der Bank von England, Sir Andrew Large, zitieren, der zuständig für finanzielle Stabilität ist. Large wies auf "einige", wie er sie nannte "weniger angenehme Aspekte" des gegenwärtigen Finanzsystems hin, darunter die Schwierigkeit, den wirklichen Wert von Anlagegütern und Verträgen zu bestimmen; das Vertrauen in Finanzmodelle, die nicht unter unterschiedlichen wirtschaftlichen Bedingungen ausgetestet wurden; Ungewissheit über das Verhalten neuer Marktteilnehmer; und "die Schwierigkeit einzuschätzen, wie stabil die Märkte sind, falls eine Reihe von gewichtigen Investoren gleichzeitig entscheiden, ihre Anlagen zu Geld zu machen... Die Frage ist: werden die Anfälligkeiten größer, und werden sie eines Tages greifbar werden, wenn ein großer Schock hereinbricht, den der Markt einfach nicht mehr auffangen kann? Tatsache ist, wir wissen es nicht."
Der Zuwachs an exotischen Finanzinstrumenten, von denen es viele selbst vor ein paar Jahren noch nicht gegeben hat, ist ziemlich ungewöhnlich. Hedge Fonds verfügen über mindestens 1 Billion US-Dollar, eine Summe, die sich seit 1998 verdreifacht hat. Und man schätzt, dass der Derivaten-Markt auf eine halbe Billiarde anwachsen wird, das sind 500 Billionen US-Dollar, mehr als das Zehnfache des BIPs der Welt - das bei ca. 45 Billionen US-Dollar liegt.
Eine weitere wichtige Tatsache der jüngsten Zeit ist der Anstieg des Gold-Preises, der jetzt einen 25-Jahres-Höchststand erreicht hat und jetzt bei ca. 560 US-Dollar pro Unze liegt. Der Wechsel ins Gold spiegelt einen Mangel an Vertrauen in alle großen Währungen wider. Als die Regierung Nixon 1971 die Golddeckung des Dollars abschaffte und damit das Bretton-Woods-System beerdigte, wurde der Dollar zur internationalen Austauschwährung. Aber in den 35 Jahren seitdem war er nicht in der Lage, eine stabile Grundlage für das internationale Währungssystem zu schaffen.
In der Zeit der Stagflation Ende der 1970er Jahre, fiel der Dollar auf einen Rekordtiefstand, was schließlich zum Volcker-Schock von 1979 führte, als die US-Zinssätze auf Rekordhöhe angehoben wurden. Das verursachte die tiefste Rezession seit den 1930ern und eine tiefe Finanzkrise in den so genannten unterentwickelten Ländern. Der steigende Wert des US-Dollars führte zu einem immer größeren Handelsdefizit, da die US-Exporte wegen ihrer Preise auf dem Weltmarkt nicht konkurrieren konnten. Das führte 1985 zum Plaza-Abkommen, in dem die Zentralbanken übereinkamen, den Wert des Dollars zu senken. Aber diese Entscheidung hatte weit reichende Konsequenzen; die nicht gerade geringste davon war ein Ansteigen des Yen und ein Immobilien- und Aktienmarkt-Boom in Japan, der schließlich 1989 zusammenbrach und den Weg frei machte für mehr als ein Jahrzehnt Deflation.
Der Dollar war so rasch gefallen, dass 1987 ein Abkommen getroffen wurde, seinen Wert zu stabilisieren - das Ergebnis war das Louvre-Abkommen. Allerdings führten Meinungsverschiedenheiten zwischen den USA und Deutschland über die Zinssätze zu Turbulenzen auf den Finanzmärkten und 1987 zum Börsenkrach.
Der gerade neu ernannte Vorstandschef der Notenbank, Alan Greenspan, reagierte auf den Börsenkrach auf eine Weise, die im Verlauf der nächsten 18 Jahre zur Gewohnheit wurde. Er öffnete die Geldhähne und garantierte den Banken Kredite, falls sie in Schwierigkeiten geraten sollten,. Der Zusammenbruch des Aktienmarktes wurde so- mit massivem Eingreifen der Finanzbehörden - verhindert, aber die Währungsturbulenzen gingen weiter. Die frühen 1990er erlebten eine Krise des britischen Pfunds und des skandinavischen Bankensystems. Dann kam die Mexiko-Krise von 1994, bei der die Clinton-Regierung einschritt, um US-Banken und -Kreditinstituten mit einer Bürgschaft aus der Patsche zu helfen.
