Das Ende der Konsenspolitik in den Niederlanden

Die Bilanz der sozialdemokratischen Regierung Wim Kok

Ende Juli 2002, zwei Monate nach den Parlamentswahlen, ist in der niederländischen Hauptstadt Den Haag die neue Koalitionsregierung aus Christdemokraten (CDA), Liste Pim Fortuyn (LPF) und rechten Liberalen (VVD) vereidigt worden.

Die neue Rechtsregierung und ihr Programm

Fünf Ministerien, darunter die zwei klassischen des Äußeren und der Justiz, erhielt die stärkste Parlamentsfraktion CDA, die mit Jan Peter Balkenende darüber hinaus den Premierminister stellt. Auch unter den vier Ministerien der VVD befinden sich drei klassische: das Innenministerium, Finanzen und Verteidigung. Die Liste Pim Fortuyn, die nach dem kurz vor dem Wahltag ermordeten Rechtspopulisten benannt ist und mit 26 Abgeordneten auf Anhieb zur zweitstärksten Fraktion geworden war, konnte für sich nur das dem Justizministerium zugeordnete neue Ministerium für Immigration und Integration und drei weitere, darunter das für Wirtschaft durchsetzen.

Premierminister Balkenende nahm im Parlament zu dem von den Koalitionsparteien vereinbarten Regierungsprogramm Stellung und erklärte, dass die nächsten Jahre für die meisten Niederländer sehr, sehr hart werden würden.

Durch scharfe Einschnitte bei den Leistungen der Krankenversicherungen, der Berufsunfähigkeitsversicherungen und bei den Beschäftigten im öffentlichen Dienst sollen allein 11 Milliarden Euro im Haushalt eingespart werden. Innerhalb von drei Jahren sollen 40% der von ärztlicher Seite für berufsunfähig erklärten Arbeitnehmer wieder irgendeine minderwertigere Arbeit aufnehmen - oder ihre Rentenansprüche verlieren. Gespart wird auch bei den Arbeitslosen, deren Zahl seit einigen Monaten massiv ansteigt.

Kurz nach ihrem Amtsantritt kündigte die Regierung an, dass zusätzliche Sparmaßnahmen im Sozialetat unvermeidlich seien. Zur Begründung führte sie an, dass die Steuereinnahmen infolge des Konjunktureinbruchs stark zurückgingen, die amtlichen Statistiker für nächstes Jahr ein weiteres Anwachsen der Arbeitslosigkeit voraussagten und das Haushaltsdefizit trotz der beschlossenen Kürzungen auf 3,5 Milliarden Euro - das sind acht statt der geplanten zwei Prozent vom Bruttosozialprodukt - steigen werde.

Flankiert wird der drastische Abbau von Sozialleistungen durch einen ebenso energischen Aufbau eines starken, allgegenwärtigen Staatsapparats mit schärferen Strafgesetzen und größerer Polizeipräsenz als jemals zuvor.

Galten die Niederlande bisher im europäischen Vergleich als Land mit relativ fremdenfreundlicher Politik, werden sie nun zum Land mit den schärfsten Abschottungs- und Vertreibungsmaßnahmen gegenüber Immigranten. Neue Asylbewerber werden nur noch aufgenommen, wenn sie zahlungskräftig sind und 6.600 Euro für einen Sprach- und Integrationskurs bezahlen können. Die Zuzugsmöglichkeiten für Familienangehörige werden stärker als irgendwo sonst eingeschränkt. Alle Immigranten, die sich illegal im Lande aufhalten und meist auf Blumen- oder Gemüseplantagen arbeiten, sollen ohne Ausnahme außer Landes geschafft werden. Eine europäische Besonderheit stellt der Aufbau einer militärischen Sondertruppe dar, die die Aufgabe hat, Immigranten zu jagen, zu fangen und zu deportieren.

Auch die Ausweispflicht wird in diesem Zusammenhang wieder eingeführt. Jedermann ist verpflichtet, stets einen Ausweis oder Pass bei sich zu tragen. Wer dieser Pflicht nicht nachkommt, qualifiziert sich für die sofortige Deportation. In den Niederlanden war erstmals unter der Nazi-Besatzung eine solche Ausweispflicht eingeführt worden. Damals diente sie den Behörden dazu, jüdische Mitbürger schnell und ohne großen Aufwand zu identifizieren und dann an die deutsche Gestapo auszuliefern.

Die neue Regierung und ihr Programm bedeuten einen fundamentalen Bruch mit der "Konsenspolitik", mit den vertrauten Methoden und Mechanismen der bürgerlichen Herrschaft in den Niederlanden, deren Tradition Jahrhunderte zurückreicht. Ziel dieser Politik war es, oft durch langwierige Verhandlungen und Manöver die sozialen Interessenkonflikte zu dämpfen und offene Klassenkonfrontationen zu vermeiden. Mit dem neuen Regierungsprogramm steuert die herrschende Elite nun auf solche Konfrontationen zu.

