Am 11. Juli haben die Vorstände der Unionsparteien CDU und CSU ihr Wahlprogramm verabschiedet und der Öffentlichkeit vorgestellt. Das vollmundig als Regierungsprogramm vorgestellte Manifest trägt den Titel "Deutschlands Chancen nutzen. Wachstum. Arbeit. Sicherheit."
Es handelt sich um das rechteste und reaktionärste Programm, mit dem die beiden Schwesterparteien jemals bei Bundestagswahlen angetreten sind. Vergleicht man es mit der Regierungspraxis der letzten CDU-geführten Bundesregierung, der Regierung Kohl in ihren letzten Amtsjahren, so wird dies besonders deutlich.
Figuren wie Norbert Blüm, unter Kohl 16 Jahre lang Arbeitsminister und damals wegen seinen Angriffen auf Renten und Sozialleitungen verhasst, spielt heute nur noch eine marginale Rolle und steht am äußersten linken Flügel der CDU. Ähnlich ist es Horst Seehofer, Kohls letztem Gesundheitsminister, innerhalb der CSU ergangen. Blüms Lebenswerk, die Pflegeversicherung, soll laut Wahlprogramm auf ein Kapitaldeckungsverfahren umgestellt und damit faktisch wieder abgeschafft werden.
Das Unionsprogramm übernimmt alle Angriffe auf soziale und demokratische Rechte, die von der rot-grünen Koalition in ihren sieben Amtsjahren eingeleitet wurden, führt sie fort und verschärft sie. Hartz IV soll beibehalten und "optimiert" werden. Die Steuern und Abgaben für Unternehmen und Reiche sollen weiter gesenkt, die breite Bevölkerung durch eine zweiprozentige Erhöhung der Mehrwertsteuer zur Kasse gebeten werden.
Das zentrale Motto der Sozialpolitik lautet: "Sozial ist, was Arbeit schafft", wobei unter "Arbeit schaffen" ausschließlich der Abbau von Löhnen, tariflichen Regelungen und Sozialabgaben verstanden wird. Der SPD-Politiker Ludwig Stiegler mag zwar übertrieben haben, als er meinte, das Motto erinnere an die Parole "Arbeit macht frei", die über den Eingängen nationalsozialistischen Konzentrationslager prangte. Aber eine Grenze, ab der Arbeit unsozial wird, ist im Unionsprogramm nicht zu erkennen Die Festlegung eines Mindestlohns etwa sieht das Pogramm nicht vor. Selbst die Einführung der Sklaverei wäre nach dieser Definition "sozial".
Die Innen-, und Sicherheits- und Ausländerpolitik trägt die Handschrift des bayrischen Innenministers und CSU-Rechtsaußen Günther Beckstein. Unter dem Motto "Null Toleranz für Kriminalität und Vandalismus" schlägt das Programm drastische Einschränkungen demokratischer Rechte vor. In der Außenpolitik schließlich will die Union wieder deutlich enger an die USA heranrücken. "Wir beleben die transatlantische Zusammenarbeit mit den USA neu", heißt es im Programm.
Kritik der herrschenden Elite
Trotz dieser eindeutig rechten Orientierung ist das Wahlprogramm der Union nicht der große Wurf, den sich die herrschende Elite des Landes gewünscht hat. Was die CDU-Vorsitzende Angela Merkel als "Politik aus einem Guss" bezeichnet, besteht zu einem großen Teil aus Kompromissen, Andeutungen und Auslassungen.
Das politische Establishment und die Arbeitgeberverbände hatten sich von einer Regierungsübernahme durch die Union einen radikalen Umbau des Sozialsystems hin zu einer Privatisierung der Lebensrisiken sowie eine drastische Flexibilisierung und Deregulierung des Arbeitsmarktes versprochen, um im internatonalen Wettbewerb bestehen zu können. Doch das erfordert eine Konfrontation mit weiten Teilen der Bevölkerung, vor der Teile der Union noch zurückschrecken.
In den Medien wurde das Programm daher mit Zurückhaltung aufgenommen oder von rechts angegriffen. Vielen Kommentatoren erschien es zu zaghaft und zu sehr im Vagen verhaftet. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt zeigte sich enttäuscht, dass die Steuergeschenke der Union für seine Klientel nicht hoch genug ausfallen, und verlangte, dass der Bevölkerung noch mehr Schmerzhaftes zugemutet werden müsse.
Der Spiegel kommentierte das Programm mit der Bemerkung, "aus dem Instrumentarium der Oppositionsführerin sind die scharfen Werkzeuge verschwunden. Auch Frau Dr. Merkel arbeitet nun mit den Methoden der Homöopathie".