Gegen Ende des Jahres 1996 war offenkundig, dass sich am Aktienmarkt der Vereinigten Staaten eine Spekulationsblase entwickelte - eine Tatsache, die von Greenspan während eines Treffens des Leitungsgremiums der Notenbank eingeräumt wurde. Aber außer einer Erklärung gegen "unvernünftigen Überschwang" wurde nichts unternommen. Der Widerstand der Wall Street gegen die eine Zinssatz-Erhöhung, die Greenspan 1997 durchgesetzt hatte, war so heftig, dass der Notenbankchef beschloss, nichts gegen den Anstieg der Aktienpreise zu unternehmen. Der Ausbruch der Asienkrise war das Signal für eine Erleichterung der Liquidität.
Als die Aktienspekulationsblase schließlich Anfang 2001 platzte, war Greenspans Reaktion, die Zinssätze zu senken. Als Folge sollte sich eine Spekulationsblase auf dem Immobilienmarkt bilden, da die Zinssätze auf einen Rekordtiefpunkt sanken. In jüngster Zeit hat die Notenbank die Sätze wieder angehoben, hauptsächlich aus der Sorge heraus, keine Reaktionsmöglichkeiten mehr zu haben, wenn die nächste Krise hereinbricht.
Die Widersprüche des Kapitalismus
Wenn sich eine Finanzkrise entwickelt, werden zweifellos viele Greenspan dafür verantwortlich machen... wenn die Notenbank nur etwas unternommen hätte, um die Finanz-Spekulationsblase im Keim zu ersticken etc., etc., etc., genauso wie versucht wurde, die Politik der Notenbank für den Zusammenbruch der Wall Street 1929 und die darauf folgende große Depression verantwortlich zu machen.
Es wäre zwar falsch die Bedeutung von Individuen und ihrer Entscheidungen zu leugnen, dennoch kann die Ausdehnung des Geld- und Kreditsystems und die potentielle Instabilität, die das mit sich bringt, nicht den Entscheidungen Greenspans angelastet werden. Seine Politik war eine Reaktion auf die Entwicklung der objektiven Widersprüche in der kapitalistischen Wirtschaft selbst.
Wie schätzen wir diese Prozesse ein?
In den frühen 1970ern brach das Nachkriegsgleichgewicht des Weltkapitalismus zusammen. Die nächsten drei Jahrzehnte brachten eine gewaltige Umwälzung in der Weltwirtschaft. Wir stehen jetzt vor der Frage: Bewegen wir uns auf ein neues Gleichgewicht zu oder haben die tiefgehenden Veränderungen in der Weltwirtschaft in den vergangenen drei Jahrzehnten die Bedingungen für wirtschaftliche und politische Unruhen und die Möglichkeit zum Sturz des Kapitalismus durch die sozialistische Revolution geschaffen. Mit anderen Worten: Was sind im Weltmaßstab die Aussichten für den Sozialismus?
Um diese Frage anzugehen, würde ich gerne einen Artikel der "linken" Autoren Leo Panitch und Sam Gindin mit dem Titel "Finanzen und das amerikanische Imperium" untersuchen, der in der Ausgabe 2005 des Socialist Register erschienen ist.
Der Leitgedanke des Artikels ist, dass die Finanzialisierungsprozesse der letzten 30 Jahre den amerikanischen Kapitalismus nicht geschwächt, sondern gestärkt haben. Den beiden Autoren zufolge spielten der Volcker-Schock der frühen 1980er Jahre und das nachfolgende neoliberale Programm eine Schlüsselrolle dabei, den amerikanischen Kapitalismus zu stärken.
"Letztendlich", schreiben sie, "sind die Risiken in der internationalen Akkumulation abhängig vom Vertrauen in den Dollar und seiner Basis in der Stärke der amerikanischen Wirtschaft sowie der Fähigkeit des amerikanischen Staats mit der unvermeidbaren Unbeständigkeit der Finanzmärkte fertig zu werden. Der Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit hat das Vertrauen in die amerikanische Macht widergespiegelt; bei der Wiedererrichtung der Weltmacht, die in den frühen 1980ern begann, ging es darum, nach den Verunsicherungen der 1960er und 1970er Jahre dieses Vertrauen wiederherzustellen."