Die Früchte sozialdemokratischer Politik

In der öffentlichen Debatte wird diese Veränderung allerdings nicht deutlich. Nimmt man sie zum Maßstab, dann ist alles beim Alten geblieben. Die Oppositionsparteien, insbesondere die sozialdemokratische Partei von der Arbeit (PvdA) des bisherigen Premierministers Wim Kok, äußern keine grundsätzliche Opposition gegen die neue Regierung und ihre Politik. Das ist selbst ein Ausdruck der Fäulnis der bürgerlichen Herrschaft, der im Parlament vertretenen Parteien und der Medien.

Dass die Oppositionsparteien weitgehend stillhalten, ist nicht weiter verwunderlich, denn schließlich standen sie während der letzten acht (im Falle der PvdA sogar zwölf) Jahre in der Regierungsverantwortung und haben gemeinsam mit der Gewerkschaftsbürokratie diesen politischen Rechtsruck herbeigeführt. Diese Tatsache ist der Schlüssel zum Verständnis der gegenwärtigen Lage in den Niederlanden. Gleichzeitig ist sie symptomatisch für die politische Entwicklung in fast allen europäischen Ländern.

Bereits im Jahre 1982 hatte Wim Kok, damals noch Vorsitzender des Gewerkschaftsdachverbandes, mit der CDA-geführten Regierung unter Premierminister Ruud Lubbers den "Vertrag von Wassenaar" ausgehandelt. Er bedeutete eine grundsätzliche Wende in der Sozial- und Lohnpolitik. Von nun an waren nicht mehr soziale Verbesserungen Gegenstand der "Konsenspolitik", sondern der Sozialabbau für Arbeiter, Arbeitslose, Kranke und Rentner, der zwischen Regierungsparteien, Gewerkschaften, Kirchen, Unternehmer- und anderen Interessenverbänden sorgfältig ausgehandelt und detailliert festgelegt wurde.

Zunächst wurden die Lohnerhöhungen begrenzt, später die Löhne gesenkt sowie Teilzeit- und Niedriglohnarbeit forciert. Anfang 1990 trat die PvdA in die von Ruud Lubbers (CDA) geführte Regierung ein, Wim Kok wurde Finanzminister, die Gewerkschaften wurden noch stärker mit eingebunden. Vier Jahre später übernahm Wim Kok selbst das Amt des Premierministers. Seither regierte er bis zum jetzigen Regierungswechsel gestützt auf eine Koalition aus PvdA, rechter VVD und D66. Letztere war 1966 als liberale Abspaltung von der VVD entstanden.

Als "niederländische Antwort" auf die Globalisierung der Produktion trieb Wim Kok die 1982 von ihm eingeleitete Politik systematisch voran. Das "Niederländische Modell" wurde schließlich zum Inbegriff für einen ebenso rigorosen wie wohldosierten, immer im Konsens mit Gewerkschaften und Betriebsräten betriebenen Sozialabbau und zum Vorbild für viele europäische Regierungen.

In den Niederlanden selbst wurde es "Polder-Modell" genannt. Damit sollte suggeriert werden, dass es keine andere Alternative gebe. So wie die Bevölkerung, die auf dem Polder, dem neu gewonnenen Land hinter den Deichen lebt, im Kampf gegen die Naturgewalten zusammenhalten und alle Streitigkeiten begraben muss, müsse auch im Kampf um den Standort "Niederlande" auf dem globalen Markt jeder Widerstand gegen die Regierungspolitik eingestellt werden.

Im Rahmen des "Polder-Modells" wurden die Sozial- und Arbeitslosenhilfe abgesenkt und der Anteil der befristeten und Teilzeitarbeit stark erhöht. Am Ende von Kok's Regierungszeit waren mehr als 38 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse Teilzeitverhältnisse. In Deutschland sind es noch nicht einmal 10 Prozent.

Auch Tele- oder Heimarbeit wurde systematisch eingeführt. IT-Experten oder andere hochqualifizierte Fachkräfte werden oft nicht fest oder voll angestellt. Sie erhalten kein monatliches Gehalt nach Tarifvertrag, sondern werden nach abgelieferten Produkten bezahlt. Die Kosten für den Arbeitgeber sind so wesentlich geringer. So brauchen die Telearbeiter oft kein besonderes Büro, weil sie ihre Wohnung auch als Arbeitsplatz nutzen und mit dem Arbeitgeber oder Kunden per Telefon oder Internet im Kontakt stehen. Zuschläge für Nacht- oder Wochenendarbeit, Krankengeld u.ä. entfallen bei einer pauschalen Bezahlung nach Produkten; denn die jeweiligen Fachkräfte, seien sie nun angestellt oder selbständig, müssen dies alles "freiwillig" leisten, wenn sie rechtzeitig abliefern und bezahlt sein wollen. Arbeiten sie als Selbständige, entfallen für den Arbeitgeber auch die Sozialversicherungsbeiträge.

Ein weiterer wichtiger Bestandteil des "Polder-Modells" bestand darin, entlassene Arbeitnehmer bzw. Arbeitslose in das Wagnis des selbständigen Unternehmertums zu drängen, um so die Arbeitslosenstatistik zu schönen und den Staatshaushalt und die Kassen der Konzerne zu entlasten. Vor allem im Dienstleistungsbereich entstand ein Heer von kleinen, immer am Rande der Existenz entlang schlingernden Selbständigen. Die "Ich-AG", die in Deutschland gegenwärtig von der Hartz-Kommission propagiert wird, hat hier ihr Vorbild.

