Italien: Massendeportation von Flüchtlingen

64 Flüchtlinge ertrinken vor der Küste Tunesiens

Während in der EU noch darüber diskutiert wird, wie geltendes internationales Recht umgangen werden kann, um die geplanten Auffanglager für Flüchtlinge in Nordafrika einzurichten, hat die italienische Regierung gleich Nägel mit Köpfen gemacht. Ungeachtet bestehender nationaler Gesetze und internationaler Abkommen wurden über das Wochenende bis zu 1000 Flüchtlinge unmittelbar nach ihrer Ankunft auf der Mittelmeerinsel Lampedusa nach Libyen abgeschoben, ohne dass ihnen überhaupt die Möglichkeit gegeben wurde, einen Asylantrag zu stellen.

Die Deportationen hielten auch an, als bekannt wurde, dass vor der Küste Tunesiens ein völlig überladenes Flüchtlingsboot mit über 70 Menschen an Bord auseinander brach und sank. Nur elf Flüchtlinge konnten gerettet werden, 17 Leichen wurden geborgen, 47 Personen blieben vermisst. An Bord waren hauptsächlich Marokkaner und einige Tunesier, die nach Italien fliehen wollten. Insgesamt sind in diesem Jahr schon mehrere Hundert Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken, insgesamt haben in den letzten zehn Jahren nach offiziellen Zahlen 5.000 Menschen ihre Flucht nach Europa auf seeuntüchtigen Booten mit dem Leben bezahlt. Die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher liegen.

Diejenigen, die mit dem Leben davongekommen sind, werden nun von den italienischen Behörden umgehend wieder abgeschoben. Von den über 2.500 Flüchtlingen, die binnen einer Woche das kleine Eiland zwischen Sizilien und der afrikanischen Küste erreicht hatten, wurden mehr als 1.000 von der Polizei direkt zum Flughafen gebracht. Die italienischen Behörden hatten mit zwei Maschinen der Fluggesellschaft Alitalia und zwei Armee-Transportflugzeugen eine Luftbrücke nach Libyen eingerichtet. Alleine für Montag waren 20 Flüge geplant.

Eine nach italienischem Recht zwingend vorgeschriebene Asylanhörung gab es nicht, es wurde nicht einmal das Herkunftsland der Flüchtlinge ermittelt. Ein kurzer medizinischer Check und eine Kleinigkeit zu essen war alles, was die Behörden den von der Überfahrt völlig entkräfteten Menschen zustanden. Die Flüchtlinge wurden nach Informationen der tageszeitung einfach geografischen Großräumen zugeordnet - alle arabisch aussehenden Menschen wurden an den Händen gefesselt in die bereitstehenden Flugzeuge gesetzt, etwa 200 Eritreer und Äthiopier durften hingegen noch bleiben. Weder dem UNHCR noch Anwälten oder Menschenrechtsgruppen wurde der Zugang zu den Flüchtlingen erlaubt. Wie viele tatsächlich deportiert wurden, ist unbekannt.

Bereits im Juli hatten die italienischen Behörden die 37 von der Cap Anamur geretteten schiffbrüchigen Flüchtlinge in einem Schnellverfahren abgeschoben - obwohl das italienische Verfassungsgericht kurz zuvor entschieden hatte, dass eine Ausweisung nur durch einen Richter im Beisein eines Anwalts des Flüchtlings ausgesprochen werden dürfe. Die Abschiebung der mutmaßlichen Ghanaer und Nigerianer wurde im Nachhinein als rechtswidrig erklärt, doch da waren die Betroffenen schon längst ausgeflogen.

Mit der jetzigen Deportation geht Italiens Innenminister Giuseppe Pisanu jedoch noch einen Schritt weiter und verweigert den Flüchtlingen jeglichen Zugang zum Asylverfahren. Zum Klagen vor Gericht bleibt den Flüchtlingen weder die Zeit noch die Möglichkeit. Doch Pisanu setzt sich nicht nur über italienische Gesetze hinweg - immerhin hat das individuelle Recht auf Asyl in Italien Verfassungsrang - sondern bricht auch internationale Abkommen.

Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), die auch Italien unterzeichnet hat, beinhaltet das so genannte "non-refoulement"-Gebot. Danach dürfen Flüchtlinge nicht willkürlich in Herkunftsländer abgeschoben werden, erst recht nicht, wenn ihnen dort Verfolgung, Folter und Tod drohen. Libyen hingegen hat bis heute die GFK nicht unterzeichnet. Flüchtlinge werden in dem nordafrikanischen Staat in Lager interniert, einige berichten sogar davon, dort misshandelt worden zu sein. Asylverfahren werden ihnen verweigert. Obwohl sich Hunderttausende Flüchtlinge im Wüstenstaat aufhalten sollen, konnten in diesem Jahr noch keine 500 tatsächlich einen Asylantrag stellen.