Sie betonen, dass die Ausweitung des Finanzwesens das Herzstück sowohl der Internationalisierung der Produktion als auch der anhaltenden Stärke der amerikanischen Wirtschaft ist; das liberalisierte Finanzwesen ist ein Entwicklungsmechanismus, mit dem der amerikanische Staat seine Ziele verwirklicht, sowie Finanzkrisen bewältigt, sobald sie auftauchen. Zur gleichen Zeit hat die Globalisierung des Finanzwesens zu seiner Amerikanisierung geführt, was entscheidend wurde für die Wiederherstellung und die Universalisierung der amerikanischen Macht.
Panitch und Gindin lehnen ab, was sie das "alte Paradigma von der inter-imperialistischen Rivalität" nennen, und zwar weil die augenblickliche Einbindung in das amerikanische Weltreich bedeutet, dass eine Krise des Dollars eine Krise des gesamten Systems wäre.
"An der Vorstellung festzuhalten, dass die Krise der 1970er Jahre heute immer noch existiert, widerspricht den Veränderungen, die seit den frühen 1980ern stattgefunden haben. Was für eine Krise des Kapitalismus ist das, wenn das System sich verbreitert und vertieft, und sogar eine weitere technologische Revolution unterstützt, während die Opposition gegen das System nach drei Jahrzehnten unfähig ist, irgendeine wirksame Herausforderung auf die Beine zu stellen? Wenn die Krise zur,Norm’ wird, trivialisiert das das Konzept und lenkt uns davon ab, ein Verständnis der neuen Widersprüche der gegenwärtigen Lage zu bekommen."
Eine Reihe von Dingen muss hier geklärt werden. Natürlich ist es notwendig, zwischen einer kurzfristigen Krise der kapitalistischen Wirtschaft - dem Zusammenbruch des Aktienmarktes 1987, dem Zusammenbruch des "Long Term Capital Management" - und der langfristigen historischen Lebensfähigkeit der kapitalistischen Produktionsweise in der gegenwärtigen Epoche zu unterscheiden. Der Kapitalismus befindet sich kurzfristig nicht ständig in einer Krise, und genauso wenig sollte die "Krise des Kapitalismus" angeführt werden, um wirtschaftliche Entwicklungen zu erklären.
Nachdem das geklärt ist, ist es notwendig, eine Einschätzung der historischen Lage der kapitalistischen Weltwirtschaft zu geben. Worin bestand die "Krise der 1970er" Jahre, von der die beiden Autoren behaupten, sie müsse nun beiseite gelegt werden? Sie hatte ihre Wurzeln im Prozess der Kapitalakkumulation - der treibenden Kraft der kapitalistischen Wirtschaft. Das tendenzielle Fallen der Profitrate, das sich seit Ende der 1960er Jahre entwickelte, konnte nicht innerhalb des existierenden Produktionssystems überwunden werden. Die kapitalistische Wirtschaft musste radikal umstrukturiert werden. Genau das führte zum Prozess der Globalisierung - d.h. zu dem Versuch des Kapitals, den Druck auf die Profitraten durch die Ausnutzung der billigsten Arbeitskräfte zu überwinden. Wurde die Profitrate wiederhergestellt? Die Anzeichen sagen nein.
Einer Analyse zufolge lag die amerikanische Profitrate zu Beginn des Nachkriegs-Booms bei 22 Prozent, bevor sie in der Zeit von 1967 bis 1977 zurück ging und bei 10 Prozent landete. Seitdem ist die Profitrate, trotz der unermüdlichsten Anstrengungen sowohl der Unternehmer als auch des Staates, die Reallöhne zu drücken und neue Technologien einzuführen, nach einem kurzen Spurt in den 1990ern nur auf 14 Prozent gestiegen. (Siehe Fred Mosley, "Marxist Crisis Theory and the Postwar US Economy" in Anticapitalism, hrsg. Von Alfredo Saad-Filho, S. 212)
Obwohl genaue Zahlen fehlen, weist das Auftreten mehrerer gigantischer Spekulationsblasen, in denen Reichtum nicht durch die Gewinnung von Mehrwert erzielt wird, sondern durch Spekulation und Finanztricks, darauf hin, dass es den Abwärtsdruck auf die Profitraten gibt. Geld muss mit riskanten Finanzgeschäften gemacht werden, weil es anders nicht verdient werden kann.