Auf diese und ähnliche Weise entstand eine breite Schicht von "working poor", von Familien, die sich immer gerade über Wasser halten können. Die offizielle Zahl der Arbeitslosen und die Ausgaben für Arbeitslosengeld und Sozialhilfe wurden dagegen auf ein Minimum reduziert.

Das Ende des "niederländischen Modells"

Der von Krediten und wilden Spekulationen gespeiste Börsenboom der 90er Jahre verschaffte der Regierung Wim Kok für ein paar Jahre den Schein des Erfolgs. Das damit verbundene Wachstum des Welthandels vermochte, ungeachtet seiner fragilen Grundlage, die sozialen Folgen des "Polder-Modells" für eine Weile zu kaschieren und zu verschieben. Es sorgte dafür, dass es in der extrem exportabhängigen niederländischen Wirtschaft genügend Jobs gab, wenn auch zu sehr niedrigen Löhnen.

Einige Politologen und Kommentatoren äußerten sogar die Ansicht, unter der Regierung Wim Kok sei die Verwirklichung des Traums von einer offenen, liberalen und demokratischen Gesellschaft ein Stück näher gerückt. Zur Begründung verwiesen sie auf die Aufrechterhaltung der Konsens-Politik "trotz sozialer Härten" und auf liberalere Gesetze für Homosexuelle, Prostituierte, Drogenabhängige oder Kranke, die den Zeitpunkt und die Art und Weise ihres Todes selbst bestimmen wollen.

Aber so begrüßenswert die Abschaffung diskriminierender Zivil- und Strafgesetze für diese Gruppen von Menschen auch sein mag, wahre Demokratie und Freiheit sind nur möglich, wenn die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft überwunden wird. In dieser Hinsicht aber bewegten sich die Niederlande unter Wim Kok und der Sozialdemokratie in die entgegengesetzte Richtung. An der Spitze wurde eine Schicht von Reichen immer reicher - die Zahl der Millionäre war 1999 auf über 200.000 gestiegen -, während die arbeitende Bevölkerung immer mehr verarmte.

Sofern es darüber Illusionen gab, zerstoben sie rasch und plötzlich. Als letztes Jahr die Weltkonjunktur einbrach, zeigten sich innerhalb kürzester Zeit die bitteren Folgen des "Polder-Modells" für die Arbeiterklasse.

Viele Unternehmen erwiesen sich trotz niedrigster Löhne als nicht produktiv genug, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können. Die Niedriglöhne waren sogar mit verantwortlich für ein langsames Produktivitätswachstum. Wie Fachökonomen seit langem wissen, verhindern niedrige Löhne unter den Bedingungen des Wirtschaftswachstums eine systematische technologische Erneuerung und damit eine Erhöhung der Produktivität. Nun forderten Vertreter von Banken und Konzernen ein Ende des "wohldosierten Sozialabbaus" und eine härtere Gangart. Der wirtschaftliche und soziale Umschwung vollzog sich innerhalb weniger Wochen.

Tausende von "working poor" wurden in den letzten Monaten der Regierung Wim Kok auf die Straße gesetzt, ohne dass es ein staatliches Netz sozialer Leistungen gibt, um sie vor dem weiteren Absturz in die Armut zu bewahren. Innerhalb weniger Monate stieg die Zahl der Arbeitslosen rasch an, auf ein Niveau wie es in Deutschland herrscht - aber mit viel niedrigeren Leistungen und Hilfen für Arbeitslose. Deshalb schoss im letzten Winter auch die Zahl der Obdachlosen nach oben, denn Wohnungen sind in dem dichtbesiedelten kleinen Land nur schwer und teuer zu haben. Nach Angaben der Heilsarmee stieg sie von weniger als 10.000 im letzten Jahr auf gegenwärtig knapp 70.000.

Besonders tragisch ist dabei folgender Umstand: Bis vor sechs Monaten gab es unter den neu registrierten Obdachlosen keine einzige Frau, heute sind nach Angaben der Hilfsorganisation "Federatie Opvang" mehr als 25% Prozent der Obdachlosen Frauen. Und mit jedem Monat wächst dieser Anteil. Die meisten von diesen Frauen kommen aus Verhältnissen, in denen sie schon seit längerer Zeit mit Armut und sozialer Verrohung zu kämpfen hatten, bevor sie auch noch das Dach über dem Kopf verloren.

Bereits 1997 lebten eine Million Haushalte unter der Armutsgrenze, bei einer Gesamtbevölkerung von 16 Millionen. Laut Schätzungen dürfte diese Zahl seit dem letzten Winter weit über 2 Millionen gestiegen sein und damit gut ein Viertel der Bevölkerung betreffen.

Unter diesen dramatischen sozialen Bedingungen trat Pim Fortuyn auf die politische Bühne und erklärte den "Zustrom an Einwanderern" zur "nationalen Geißel", die das Land zugrunde richte. Die "Konsenspolitik" müsse durchbrochen und das Land aus seiner Erstarrung befreit werden.