Das Sprachrohr der Schweizer Banken, die Neue Zürcher Zeitung, verurteilt das Programm gar als "sozialistisch". Die Union habe die Chance vergeben, sich zu profilieren, schrieb sie: "Was im Programm skizziert wird, erinnert über weite Strecken an die mehr oder weniger sozialistischen Ansätze aus der Ära Kohl."
Die Süddeutschen Zeitung meint, das Unionsprogramm sei "eine christdemokratische Fortschreibung von Schröders Agenda 2010, ein wenig konsequenter und konsistenter vielleicht, aber gewiss nicht substanziell verschieden".
Vor eineinhalb Jahren hatte die CDU noch wesentlich radikalere Standpunkte vertreten. So sprach sie sich Ende 2003 auf ihrem Leipziger Parteitag nahezu einstimmig für die Einführung einer Kopfpauschale in der Krankenversicherung aus - eine radikale Abkehr von dem seit über hundert Jahren geltenden Solidarprinzip. Anstatt einen bestimmten Prozentsatz des jeweiligen Einkommens sollte jeder Versicherte, egal ob arm oder reich, dieselbe Summe bezahlen. Die kostenlose Mitversicherung von Familienmitgliedern sollte wegfallen. Für niedrige Einkommen war zwar ein sozialer Ausgleich aus Steuermitteln vorgesehen, was aber rein symbolische Bedeutung hatte, da der Parteitag gleichzeitig einem radikalen Steuersenkungskonzept des CDU-Finanzexperten Friederich Merz zustimmte und die Haushaltskassen ohnehin leer sind.
Dem Parteitag vorangegangen war eine Rede Angela Merkels im Oktober 2003 bei der Konrad-Adenauer-Stiftung, in der sie "Heulen und Zähneklappern" angekündigt und erklärt hatte, dass sie sich nicht vor der "Diskussion um Zumutungen, Einschnitte und Kürzungen" drücken werde.
Doch nach dem CDU-Parteitag meldete sich Widerspruch, insbesondere aus der CSU, die um ihre breite Mehrheit in Bayern fürchtete. In Verhandlungen zwischen den beiden Schwesterparteien wurde dann ein Kompromiss erzielt, der die Kopfpauschale mit zahlreichen Sonderregelungen befrachtet, die das ursprüngliche Konzept verwässern. Im jetzt verabschiedeten Wahlprogramm ist die Kopfpauschale (sie nennt sich inzwischen "solidarische Gesundheitsprämie") zwar weiterhin enthalten, aber ein Zeitpunkt für ihre Einführung ist nicht festgelegt.
Auch Merz’ Steuerkonzept wurde innerhalb der Union zurechtgestutzt. Der Fraktionsvize zog sich schließlich im Oktober letzten Jahres aus allen Parteiämtern zurück, weil er - zumindest vorläufig - keine Chance sah, seine radikalen Konzeptionen durchzusetzen.
Widersprüche in der Union
Der Grund für die inneren Querelen der Union liegen in der Geschichte und sozialen Zusammensetzung dieser Partei. Sie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als Flickenteppich aus diversen, in der Weimarer Republik gescheiterten Parteien geformt. Daher finden sich in ihren Reihen die unterschiedlichsten politischen Konzeptionen wieder - vom klassischen Konservativismus über den Neoliberalismus bis hin zur katholischen Soziallehre.
Auch ihre soziale Basis ist äußerst heterogen. Während ihre wichtigste Grundlage der gewerbliche Mittelstand und das vorwiegend ländliche Kleinbürgertum bilden, ist sie gleichzeitig Partei des Großkapitals und verfügt über einen eigenen Arbeitnehmerflügel.
Als stark ländlich verankerte Partei ist sie zudem besonders stark vom Föderalismus geprägt, der in Deutschland eine lange Tradition hat und auch die Struktur der Bundesrepublik bildet. Die Landesfürsten, die Ministerpräsidenten der Länder, verfügen über eine starke, eigene Machtbasis und lassen sich nur schwer von der Zentrale kontrollieren. Angela Merkel wurde zwar mit großer Mehrheit zur Parteivorsitzenden und zur Kanzlerkandidaten gewählt, aber anders als einst Helmut Kohl verfügt sie über keine eigenen Seilschaften und Machtinstrumente, um der Partei ihren Willen aufzuzwingen.