Panitch und Gindin behaupten, es sei notwendig, "die neuen Widersprüche der gegenwärtigen Lage" zu verstehen. Worin bestehen diese? Gegensätze zwischen den Imperialisten, erklären sie uns, gehören der Vergangenheit an, und die fallende Profitrate, die in den 1970ern eine Krise hervorrief, gibt es nicht mehr. Demzufolge müssen wir die wachsende Stärke des US-Imperialismus anerkennen und unsere alten Vorstellungen und Perspektiven, die auf einem Verständnis der objektiven Widersprüche des Weltkapitalismus basieren, zur Seite legen. Bedeutet dies, der Sozialismus ist unmöglich geworden? Nein, aber er hat eine neue Grundlage.
"Eine Zukunft jenseits des Kapitalismus ist möglich und zunehmend notwendig vom Standpunkt der sozialen Gerechtigkeit und der ökologischen Vernunft aus, aber der Kapitalismus befindet sich immer noch im Prozess des Entstehens." Also können wir immer noch von den Widersprüchen des Kapitalismus sprechen, aber wir sollten nicht zuviel Aufhebens darum machen, es sei denn, sie nehmen die Form von Klassenwidersprüchen an. Wir müssen "uns von der Vorstellung befreien, dass die,Krise’ etwas ist, das den Kapitalismus dazu bringt, sich selbst zu zerstören".
"Die Möglichkeiten für radikale Veränderungen [man beachte: nicht für die sozialistische Revolution] in der gegenwärtigen Epoche des Kapitalismus, werden sich hauptsächlich um Probleme der politischen Legitimität drehen, als um einen plötzlichen Wirtschaftszusammenbruch."
Hier werden, im ersten Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts alle Probleme aufgeworfen, die in der Auseinandersetzung mit den Revisionisten zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts aufbrachen. Wie Rosa Luxemburg in ihrer Antwort an Eduard Bernstein erklärt, ist entweder die sozialistische Umgestaltung des Kapitalismus die Folge aus den internationalen Widersprüchen des Kapitalismus und seines letztendlichen Zusammenbruchs oder das kapitalistische System ist in der Lage, seine inneren Widersprüche zu unterdrücken. "Dann aber hört der Sozialismus auf, eine historische Notwendigkeit zu sein, und er ist dann alles, was man will, nur nicht ein Ergebnis der materiellen Entwicklung der Gesellschaft."
Bernstein hatte behauptet, dass die neuen Kredit- und Finanz-Instrumente einen Ausbruch der Art von Krise verhindert hätten, die den Kapitalismus in der Vergangenheit erschütterten, und die kapitalistische Wirtschaft gestärkt hätten. Luxemburg antwortete, dass der Kreditmechanismus zwar Widersprüche in der Entwicklung des Kapitalismus überwinde, aber nur um sie auf einer höheren Ebene wieder neu zu schaffen.
Mit Worten, die nichts von ihrer Bedeutung verloren haben, erklärte sie: "So ist der Kredit, weit entfernt, ein Mittel zur Beseitigung oder auch nur zur Linderung der Krisen zu sein, ganz im Gegenteil ein besonders mächtiger Faktor der Krisenbildung. Und das ist auch gar nicht anders möglich. Die spezifische Funktion des Kredits ist - ganz allgemein ausgedrückt - doch nichts anderes, als den Rest von Standfestigkeit aus allen kapitalistischen Verhältnissen zu verbannen und überall die größtmögliche Elastizität hineinzubringen, alle kapitalistischen Kräfte in höchstem Maße dehnbar, relativ und empfindlich zu machen. Dass damit die Krisen, die nichts anderes als der periodische Zusammenstoß der einander widerstrebenden Kräfte der kapitalistischen Wirtschaft sind, nur erleichtert und verschärft werden können, liegt auf der Hand."
Sicherlich sind die vorher zitierten Bankiers keine Anhänger Rosa Luxemburgs, aber dennoch haben sie sich genau über diesen Prozess besorgt geäußert.
Die Verrätereien an der Arbeiterklasse und die Rolle des US-Imperialismus
Zum Abschluss möchte ich die Behauptung überprüfen, dass der Prozess der Finanzialisierung die Position des amerikanischen Kapitalismus und seine Vorherrschaft über das globale kapitalistische System gestärkt und den Kapitalismus insgesamt zu neuem Leben erweckt habe.