Die Rolle von Pim Fortuyn und seiner Liste

Arbeitslosigkeit, Armut und Obdachlosigkeit schossen seit dem letzten Winter in den Niederlanden in die Höhe. Unter diesen Bedingungen dramatischer sozialer Veränderungen trat Pim Fortuyn auf die politische Bühne und erklärte den "Zustrom an Einwanderern" zur "nationalen Geißel", die das Land zugrunde richte. Die "Konsenspolitik" müsse durchbrochen und das Land aus seiner Erstarrung befreit werden.

Was Pim Fortuyn vertrat: Rassismus aus Egoismus

Die lang angestaute Frustration über die Politik der sozialdemokratischen und anderen reformistischen Parteien und Gewerkschaften, die sich einst als Vertreter der Arbeiterinteressen ausgegeben hatten, die weit verbreitete politische Verwirrung über die Ursachen der wachsenden sozialen Krise und das Fehlen einer fortschrittlichen gesellschaftlichen Alternative - all dies verstand Pim Fortuyn meisterhaft auszunutzen. Sein aggressiver Ruf nach einem sofortigen Stopp jeglicher Immigration, nach einem energischen Abbau der Bürokratie in Staat und Gesellschaft und nach härteren Strafgesetzen wühlte einen anfangs sich schläfrig dahinziehenden Wahlkampf auf.

Seine programmatische Achse? Blanker Egoismus. Fortuyn selbst hat immer darauf bestanden, dass er nicht aus irgendwelchem Blut- und Boden-Rassismus gegen die Aufnahme von Immigranten sei, sondern lediglich dem Motto folge: Alle müssen zuerst für sich selbst sorgen, so auch die Niederländer zuerst für sich und nicht für andere. Er mache mit Ausländern und Farbigen ohne alle Vorbehalte Geschäfte, Politik und andere Dinge. Aber wenn es zu viele würden, wenn Flüchtlinge Steuergelder kosteten, ihn an der Entfaltung seines eigenen Ichs und Reichtums hinderten und noch dazu kein Niederländisch sprächen, dann höre für ihn der Spaß auf.

Geschickt nutzte er für seine subtile Hetze gegen Immigranten auch die allgemeine Stimmungsmache gegen moslemische Gläubige und Geistliche aus, die von westlichen Regierungen und Medien seit den Terroranschlägen vom 11. September betrieben wird. Im Stil der "Big-Brother-Show" warf er dazu seine eigene Homosexualität ins politische Gefecht.

Er nahm diskriminierende Äußerungen des holländischen Imams Haselhoef über Homosexuelle zum Vorwand, die 800.000 in den Niederlanden lebenden moslemischen Immigranten und deren Kultur als "rückständig" zu brandmarken. Für diese Rückständigkeit und Intoleranz sei in der niederländischen Kultur kein Platz, erklärte er, ungeachtet der Tatsache, dass sich in dieser Frage die Ansichten führender Kirchenvertreter seiner eigenen Konfession, des Katholizismus, nicht wesentlich von jenen des Imams unterscheiden. Auf dieser Grundlage appellierte er an die Wähler, quasi "aus Solidarität und Toleranz" gegenüber Homosexuellen und zur "Verteidigung ihrer eigenen hohen Kultur" den Strom von Immigranten sofort zu stoppen.

Der zynische Charakter dieser politischen Argumentation wird durch die Tatsache unterstrichen, dass bereits die Regierung Wim Kok die Asyl- und Immigrationsbestimmungen so stark verschärft hatte, dass der "Strom" der Flüchtlinge schon vor der Wahl zu einem Rinnsal abgewürgt worden war. Nur noch 8.000 Flüchtlingen ist es nach Angaben der Einwanderungsbehörden im ersten Halbjahr 2002 gelungen, über die Grenze zu gelangen und einen Asylantrag zu stellen. Und von diesen hat nur ein Viertel Aussicht, anerkannt zu werden und in den Niederlanden bleiben zu dürfen. Das ist ein Bruchteil der Zahlen aus früheren Jahren.

Was Pim Fortuyn repräsentierte: Die neureiche Ellenbogen-Gesellschaft

Pim Fortuyn war politisch und persönlich die Inkarnation des Ellenbogen-Parvenüs, der typische Vertreter einer kleinen sozialen Schicht, die in den 90er Jahren auf der Woge der Börsenspekulationen und durch oft ebenso krumme wie lukrative Geschäfte reich geworden ist. Etliche unter diesen Neureichen haben versucht, ihre Jugendsünden in der radikalen Protestpolitik der 70er Jahre durch eine umso prinzipienlosere politische Karriere in der Gesellschaft wettzumachen, die sie einst kritisiert hatten.

Pim Fortuyn gehörte zu dieser Sorte. Von Profession Soziologieprofessor war er als Unternehmensberater, Kolumnist eines Politmagazins und Fernsehkommentator zum Millionär geworden. Im Laufe seiner politischen Häutungen durchlief er die radikale Studentenpolitik, die Gewerkschaftsbürokratie und die PvdA. Für einige Zeit war er auch Berater der CDA, schließlich Kandidat auf der Liste "Lebenswertes Rotterdam", bevor er dort Anfang dieses Jahres wegen Rechtspopulismus rausgeschmissen wurde und im März seine eigene Liste für die Kommunalwahlen in Rotterdam gründete. Dort wurde seine Liste auf Anhieb mit 34% der abgegebenen Stimmen die stärkste Fraktion und bildete mit der CDA und VVD die Stadtregierung.

