Vergangene Woche ist ein Dossier des bislang von Wolfgang Clement (SPD) geführten Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit bekannt geworden, das in übelster Weise gegen Arbeitslose hetzt und dabei auch vor einem Nazivokabular nicht zurückschreckt. Das Pamphlet nennt sich "Vorrang für die Anständigen - Gegen Missbrauch,,Abzocke’ und Selbstbedienung im Sozialstaat" und ist auf der Website des Ministeriums abrufbar.
Auf 33 Seiten finden sich Überschriften wie "Melkkuh Sozialstaat - die alltägliche Selbstbedienung am Gemeinwohl", "Beihilfe zum Betrug statt Beratung: die Helfershelfer", "Mehr Kontrollen gegen Sozialbetrug - Wie "Abzocke" immer weniger Chancen hat". Auch fünf Seiten zu "Bilanzaufbesserung durch Betrug: Wie Unternehmen und Selbstständige sich an Sozialkassen bereichern" fehlen nicht.
Die Masche ist dabei in jedem Kapitel dieselbe: Seitenlang werden Einzelfälle über tatsächlichen oder angeblichen Missbrauch von Arbeitslosengeld II (ALG II) ausgebreitet. Der Ton schwankt dabei zwischen Zynismus und demonstrativer Empörung.
Die geschilderten Fälle, in der Broschüre als "Sozialbetrug" oder "Abzocke" deklariert, sind bei Licht besehen eher harmlos. Man muss dabei mehrere Dinge berücksichtigen: Wer in einem sozialversicherungspflichtigen Job gearbeitet hat - egal wie lange - bekommt nur ein Jahr Arbeitslosengeld I, das sich am vorherigen Einkommen orientiert. Danach gilt: ALG II wird nur an "Bedürftige" ausgezahlt, d.h. man muss bis auf einen geringen Freibetrag erst seine kompletten Ersparnisse aufgebraucht haben. Der Höhe nach soll das ALG II das "Existenzminimum" sichern, es entspricht damit der früheren Sozialhilfe, ist allerdings deutlich geringer. Der Höchstsatz liegt bei 345 Euro im Monat - in Ostdeutschland etwas niedriger.
Davon müssen Strom, Telefon, Warmwasser, Kleidung, Ernährung und Zuzahlung im Krankheitsfall selbst bezahlt werden. Selbstverständlich auch Fortbewegung wie Auto, Bus oder Bahn, Renovierung der Wohnung und private Altersvorsorge. Vom Staat übernommen werden lediglich gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung sowie Wohnung und Heizung in "angemessener" Höhe. Wer in einer so genannten "Bedarfsgemeinschaft" lebt, muss sich gegenseitig unterstützen und bekommt das Einkommen des Anderen teilweise angerechnet und abgezogen, auch bei unverheirateten Paaren und anderen Erwachsenen, die einander nicht gesetzlich beistandspflichtig sind. Wer arbeitet, bekommt über einen Freibetrag von 100 Euro hinaus seine Einkünfte zu 80 bis 90 Prozent angerechnet.
Die in der Broschüre ausführlich dargestellten "Betrugsfälle" sind daher meistens angeblich falsche oder unterlassene Angaben über Wohnverhältnisse, das Zusammenleben mit anderen Menschen oder Nebeneinkünfte. Als Quelle der Geschichten werden "Schilderungen und aktenkundige Vermerken von [meist anonymen] Mitarbeitern aus Arbeitsagenturen und aus Arbeitsgemeinschaften im gesamten Bundesgebiet" genannt. Meist wird betont, dass Strafanzeige gegen die Betroffenen [deren Namen alle "geändert" sind] gestellt wurde. Bemerkenswerterweise taucht aber kein einziger Fall auf, in dem auch ein Urteil gefällt worden ist. Seriöse, aussagekräftige Statistiken sucht man ebenso vergebens wie nachprüfbares Faktenmaterial.