Nach der GFK hat zudem jeder Flüchtling nicht nur das Recht auf Prüfung des Asylantrags, sondern auch das Recht, seinen Asylantrag vor Gericht verteidigen zu dürfen. Diese Regelungen sind auch in den geltenden Katalog der Minimumstandards für Asylverfahren der EU aufgenommen worden.

Der offenen Bruch mit dem Völkerrecht wurde von Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert. Karl Kopp von Pro Asyl spricht von "Massendeportationen", mit denen "die Axt an die Wurzel des internationalen Flüchtlingsschutzes" gelegt wird. Amnesty international urteilte, dass "Italien sich schwerwiegendster Verletzungen internationalen Rechts schuldig mache".

Doch Giuseppe Pisanu spielt das Unschuldslamm. Er sprach in Hinblick auf das völlig überfüllte Auffanglager auf Lampedusa, das nur 190 Personen Platz bietet, von einem "Ausnahmezustand", der ihn zum Handeln gezwungen habe. Doch das erklärt nicht, warum die Flüchtlinge sofort deportiert wurden. Sie hätten anstatt nach Libyen auch in die Auffanglager an der Adriaküste gebracht werden können, die weitgehend leer stehen, seitdem Italien mit Albanien ein Rücknahmeabkommen geschlossen hat und der Fluchtweg über die Adria durch scharfe Überwachung versperrt ist.

Die Regierung, so Pisanu weiter, habe "mit der notwendigen Entschiedenheit" und "im Einklang mit dem Gesetz" gehandelt. Zynisch legte er dann noch nach, "dass wir diejenigen schützen, die das Recht haben, sich auf das Asylrecht zu berufen".

Den auf Lampedusa angelandeten Flüchtlingen wurde dieses Recht jedoch pauschal verweigert. "Illegale Einwanderer", so Pisanu, "müssten wissen, dass sie sofort, nachdem sie humanitäre Hilfen erhalten haben, zurückgeschickt werden". Bei den bestehenden restriktiven Visa- und "sichere Herkunftsstaaten"-Regelungen der EU ist es jedoch in einem europäischen Staat praktisch gar nicht mehr möglich, anders als über einen illegalen Grenzübertritt einen Asylantrag zu stellen.

Die völlig illegale und mit dem Leben der Flüchtlinge spielende Aktion ist allerdings weniger, wie Pisanu weismachen will, eine Reaktion auf eine wohl letzte Fluchtwelle über das Mittelmeer in diesem Jahr - bald beginnen die Winterstürme, die die Passage unmöglich machen - als eine von langer Hand geplante Aktion und ein Ergebnis von geheimen Absprachen der Regierung Berlusconi mit Libyens Staatschef Moammar al-Ghaddafi. Darüber hinaus gibt die italienische Regierung einen Vorgeschmack darauf, wie die zukünftige Flüchtlingspolitik der EU in der Praxis aussehen wird, sobald die geplanten Flüchtlingslager in Nordafrika errichtet worden sind.

Bereits vor einem Jahr hatten Italien und Libyen ein bilaterales Abkommen zur Flüchtlingsabwehr unterzeichnet. Doch die darin der libyschen Regierung versprochenen Hubschrauber, Panzerfahrzeuge und Nachtsichtgeräte konnten wegen des bestehenden EU-Embargos gegenüber Libyen nicht geliefert werden. Das Abkommen lag zunächst auf Eis, die geplanten gemeinsamen Patrouillenfahrten in libyschen Hoheitsgewässern fanden nicht statt.

Doch mit der Annäherung zwischen der EU und Libyen in den letzten Wochen steht der Fall des Embargos unmittelbar bevor. Die Regierung Berlusconi hat dabei eine entscheidende Rolle gespielt und die angeblich zwei Millionen Flüchtlinge an Libyens Küsten als Faustpfand eingesetzt, um seine EU-Kollegen von der Dringlichkeit der Aufhebung des Embargos zu überzeugen. Als Dankeschön hat Libyen mit Italien wahrscheinlich ein Rücknahmeabkommen für Flüchtlinge unterzeichnet. Es ist anzunehmen, dass dabei auch die völkerrechtswidrige Deportation von Flüchtlingen vereinbart wurde.