Mit Hilfe seiner Demagogie sammelte Pim Fortuyn innerhalb weniger Wochen einen bunten Haufen von teilweise äußerst zweifelhaften Elementen um sich, die alle ihren Ellebogen erfolgreich eingesetzt hatten oder noch einsetzen wollten, die ihren "Dutch dream" bereits verwirklicht hatten oder "es nun endlich auch zu etwas bringen" wollten: ein farbiger IT-Experte aus den Kolonien, ein hoher Beamter des Verteidigungsministeriums namens Mat Herben, Fortuyns Nachfolger als Parteiführer, von dem die Gerüchte nicht verstummen, dass er eingepflanzt worden sei, die Apothekerin um die Ecke, Zahnärzte und deren Helferinnen, Immobilienmakler und deren Putzfrauen usw..

Mit dieser Liste attackierte er die Staatsbürokratie, die den sozialen Konsens vermittelte, regulierte und kontrollierte von rechts, vom Standpunkt der Reichen, die sich durch sie gehemmt und bedrängt fühlen.

Nach zwölf Jahren sozialdemokratischer Regierungspolitik und acht Jahren mit Wim Kok als Premierminister fand er damit aber auch Anklang bei Arbeiterschichten, die sich durch den Konsens von Gewerkschaften, Betriebsräten, Parteien und Regierungen verraten fühlten und vom sozialen Abstieg bedroht sahen. Dies umso mehr, als in der Arbeiterklasse infolge der jahrzehntelangen Vorherrschaft von Sozialdemokratie, Stalinismus und kleinbürgerlichen Radikalen eine tiefe politische Verwirrung vorherrschte und keine unabhängige Klassenperspektive existierte.

Und schließlich fand Pim Fortuyn mit seiner Hetze gegen Immigranten auch Anklang bei deklassierten Schichten, die sich in der allgemeinen politischen Desorientierung nur noch von egoistischen Instinkten leiten lassen.

Mit seinen aggressiven Parolen und seiner zynischen Talkshow- Eloquenz heizte er gezielt die von dumpfen Gefühlen der Ohnmacht geprägte oppositionelle Stimmung im Lande auf, um sie in reaktionäre Kanäle zu lenken.

Was Pim Fortuyn bewirkte: politischer Umschwung vom Konsens zur Konfrontation

Fortuyns Ermordung, selbst ein deutlicher Ausdruck der extremen sozialen Spannungen und eine Reaktion auf seine eigene aggressive Politik, beendete diese reaktionären Machenschaften nicht. Im Gegenteil. Die allgemeine moralische Entrüstung und Abscheu über diese Tat trugen zum spektakulären Wahlerfolg der LPF bei.

Wie so oft in der Geschichte erwies sich einmal mehr, dass - völlig unabhängig von den unmittelbaren Motiven und Absichten des Täters - individuelle politische Morde die Kräfte der Reaktion nicht stoppen, sondern stärken. Jedenfalls hat Pim Fortuyn als toter Märtyrer die Politik der Regierung wahrscheinlich mehr bestimmt, als er es lebendig, provokativ und unberechenbar wie er war, je hätte tun können.

Sein Mythos, auf den sich seine Liste stützte, wurden zum Hebel für die Durchsetzung eines energischen Bruchs mit der traditionellen Konsenspolitik, eines Bruchs, den die anderen bürgerlichen Parteien, diskreditiert und abgestraft wie sie waren, auf sich gestellt niemals hätten durchsetzen können.

Während der Koalitionsverhandlungen stand die LPF in manchen Fragen noch nicht einmal auf dem rechtesten Flügel. Die Christen von der CDA erwiesen sich gegenüber Immigranten und in Fragen des Sozialabbaus wesentlich erbarmungsloser als die LPF. Während die LPF eine Amnestie für illegale Immigranten befürwortete, die schon längere Zeit im Land leben, bestanden die Christen auf der sofortigen und ausnahmslosen Ausweisung. Auch die Koalitionsvereinbarung, dass psychisch Kranke nicht mehr berufsunfähig geschrieben werden können, ist auf die christliche Nächstenliebe der CDA zurückzuführen.

Wäre es nach der CDA gegangen, dann müssten alle Asylbewerber nicht nur, wie beschlossen, einen Sprachkurs absolvieren und selbst bezahlen, sondern dies auch bereits in ihrem Heimatland, etwa unter der Aufsicht der dortigen Polizei- oder Gefängnisleitung, tun und dann beim Grenzübertritt nachweisen.

Die CDA war ähnlich der CDU in Deutschland früher eine Konsenspartei oder Volkspartei par excellence. Sie beherbergte verschiedene soziale Schichten - Arbeiter, Unternehmer, Händler, Handwerker, Bauern - und war immer damit beschäftigt, deren widerstreitende sozialen Interessen auszugleichen und auszubalancieren. Während ihrer Oppositionszeit in den 90er Jahren mutierte sie jedoch zu einer klassischen neo-liberalen Partei im Dienste der Wirtschaft und der Börsen.