Umso demagogischer ist die Wortwahl. Höhepunkt ist die Aussage: "Biologen verwenden für,Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen - ihren Wirten - leben’, übereinstimmend die Bezeichnung,Parasiten’. Natürlich ist es völlig unstatthaft, Begriffe aus dem Tierreich auf Menschen zu übertragen. Schließlich ist Sozialbetrug nicht durch die Natur bestimmt, sondern vom Willen des Einzelnen gesteuert."
Bezeichnenderweise folgt diese Bemerkung auf eine Geschichte über "Ibrahim, einen Sänger aus dem Libanon" mit einem "schwarzen BMW Cabrio vor seiner Wohnung". Nazivokabular folgt auf rassistische Klischees. Mittlerweile ist gegen die Verfasser Anzeige wegen Volksverhetzung erstattet worden.
Der stellvertretende Verwaltungsratsvorsitzende und Arbeitgebervertreter bei der Bundesagentur für Arbeit (BA), Peter Clever, behauptete eine Missbrauchsquote "von sicherlich über zehn Prozent". Er halte dies für den "unteren Rand seriöser Schätzung".
Der noch amtierende Minister Clement behauptete sogar, jeder fünfte Hartz-IV-Empfänger beziehe zu Unrecht Geld vom Staat, und verteidigte den Parasitenvergleich ausdrücklich. Er könne nicht zulassen, dass Menschen auf Kosten anderer leben, sagte er und fügte hinzu: "Das nennen ich parasitäres Verhalten."
Minister Clement berief sich auf "ernstzunehmende Erhebungen". Gemeint ist damit eine Telefonaktion, die private Callcenter bei solchen Arbeitslosen durchgeführt haben, die sich über einige Monate nicht bei den Arbeitsagenturen gemeldet hatten. Datenschutzbeauftragte haben diese Aktion kritisiert. Unter Missbrauchsverdacht stellen Clement und Clever all diejenigen, die dabei mehrmals telefonisch nicht erreicht wurden oder die von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben, die freiwillige Befragung zu verweigern. Von Seriosität keine Spur. Die BA selbst gibt außerdem zu, dass die "Erhebung" nicht repräsentativ sei.
Ziel der Kampagne ist nicht Aufklärung, sondern Futter für die Boulevardpresse. Ein Klima soll geschürt werden, in dem Arbeitslose und sozial Schwache stigmatisiert und kriminalisiert werden, um weitere Sozialkürzungen vorzubereiten. Von den Ursachen der Arbeitslosigkeit soll abgelenkt, die unsoziale Politik der vergangenen und künftigen Regierung gerechtfertigt werden.
Der aggressive Ton der Parasiten-Broschüre rührt zu einem guten Teil daher, dass diese Politik in breiten Teilen der Bevölkerung nicht akzeptiert wird und sich die Verfasser daher in der Defensive sehen. Sie beklagen "eine umfassende Anspruchshaltung an den Sozialstaat". Diese wolle "nicht akzeptieren, dass der Sozialstaat grundsätzlich erst einspringt, wenn der Einzelne sich nicht selbst helfen kann. Die langfristige Finanzierbarkeit des Sozialstaats spielt in den Gedanken solcher Mitbürger offensichtlich keine Rolle. Aber diese Haltung kann sich nur fortpflanzen, wenn sie schulterklopfende Verbündete und offizielle oder mindestens heimliche Bestätigung findet - am Wohnzimmertisch und im Vereinsheim, im Buchladen und in der Politik. Das geschieht leider immer noch viel zu häufig."
Wer Arbeitslose unabhängig berät, ihnen ihre rechtlichen Möglichkeiten aufzeigt oder gar dabei hilft, Widerspruch und Opposition zu formulieren, gibt laut den Verfassern der Broschüre "Tipps für den Sozialmissbrauch", ist ein "Anstifter" oder leistet zumindest "Beihilfe zu Sozialbetrug und Abzocke", betreibt "Angstmache" und "politische Aufwiegelei".