Kohl hatte Jahrzehnte gebraucht, um seine innerparteilichen Rivalen auszuschalten und ein enges Netzwerk von Abhängigkeiten und Beziehungen zu schaffen, das ihm schließlich die unangefochtene Kontrolle über die ganze Partei ermöglichte. Merkel hat nicht einmal ihren eigenen Landesverband, Mecklenburg-Vorpommern, im Griff, geschweige denn die Bundespartei. Ihren Aufstieg verdankt sie letztlich der Tatsache, dass sie sich im Machtkampf zwischen den rivalisierenden Landesfürsten als kleinster gemeinsamer Nenner herauskristallisierte, auf den sich alle einigen konnten.
Die Widersprüche innerhalb der Union sind derart heftig, dass es sich Merkel nicht leisten konnte, das Wahlprogramm in den Parteigremien zu diskutieren. Im Wesentlichen haben sie selbst und der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber die meisten Entscheidungen in stiller Absprache unter sich getroffen. Niedergeschrieben wurde das 38-seitige Papier dann von den Merkel-Vertrauten Norbert Röttgen und CDU-Generalsekretär Volker Kauder auf der einen und Stoibers Staatskanzleichef in München, Erwin Huber, und dem Generalsekretär der CSU, Markus Söder, auf der anderen Seite.
Merkel versuchte unterdessen verzweifelt, die CDU-Landesfürsten und auch Edmund Stoiber daran zu hindern, mit ständig neuen Vorschlägen für das Wahlprogramm an die Öffentlichkeit zu treten. Ihr Misstrauen ging so weit, dass sie im Parteipräsidium eine Woche vor der Vorstellung des Programms keine schriftliche Beschlussfassung vorlegte, sondern nur mündlich den Inhalt referierte. Sie sorgte sich, einzelne Präsidiumsmitglieder könnten wieder mit neuen Änderungsvorschlägen an die Öffentlichkeit treten. Die Zustimmung der Parteivorstände erreichte sie schließlich mit der Drohung, öffentlich ausgetragene Differenzen würden die Wahlchancen der Union schmälern.
Anhaltende politische Krise
In den herrschenden Kreisen gibt es inzwischen Zweifel, ob die Entscheidung für vorzeitige Neuwahlen wirklich klug war. Durch das Vorziehen der Wahl sollten die Voraussetzungen für einen radikalen Umbau der Sozialsysteme geschaffen werden, nachdem der Widerstand gegen Schröders Agenda 2010 die rot-grüne Koalition in wachsendem Maße gelähmt hatte. Man hoffte auf eine große parlamentarische Mehrheit für Union und FDP oder - was weniger wahrscheinlich schien - auf eine neues Mandat für SPD und Grüne.
Doch nun erscheint es immer wahrscheinlicher, dass die Wahl mit einem Patt endet. In den jüngsten Umfragen liegen Union und FDP nur noch einen Prozentpunkt vor SPD, Grünen und Linkspartei - wobei Kanzler Schröder und andere führende SPD-Mitglieder eine Koalition mit der Linkspartei kategorisch ausgeschlossen haben.
Eine Regierung Merkel-Westerwelle mit einer äußerst knappen parlamentarischen Mehrheit wäre aber kaum schlagfertiger als die jetzige Koalition. Die Inneren Widersprüche der Union würden unweigerlich wieder aufbrechen. So warnt Der Spiegel : "Koch, Wulff [Ministerpräsidenten in Hessen bzw. Niedersachsen] und ihre Freunde werden nicht offen auf ein Scheitern Merkels hinarbeiten. Sie werden ihr aber auch nicht beispringen, wenn sie in Schwierigkeiten kommt. Von den mächtigen Ministerpräsidenten im Westen ist keiner loyal zu Merkel."
Und das Hausorgan der Grünen macht sich Sorgen über das mögliche Scheitern einer unionsgeführten Regierung, die zu schnell und unvorbereitet die Regierungsgeschäfte übernimmt. "Nach der abgrundtiefen Enttäuschung des Wahlvolks von Schröders Politik", schreibt die taz, "hätte es unabsehbare Folgen für das politische System als Ganzes, wenn eine Kanzlerin Merkel innerhalb kürzester Zeit die gleiche verdrossene Stimmung produzierte wie ihr Vorgänger... Sollte aber Merkel scheitern, bevor sich die SPD erholt hast, dann ist keine Rettung mehr in Sicht. Dann verfällt das Land im günstigsten Fall in eine tiefe Depression, im ungünstigsten Fall in eine Panik, die weitaus gefährlicheren Populisten als Oskar Lafontaine den Weg ebnen könnte."