Jan Peter Balkenende war der ideologische Vorreiter für diese Verwandlung. Er hatte zudem den unschätzbaren Vorteil, kein bekannter Vertreter der verhassten politischen Elite zu sein. Er verdankte seinen Wahlsieg nicht Beliebtheit oder politischer Unterstützung, sondern der Tatsache, dass ihn niemand kannte.

Es gibt zwischen der CDA, der VVD, den anderen bürgerlichen Parteien und der PvdA keinen wesentlichen Unterschied mehr. Sie alle haben jede Rücksicht auf die Interessen der arbeitenden Bevölkerung aufgegeben und vertreten offen die Interessen der Wirtschaft und der Reichen. Aber sie hätten weder allein noch in einer Koalition geschafft, was der tote Pim Fortuyn post mortem mit seiner Liste eingeleitet hat: den politischen Umschwung vom Konsens zur Konfrontation.

Wer Pim Fortuyn noch den Weg ebnete: GroenLinks und die Sozialistische Partei

Zu den politischen Kräften, die dem Wirken von Pim Fortuyn und der neuen Regierung den Weg geebnet haben, gehören auch die kleinbürgerlich-radikalen Organisationen GroenLinks (Grüne Linke) und Sozialistische Partei (SP).

GroenLinks entstand in den 80er Jahren aus dem Zusammenschluss von Überresten der radikalen Studentenbewegung der 70er Jahre, der stalinistischen KP der Niederlande und gläubigen Christen, die mit den Hierarchien und Dogmen ihrer Amtskirchen unzufrieden waren. Diese Partei verfügt auf kommunaler Ebene über beträchtlichen Einfluss und auch im nationalen Parlament über einige Sitze. Sie trug das Polder-Modell mit und sorgte vor allem für seine reibungslose Durchsetzung in den Städten und Gemeinden.

Die SP, 1972 als maoistische Organisation gegründet, kritisierte dagegen die Regierung und ihren Sozialabbau unablässig mit radikalen Phrasen. Sie hat auf diese Weise über 200 Sitze in kommunalen und Provinzparlamenten gewonnen. Im nationalen Parlament verfügt sie über neun Abgeordnete (gegenüber fünf im Jahr 1998), bei einem Stimmenanteil von knapp 6 Prozent, und bildet den linken Flügel der Opposition. In vier Großstädten ist sie sogar stärkste Partei. In der alten Industriestadt Oss in Nordbrabant mit 65.000 Einwohnern stellt sie zusammen mit der sozialdemokratischen Partei die Stadtregierung. Bei den Parlamentswahlen stimmten in dieser Stadt 19 Prozent, in Amsterdam 11 Prozent für die SP.

Auf die Frage, worin der entscheidende Unterschied zwischen der SP und der PvdA oder den Grünen bestehe, antwortete 1998 der Vorsitzende der SP von Amsterdam, Wim Paquay, in einem Interview mit der World Socialist Web Site : "In unserer Politik gegenüber den Ausländern. Wir sind für die strikte Anwendung der bestehenden Gesetze gegen die illegalen Einwanderer. Die linken PvdA- und Grünen-Politiker dagegen wollen immer eine Art Amnestie oder Ausnahmen für Problemfälle. Aber ein solches Vorgehen würde ja noch mehr Ausländer anziehen, viel mehr als auf natürliche Art und Weise in unsere niederländische Gesellschaft integriert werden könnten...."

Das sind dieselben Anschauungen, die auch Fortuyn's Partei vertritt, die dafür aber im Unterschied zur SP die Unterstützung einer ganzen Reihe von reichen Bürgern und der Medien gewonnen hat. Nach der Ermordung Fortuyn's hat sich der Vorsitzende der SP, Jan Marijnissen, in einer Beileidserklärung öffentlich zu dieser politischen Verwandtschaft bekannt: "Zu vielen politischen und gesellschaftlichen Problemen in unserem Lande waren wir zu identischen Einschätzungen gelangt," heißt es darin in Bezug auf den Ermordeten, "auch wenn wir über die Lösung verschiedener Ansichten waren."

Die von Marijnissen angesprochenen unterschiedlichen Ansichten waren allerdings marginaler Natur. So erklärt sich die SP in ihrem Programm ausdrücklich für mehr öffentliche Sicherheit und die Aufrechterhaltung einer starken nationalen Armee. Fortuyn rief ebenfalls nach mehr öffentlicher Sicherheit, schlug jedoch die Auflösung der Armee zugunsten einer Stärkung der Marine vor. Er begründete diesen Vorschlag damit, dass die Niederlande bei der Marine über historisch gewachsene Kompetenz verfügten. Er spielte damit auf die Zeiten des Kolonialismus und Sklavenhandels an, in denen die Marine die wichtigste militärische Stütze des niederländischen Imperiums war. Die Niederlande sollten sich, so Fortuyn, darauf konzentrieren, die Marine wieder zu ihrer alten Größe aufzubauen, um in der Weltpolitik mithalten zu können.