Der Linkspartei/PDS wird wegen ihrer im Wesentlichen verbalen Opposition gegen Hartz IV "Kumpanei mit jenen" vorgeworfen, "die den Sozialstaat mit einer Melkkuh verwechseln, die man jederzeit nach Belieben anzapfen kann".
Am Ende des Kapitels "Die Helfershelfer" steht die unverblümte Warnung an die Arbeitslosen, wenn überhaupt, dann nur als demütige Bittsteller die Arbeitsagenturen zu betreten. Denn diese "kennen alle Ausnahmeregelungen - zumal da viele Zusatzleistungen so genannte,Kann-Leistungen’ sind, über die allein der Fallmanager zu entscheiden hat. Wer sich aus dem Internet, über Telefon-Hotlines oder mit Hilfe von clever klingenden Beratern ausgiebig wappnet, wie er dem Sozialstaat möglichst viel aus der Tasche ziehen kann, schadet sich oft selbst."
Hier wird deutlich, wer wirklich mit "Parasiten" und "Abzockern" gemeint ist: Alle, die glauben, Rechte und Ansprüche hätten auch Arme, der im Grundgesetz festgeschriebene Schutz der Menschenwürde und Selbstbestimmung der Person gelte auch für Arbeiter und Arbeitslose.
Nicht als "Abzocker und Parasit" gelten dagegen im Wirtschafts- und Arbeitsministerium diejenigen, denen Rot-Grün in ihrer Regierungszeit auf Kosten der Sozial- und Haushaltskassen zu Reichtum verholfen hat: Die Zahl Vermögensmillionäre ist seither von 510.000 auf 775.000 gestiegen, 47 Prozent des gesellschaftlichen Reichtums sind im Besitz des reichsten Zehntels der Bevölkerung. 2003 erzielten die Unternehmen rund 300 Milliarden Euro Gewinn, mussten aber nur 16 Milliarden Euro Steuern zahlen.
Die Steuern für Unternehmen und Reiche werden auch unter der nächsten Regierung weiter gesenkt werden, während gleichzeitig der Kampf gegen die Arbeitslosen weitergeht. Kein Politiker der großen Koalition hat sich von Clements Parasiten-Vergleichen distanziert, im Gegenteil: Gefragt nach seiner Antwort auf die nicht eingeplanten Milliardenkosten bei Hartz IV gab der designierte Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) die Parole aus: "Missbrauch entschieden bekämpfen".
Auch der SPD-Vorsitzende und künftige Arbeits- und Sozialminister Franz Müntefering sagte dem Spiegel, "dass Leute rumtricksen, kann man nicht akzeptieren". Man könne "nicht einfach zuschauen, dass über das Notwendige hinaus, unter Dehnung des Gesetzes, Geld einkassiert wird". Wohlgemerkt "Dehnung" - also Auslegung - und nicht "Bruch". Auch für Müntefering ist man offenbar als Arbeiter und Arbeitsloser ein Parasit, wenn man Gesetz und Recht zu seinen Gunsten auslegt und Ansprüche daraus ableitet.
Die künftige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) machte denn auch klar, dass ihrer Meinung das Problem darin liegt, dass sich gegenwärtig überhaupt noch Ansprüche aus Gesetz und Recht ableiten lassen: "Es wird nicht reichen, nur den Missbrauch in den Mittelpunkt zu stellen", sagte sie. "Wir müssen uns vielmehr mit den prinzipiellen Konstruktionsschwächen beschäftigen, die den Missbrauch ermöglichen."
Noch bevor die große Koalition überhaupt im Amt ist, machen ihre führenden Vertreter bereits klar, dass eine Beteiligung der SPD kein kleineres Übel oder eine soziale Alternative zu Schwarz-Gelb ist.