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir die historische Beziehung Amerikas zum kapitalistischen Weltsystem untersuchen. Am Vorabend der russischen Revolution sprach Lenin vom Imperialismus als dem letzten Stadium des Kapitalismus, als dem Vorabend der sozialistischen Umgestaltung. Trotzkis Perspektive der permanenten Revolution basierte auf dem Verständnis, dass Russland - isoliert gesehen - nicht reif war für den Sozialismus, die entwickelten kapitalistischen Wirtschaften es aber sicher waren. Deshalb konnte und musste die russische Revolution die Einleitung der sozialistischen Weltrevolution sein.
Die revolutionäre Perspektive der Bolschewisten hat sich dann doch nicht verwirklicht und im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts gab es eine weitere Entwicklung der Produktivkräfte unter dem Kapitalismus. Wie uns unsere Autoren in Erinnerung bringen, findet heute eine technologische Revolution statt. Sollten wir vielleicht schlussfolgern, dass die russische Revolution verfrüht war, dass sie dazu verurteilt war, isoliert zu werden, und dass deshalb die Degeneration der Revolution, der Aufstieg des Stalinismus und alles, was noch folgte, unvermeidlich war?
Das wäre eine völlig mechanische Herangehensweise. Man muss sich nur die fürchterlichen Kosten für die Menschheit ansehen, die mit der Fortdauer des kapitalistischen Systems im zwanzigsten Jahrhundert verbunden waren, um diese Frage zu beantworten.
Die Tatsache, dass die Produktivkräfte auch weiterhin gewachsen sind, macht die revolutionäre Perspektive nicht ungültig, Aber darauf stützt sich das Argument, der Kapitalismus sei nicht völlig aufgebraucht. Es hilft uns allerdings zu verstehen, warum eine solche Perspektive nicht verwirklicht wurde. Das Fortbestehen des Kapitalismus und die Weiterentwicklung der Produktivkräfte wurden durch die enorme Stärke des amerikanischen Kapitalismus möglich gemacht.
Das Internationale Komitee hat wiederholt die Bedeutung betont, die der Verrat der Kämpfe der Arbeiterklasse durch die stalinistischen und reformistischen Führungen für die Aufrechterhaltung des Kapitalismus im zwanzigsten Jahrhundert hatte. Es ist auch notwendig die Wechselwirkung zwischen diesen Verrätereien und der Rolle der Vereinigten Staaten zu untersuchen.
Der Ausbruch des Weltkriegs 1914 kennzeichnete das Ende der organischen friedlichen Entwicklung des Kapitalismus und den Beginn der Epoche der sozialen Revolution. Die Arbeiterklasse war jedoch, mit Ausnahme Russlands, nicht in der Lage die Bourgeoisie zu stürzen. Das stand keineswegs von vornherein fest. Ein wichtiger Faktor für der Entscheidung der Vereinigten Staaten, in den Krieg einzugreifen, war die Erkenntnis, dass die Gefahr der sozialen Revolution um so größer werde, je länger er dauerte. Wilsons berühmte 14 Punkte wurden aufgesetzt als Antwort auf die bolschewistische Herausforderung und die Bedrohung, die die russische Revolution für die Stabilität der gesamten kapitalistischen Ordnung darstellte. Ohne die amerikanische Intervention hätte Deutschland nicht um Frieden gebeten, und die europäischen Mächte hätten den Krieg fortgesetzt. Unter diesen Umständen wäre der Krieg möglicherweise durch die soziale Revolution, und nicht durch eine amerikanische Intervention beendet worden.
Die Bourgeoisie war in der Lage, die Situation zu stabilisieren, aber sie konnte keins der Probleme lösen, die zum Krieg geführt hatten. Eine Reihe potentiell revolutionärer Situationen entwickelte sich in Deutschland in den frühen 1920ern. Diese Ära wurde zum Abschluss gebracht, als die deutsche kommunistische Partei sich als unvorbereitet erwies, was zu der verpassten Chance vom Oktober 1923 führte. Aber selbst das wäre nur ein Ereignis in einer anhaltenden sich vertiefenden Krise gewesen, hätten die USA nicht mit einem Plan zur erneuten Stabilisierung Deutschlands und Europas eingegriffen - dem Dawes-Plan.
Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass ohne die Verrätereien der Sozialdemokratie im Krieg und direkt danach der amerikanische Imperialismus nicht in der Lage gewesen wäre einzugreifen.
In der politischen Situation, die durch diese Verrätereien geschaffen wurde, war die Stärke des US-Kapitalismus in der Lage, die Situation, zumindest vorübergehend, zu stabilisieren. Aber er konnte die wirtschaftlichen Probleme des Weltkapitalismus nicht lösen - sie brachen nur sechs Jahre später in der großen Depression wieder auf. Dennoch hatte die vorübergehende wirtschaftliche Stabilisierung immense politische Konsequenzen. Sie verfestigte die Isolation der Sowjetunion, begünstigte den Aufstieg der stalinistischen Bürokratie und fügte den neu entstandenen Sektionen der Kommunistischen Internationale enormen Schaden zu.
Es gibt keinen Zweifel, dass die stalinistischen Parteien die entscheidende Rolle bei der Stabilisierung des Weltkapitalismus nach dem II. Weltkrieg gespielt haben. Aber ohne die Fähigkeit der USA, die Grundlagen für ein Wachstum der internationalen kapitalistischen Wirtschaft zu legen, hätte die Situation ganz anders ausgesehen. Unter Bedingungen einer sich vertiefenden Nachkriegs-Wirtschaftskrise, hätte sich den Sektionen der Vierten Internationale die Gelegenheit geboten, in dem Moment um die Führung zu kämpfen, in dem die Arbeiterklasse in Konflikt mit ihren stalinistischen und reformistischen Führungen gekommen wäre.
Stattdessen führte die Stabilisierung des Weltkapitalismus unter der Schutzherrschaft des amerikanischen Kapitalismus zu einer anhaltenden Vorherrschaft dieser bürokratischen Apparate über die Arbeiterklasse und einer Isolation der Vierten Internationale, ein Prozess, der sich in der Entwicklung diverser revisionistischer Trends und Strömungen widerspiegelte.
Nach dem II. Weltkrieg waren die USA - im Unterschied zu der Zeit nach dem I. Weltkrieg - in der Lage, ein neues kapitalistisches Gleichgewicht zu schaffen, indem sie sich auf den Verrat der stalinistischen und sozialdemokratischen Führungen stützten. Sie waren der Träger und Organisator eines neuen Produktionssystems, das imstande war, den historischen Rückgang der Profitrate zu überwinden, der am Vorabend des I. Weltkriegs aufgetreten war.
Aber wie sieht die Situation heute aus? Die USA mögen die vorherrschende Weltmacht sein, aber sie verfügen über kein neues Produktionssystem, das in der Lage wäre, ein weltweites wirtschaftliches Gleichgewicht und eine neue Expansionsphase der kapitalistischen Entwicklung zu schaffen. Im Gegenteil, sie versuchen den Auswirkungen ihres wirtschaftlichen Niedergangs durch militärische Maßnahmen entgegenzuwirken. Und das bedeutet, ungeachtet unserer beiden Autoren, dass sich die Konflikte zwischen den Imperialisten vertiefen und verstärken werden.
Auf der wirtschaftlichen Ebene ist die Vorherrschaft des amerikanischen Finanzwesens kein Ausdruck von Stärke, sondern Ausdruck einer historischen Krise. Das Finanzkapital erleichtert die Anhäufung von großem Reichtum, aber es beschäftigt sich nicht mit der - vom Standpunkt des Akkumulationsprozesses der kapitalistischen Wirtschaft gesehen - entscheidenden Gewinnung von Mehrwert aus der Arbeiterklasse. Vielmehr beschäftigt es sich mit der Aneignung von Mehrwert, der woanders gewonnen wurde. Das Finanzkapital ist zwar äußerst notwendig für eine erweiterte Entwicklung des Kapitalismus, es ist aber gleichzeitig parasitär.
Wenn schon nicht Amerika, kann dann vielleicht die Industrialisierung Chinas der globalen kapitalistischen Ordnung eine zweite Chance verschaffen? Immerhin könnte man argumentieren, dass die massive Senkung der Lohnkosten, die sich durch eine Verlagerung der Produktion nach China und der Dienstleistungen nach Indien ergibt, die Profitrate in die Höhe treiben wird.