Auch in der Hetze gegen moslemische Immigranten und ihre Geistlichen sind Unterschiede in der Linie der SP gegenüber jener der LPF kaum wahrnehmbar. Nach der Ermordung Fortuyns wurde eine regelrechte Pogromstimmung gegen Moslems und moslemische Geistliche geschürt. Predigten wurden heimlich abgehört, übersetzt und an so genannte "interessierte Niederländer" verteilt, um diese aufzuhetzen - eine Praxis, die an die Zeit der niederländischen Religionskriege im 17. Jahrhundert erinnert. Damals war mit solchen Methoden der Straßenmob zu Lynchmorden aufgestachelt worden.

Der LPF-Vorsitzende Herben beteiligte sich an dieser Hetzkampagne und schlug vor, die Verfassung zu ändern, damit Imams des Landes verwiesen werden könnten, auch wenn sie über eine gültige Aufenthaltserlaubnis oder gar einen niederländischen Pass verfügten. Die SP beließ es nicht bei Vorschlägen, sie brachte im Parlament ein Gesetz ein, wonach moslemische Geistliche unter Androhung des Verlustes ihres legalen Status verpflichtet werden, einen Kurs zur "Integration in die niederländische Kultur" zu absolvieren.

Wie Groen Links verhinderte die SP jahrelang, auch in der aufgewühlten Stimmung nach Fortuyn's Ermordung, dass die Opposition gegen Wim Kok und die PvdA die Pest des niederländischen Nationalismus herausfordert und die internationalen Interessen und Rechte der Arbeiter in den Mittelpunkt stellt. Nur so ist zu erklären, dass Pim Fortuyn und seine Liste so kometenhaft aufsteigen und eine rechte Regierung an die Macht bringen konnten.

Wie Pim Fortuyn's Mythos verblasste: Der rasche Zerfall der LPF

Es gibt viele Anzeichen dafür, dass die LPF, kaum hat sie den herrschenden Eliten diesen Dienst erwiesen, wieder vom Erdboden verschwinden wird. Schließlich verfügt diese Organisation weder über eine geschichtliche Tradition, noch über eine stabile soziale Basis, noch über ein ausgearbeitetes Programm.

Noch während der Koalitionsverhandlungen wurde die LPF von einer heftigen Führungskrise erschüttert. Zwei Stunden nach dem offiziellen Foto mit der Königin musste dann das erste Regierungsmitglied der LPF, die Staatssekretärin für Emanzipation und Familienangelegenheiten, Philomena Bijlhout, ihren Posten wieder räumen. Es hatte sich herausgestellt, dass sie entgegen ihren Angaben auch dann noch als Mitglied einer paramilitärischen Miliz für die Militärjunta in Surinam gedient hatte, als diese Junta dazu übergegangen war, ihre Gegner durch Mord zu liquidieren.

Nur wenige Tage später zog die LPF auch ihre Fraktionssprecherin im Parlament, Ines Scheffers, eine enge Mitarbeiterin des Parteivorsitzenden, wieder aus dem Verkehr. Sie hatte ihr Amt in der kurzen Zeit seit dem Regierungsantritt schon für persönliche Zwecke missbraucht.

Schließlich erklärte dieser Tage Mat Herben, der die Koalitionsverhandlungen mit den anderen Parteien geführt hatte, seinen Rücktritt vom Parteivorsitz. Außerdem vertiefte sich in der LPF-Führung eine programmatische Spaltung über die Frage, ob der Staatshaushalt um jeden Preis durch weitere soziale Angriffe ausgeglichen oder lieber ein Staatsdefizit in Kauf genommen werden solle.

Instabilität charakterisiert aber nicht nur die LPF, sondern die gesamte Regierung. Während der Koalitionsverhandlungen wurde in den Medien mehrfach die Besorgnis geäußert, dass in der LPF keine erfahrenen, zuverlässigen professionellen Politiker zu finden seien. Diese Beunruhigung wird dadurch verstärkt, dass auch in den traditionellen bürgerlichen Parteien, sei es der CDA, VVD oder PvdA, die intellektuellen und politischen Ressourcen diskreditiert oder erschöpft sind. Schon die Berufung des wandelnden Aktendeckels Ad Melkert zum Nachfolger von Wim Kok im Vorsitz der PvdA und als Spitzenkandidat bei den Wahlen war ein untrügliches Zeichen dafür.

So reaktionär die neue niederländische Regierung ist, steht sie wie alle Regierungen in Europa auf extrem schwachen Füßen und ist zu einem höheren Grade als je zuvor gesellschaftlich isoliert. Aber sie befindet sich an den Hebeln der Macht, und die Gefahr, dass sie durch ein noch rechteres Regime abgelöst wird, bleibt bestehen, solange die Arbeiterklasse nicht mit einem eigenen, unabhängigen Programm in das Geschehen eingreift.

Die historischen Wurzeln der Konsenspolitik

Der Regierungswechsel in den Niederlanden folgt einem gesamteuropäischen Muster.

In der zweiten Hälfte der 90er Jahre wurden fast alle 15 EU-Regierungen von Sozialdemokraten geführt. Heute sind es gerade noch fünf - Großbritannien, Schweden, Finnland, Griechenland und Deutschland, wobei in Deutschland alle Umfragen auf einen Machtwechsel nach dem 22. September hindeuten. Außerdem sind die Sozialdemokraten in Belgien als Juniorpartner in einer liberal geführten Koalitionsregierung vertreten.