Der Wortlaut des Abkommens wurde nicht einmal dem italienischen Kabinett vorgelegt, geschweige denn im Parlament diskutiert. Der Minister für Auslandsitaliener, Mirko Tremaglia von der rechtsextremen Lega Nord, gab sich gegenüber dem Corriere della Sera überrascht: "Die Luftbrücke von Lampedusa nach Libyen? Ich nehme an, dass sie das Ergebnis des neuen Abkommens mit Libyen ist, aber ich weiß es nicht. Keineswegs ist über das neue Abkommen diskutiert worden."

Es passt zu einem Abkommen, das demokratische Rechte von Flüchtlingen mit den Füßen tritt, dass es in autokratischer Tradition geheim und vollkommen undemokratisch geschlossen und umgesetzt wird.

In Italien liegen auch schon Zelte und weiteres Material für drei erste Flüchtlingslager bereit, die sehr bald nach Libyen verschifft werden sollen. Die Lager sollen insgesamt 1.000 Flüchtlinge aufnehmen können. Ungefähr die Anzahl, die jetzt von Lampedusa deportiert wurde.

Giuseppe Pisanu setzt damit um, worauf er sich im August mit seinem deutschen Amtskollegen Otto Schily (SPD) verständigt hatte: Flüchtlingslager in Nordafrika zu errichten. Sahen Schilys Pläne zunächst nur vor, diejenigen Flüchtlinge in die externen EU-Auffanglager zu bringen, die auf hoher See aufgegriffen werden, zeigt die Massendeportation der italienischen Regierung, welcher Zweck tatsächlich hinter dem Ansinnen steckt: Flüchtlinge werden als illegale Immigranten kriminalisiert, denen jedes Recht, überhaupt einen Asylantrag zu stellen, verweigert wird. Unmittelbar nach ihrer Ankunft werden sie zurück nach Afrika deportiert. Die Asylverfahren werden dort nicht nur unter Ausschluss jeder Öffentlichkeit stattfinden, sondern auch unter Ausschluss jeder gerichtlichen Kontrolle. Wie Schily am 2. August gegenüber der Süddeutschen Zeitung sagte, befinden sich die Flüchtlinge dort außerhalb des europäischen Rechtsgebietes.

Die deutsche Regierung und die EU-Kommission scheinen jedenfalls das Vorgehen der italienischen Behörden ungeachtet des offenen Bruchs mit dem Völkerrecht zu billigen. Weder aus dem deutschen Aussen- noch aus dem Innenministerium gab es eine Stellungnahme. Aus der EU-Kommission verlautete nur, dass es "aber auch fast unmöglich sei, auf der kleinen Insel Lampedusa Tausende von Flüchtlingen aufzunehmen". Ironischerweise hatten die EU-Innenminister noch bei ihrem informellen Treffen letzte Woche angekündigt, den nordafrikanischen Staaten Nachhilfe in Sachen rechtmäßiger Asylverfahren zu geben.

Die Idee, das Flüchtlingsproblem mit Auffanglagern außerhalb des EU-Territoriums einfach zu entsorgen, mit der Schily zurzeit in Europa hausieren geht, könnte der nächste "Exportschlager" der bundesdeutschen Ausländer- und Asylpolitik werden. Es war die deutsche Kohl-Regierung, die 1993 als Erste in der EU die "sichere Drittstaatenregelung" eingeführt hat, mit der Asylbewerber direkt an der Grenze wieder abgewiesen werden können. Diese restriktive Regelung hat mittlerweile Einzug in die Asylstandards der EU gehalten.

Wie gut diese Regelung mit den Flüchtlingslagern zusammenpasst, machte Pisanu nun deutlich, als er die Deportation nach Libyen als "Abweisung" bezeichnete, einen Begriff der für die Zurückschiebung an der Grenze in die vermeintlich "sicheren Drittstaaten" steht. Damit ist der Weg vorgezeichnet, wie die EU zukünftig Massendeportationen von Flüchtlingen in Lager nach Nordafrika, in die Ukraine oder Weißrussland rechtfertigen kann. Das ohnehin schon arg gerupfte Recht auf Asyl in der EU wäre dadurch endgültig abgeschafft.

Siehe auch:
Erstes Flüchtlingslager der EU soll schon bald in Libyen entstehen
(24. August 2004)
Italiens Regierung verschärft den Ton gegen Flüchtlinge und Ausländer
( 17. Juli 2003)
Nahezu täglich sterben Flüchtlinge an den Grenzen der EU
( 11. Juli 2003)
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