Auch über eine Große Koalition von Union und SPD wird wieder eifrig spekuliert. Hatten einige Wirtschaftsvertreter, wie der Unternehmensberater Roland Berger, vor kurzem noch eine solche Koalition gefordert, um das Parlament vorübergehend außer Kraft zu setzen und ein Bündel unpopulärer Maßnahmen durchzusetzen, gibt es inzwischen Warnungen, dass eine Große Koalition, die durch eine unentschiedene Wahl erzwungen wird, hauptsächlich damit beschäftigt wäre, ihre "inneren Widersprüche zu vermitteln und zu moderieren" (Die Zeit).
Für die herrschende Elite wird immer klarer, dass es nicht genügt, die Regierung auszuwechseln, um die politischen und wirtschaftlichen Aufgaben zu lösen, vor die sie sich angesichts der internationalen Lage gestellt sieht. Um den tiefverwurzelten Widerstand gegen soziale Ungleichheit und Sozialabbau bereiter Bevölkerungsschichten zu brechen, braucht sie neue Herrschaftsmethoden, die mit der von sozialem und politischem Konsens geprägten Nachkriegstradition brechen.
Bundespräsident Horst Köhler hat in seiner Begründung für die Auflösung des Bundestags eine Art nationalen Notstand beschworen. "Unsere Zukunft und die unserer Kinder stehen auf dem Spiel", erklärte er. Das muss als Warnung verstanden werden. Die Beschwörung einer Notlage, um undemokratische Maßnahmen zu begründen, hat in Deutschland Tradition.
Auch die massive Staatsaufrüstung bis hin zum inneren Einsatz der Bundeswehr, die im Wahlprogramm der Union und teilweise auch im Programm der SPD gefordert wird, muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Der massive Angriff gegen demokratische Grundrechte, der im Namen des "Kampfs gegen den Terror" geführt wird, richtet sich letztlich gegen die arbeitende Bevölkerung im eigenen Land.
Die Auseinandersetzung über das Wahlprogramm der Union zeigt auch, dass die herrschende Klasse auch in Zukunft nicht ohne die Unterstützung der SPD auskommen kann. Ohne das siebenjährige Wirken der rot-grünen Koalition hätte die Union es gar nicht wagen können, mit einem derart rechten Programm in den Wahlkampf zu ziehen. Hätte Kohl bei der Bundestagswahl 1998 etwas Vergleichbares versucht, er wäre noch gnadenloser abgestraft worden, als es ohnehin der Fall war.
Mit der Agenda 2010, Hartz IV, den Antiterrorgesetzen und weltweiten Einsätzen der Bundeswehr hat die Regierung Schröder/Fischer die Voraussetzungen für eine Rückkehr der Union an die Macht geschaffen und gleichzeitig ihrer Politik den Boden bereitet. Es kann keinen Zweifel geben, dass sie diesen Kurs auch in Zukunft - ob an der Regierung oder auf den Oppositionsbänken - unterstützen wird. Pressemeldungen zufolge sollen sich Teile der SPD-Führung bereits für eine Große Koalition begeistern. Unter dem Duck der globalen Wirtschaft und zunehmender internationaler Konflikte bewegt sich das gesamte politische Establishment immer weiter nach rechts.
Die Linkspartei von Gregor Gysi und Oskar Lafontaine übernimmt dabei die Rolle, ihm die nötige Zeit zu verschaffen. Diese Partei lenkt die Unzufriedenheit über die soziale Lage auf sich, indem sie lautstark gegen Hartz IV und die Agenda 2010 wettert. Sie weigert sich aber strikt, die bestehende kapitalistische Ordnung in Frage zu stellen. Sie lullt ihre Wähler mit der Illusion ein, man könne zur sozialen Reformpolitik der siebziger Jahre zurückkehren, indem man die großen Parteien durch eine starke parlamentarische Opposition unter Druck setzt.
Doch die herrschende Elite lässt sich durch das Gerede von Gysi und Lafontaine nicht von ihrer Linie abbringen. Sie bestimmt den Kurs der Regierung, und nicht die Parolen und Versprechen in den Wahlprogrammen. Das haben sieben Jahre rot-grüne Koalition anschaulich gezeigt. Nur eine breite Massenbewegung, die die gesamte europäische Arbeiterklasse umfasst und sich gegen das kapitalistische System wendet, kann dieser Rechtsentwicklung Einhalt gebieten. Das aber ist das letzte, was die Erben von SED/PDS und die Gewerkschaftsbürokraten in der Linkspartei möchten.
Die Partei für Soziale Gleichheit beteiligt sich mit eigenen Listen an der Bundestagswahl, um eine solche Bewegung auf der Grundlage eines internationalen sozialistischen Programms politisch vorzubereiten.