Lasst uns prüfen, was eine solche Entwicklung bedeutet. Zunächst einmal würde es ein starkes Wachstum der chinesischen Wirtschaft erfordern. Aber kaum hat dieser Prozess begonnen, da hat er schon zu Konflikten mit den Vereinigten Staaten geführt. China wurde als "strategischer Rivale" eingestuft.
Darüber hinaus zerstört die Industrialisierung Chinas die Klassenbeziehungen in allen großen kapitalistischen Ländern, wo die Arbeiterklasse mit den Folgen der wirtschaftlichen Globalisierung konfrontiert ist. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel sind die massiven Lohnkürzungen, die jetzt bei Delphi eingeleitet wurden, ein Ausdruck des ungeheuren Drucks, der auf die Löhne und die sozialen Bedingungen ausgeübt wird. Dieser Druck spiegelt sich in dem Drang wider, die firmeneigene Altersversorgung abzuschaffen, wo sie noch existiert, um die in Amerika ansässigen Firmen international wettbewerbsfähig zu machen. In Europa hat der britische Premierminister Tony Blair auf die Notwendigkeit eines Reformprozesses hingewiesen - vor allem die Demontage des Sozialstaats - um gegenüber China konkurrenzfähig zu bleiben. Und in Australien erklärte Premierminister John Howard, dass einer der Gründe für die jüngsten einschneidenden Veränderungen des Arbeitsrechts die Konkurrenz aus China und Indien sei.
Und dann die Situation in China selbst. Mehrere zehn Millionen Menschen drängen in die Reihen der internationalen Arbeiterklasse. Im augenblicklichen Stadium, solange das Wirtschaftswachstum noch anhält, kann es durchaus Illusionen in die Regierung geben. Das kann sich jedoch rasch ändern, da der Prozess der Industrialisierung unweigerlich alle möglichen wirtschaftlichen und politischen Schocks zur Folge haben wird. Man muss sich nur die Turbulenzen anschauen, welche die Industrialisierung Russlands zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts begleitet haben - und die Prozesse, die sich in China abspielen, entwickeln sich in einem viel größeren Maßstab.
Die internationalen Beziehungen sind gekennzeichnet durch erhöhte Spannungen. Und China nimmt nicht nur den Einfluss auf die unmittelbare Region, sondern entwicklet auch Beziehungen zu anderen Regionen der Welt, wie z. B. Lateinamerika, dem Nahen Osten und Europa, wo sich Konflikte über Rohstoffe, Märkte und politischen Einfluss entwickeln werden und schon entwickelt haben. Chinas Beziehungen zu jeder Großmacht werden die Konflikte zwischen ihnen vertiefen. Zum Beispiel hat selbst die Howard-Regierung, trotz ihrer bedingungslosen Unterstützung für den Irakkrieg und für Bushs "Krieg gegen den Terror", Washington gewarnt, nicht zu erwarten, dass Australien sich bei einem Konflikt mit China wegen Taiwan hinter die USA stellen werde.
Wie die gesamte Geschichte zeigt, zerstört der Aufstieg einer neuen Industriemacht das vorhandene Machtgleichgewicht und schürt die Konflikte und Rivalitäten zwischen den Imperialisten. An einem bestimmten Punkt kann das zum Ausbruch eines Krieges führen und das Versinken in Barbarei. Wie soll die Arbeiterklasse darauf reagieren? Sie muss die Aufgabe übernehmen, die globale Wirtschaft auf sozialistischer Grundlage neu zu organisieren. Hier kommen wir zu der entscheidenden Frage der politischen Perspektive, die sich durch eine ständige Analyse aller Aspekte der Weltsituation und ihrer strategischen Konsequenzen entwickelt. Genau das liegt im Zentrum der Aufgaben, mit denen die World Socialist Web Site in der kommenden Periode konfrontiert ist.
Unsere Analyse hat gezeigt, dass 35 Jahre nach dem Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods und dem Gleichgewicht, das nach dem II. Weltkrieg aufgebaut worden war, der Weltkapitalismus nicht nur unfähig war, ein neues Gleichgewicht zu schaffen, sondern dass seine Widersprüche die Bedingungen für ein tiefgehendes Ungleichgewicht schaffen. Die letzte Periode der Globalisierung von 1870 bis 1914 hat zu Kriegen und Revolutionen geführt. Das Ergebnis der gegenwärtigen Globalisierungsphase wird nicht weniger explosiv sein. Und genau auf diese Situation müssen wir uns vorbereiten.