In Österreich, Italien, Dänemark, Portugal, Frankreich und den Niederlanden wurden die Sozialdemokraten in den vergangenen beiden Jahren durch rechte, konservative Parteien abgelöst, die nicht selten im Bündnis mit rechtspopulistischen Kräften regieren. Die Konservativen verdankten ihre Wahlerfolge in der Regel der Verbitterung und Enttäuschung über die Politik der Sozialdemokraten, die sich zum Teil in massiver Stimmenthaltung ausdrückte und zum Teil von den Rechtspopulisten ausgenutzt werden konnte.

Die Niederlande stellen also in dieser Hinsicht keinen Sonderfall dar. Die Konsenspolitik hat hier allerdings eine längere Tradition als in jedem anderen europäischen Land. Ein Blick auf ihre Geschichte zeigt, wie grundlegend der politische Umbruch ist, der gegenwärtig in Europa stattfindet.

Die Tradition der Konsenspolitik

Die Wurzeln der Konsenspolitik reichen bis in die Zeit der frühen bürgerlichen Revolution im 16. Jahrhundert zurück. Die Provinzen der Niederlande waren damals Bestandteil des Habsburger Reiches und standen unter Herrschaft des spanischen Königs, der mit eiserner Faust gegen die protestantische Reformation vorging und die feudale Ordnung samt der Allmacht der katholischen Kirche verteidigte.

Im Verlaufe des Kampfs gegen das spanische Joch trennten sich die südlichen der insgesamt 17 niederländischen Provinzen von den nördlichen. Der Süden - das heutige Belgien - war wirtschaftlich zurückgeblieben und ebenso wie Spanien katholisch geblieben. Den Norden hingegen prägten der aufstrebende Handel über die Nordsee und eine wachsende städtische Wirtschaft und Kultur. Der lutheranische Protestantismus hatte dort früh seinen Einzug gehalten, dann das Täufertum und schließlich als dominierende ideologische Kraft gegen das feudale, katholische Spanien der Kalvinismus.

Im Jahr 1579 schlossen sich die nördlichen Provinzen in der Union von Utrecht zusammen, zwei Jahre später setzten sie den spanischen Landesherrn ab. Damit war die Erste Republik der Niederlande geboren. Ihre Grundlage war infolge der Spaltung der Provinzen nicht ein einheitlicher, zentralistischer Nationalstaat, wie er sich in Frankreich oder Großbritannien zur selben Zeit unter der absolutistischen Macht der Monarchie herauszubilden begann, sondern der politische Zusammenschluss mehrerer gleichberechtigter Provinzen und Städte.

Aufstieg, innere Stabilität und politischer Bestand der Republik beruhten seitdem zu einem guten Teil auf der Kunst, die Partikularinteressen der verschiedenen Provinzen, der verschiedenen städtischen Führungsschichten, der verschiedenen Konfessionen und Wirtschaftsverbände anzuerkennen und "im Konsens" auszubalancieren, d.h. ohne dass eine gesellschaftliche, politische oder religiöse Kraft völlig unterdrückt oder ausgeschlossen wurde.

Diese "Konsenspolitik" der herrschenden großbürgerlichen Kreise erstreckte sich auch auf das Gebiet der Sozialpolitik gegenüber den unteren Klassen. Sie führte dazu, dass - einzigartig in Europa - bereits im 17. Jahrhundert Armenhäuser und andere Wohlfahrtsinstitutionen eingerichtet wurden, um die sozialen Gegensätze zu entschärfen und die innere Stabilität der Republik zu stärken.

Im 19. Jahrhunderts wurde diese politische Tradition bewusst fortgesetzt, um die Herrschaft der Bourgeoisie gegen die mit der Industrialisierung entstehende Arbeiterklasse und die von ihr ausgehenden Gefahr einer revolutionären Bewegung abzusichern Im Jahr 1848 verhinderten weitsichtige bürgerliche Politiker, angeführt von dem liberalen Johan Rudolf Thorbecke, ein Übergreifen der in ganz Europa ausbrechenden revolutionären Erhebungen auf die Niederlande, indem sie ihnen mit ersten politischen Reformen in Richtung einer parlamentarischer Demokratie zuvorkamen.

Schrittweise wurden in den folgenden Jahrzehnten demokratische Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit, Unterrichtsfreiheit und das Briefgeheimnis eingeführt. Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit der in den Niederlanden relativ spät einsetzenden Industrialisierung die Verelendung der Arbeiterklasse ungeheuer zunahm, wurden auch soziale Reformen zur Linderung der allerschlimmsten Auswüchse eingeführt.

Dem Anwachsen der organisierten Arbeiterbewegung trat die Bourgeoisie mit einer Politik entgegen, die in den Niederlande "verzuiling", Versäulung der Gesellschaft genannt wird. Die beiden großen christlichen Konfessionen, die calvinistisch-protestantische und die katholische Kirche, bildeten jeweils eine "Säule" mit der Aufgabe, mit eigenen Schulen, Wohlfahrts- und Freizeiteinrichtungen, Medien, politischen Parteien und Gewerkschaften die wachsende Kluft zwischen den Klassen zu überbrücken und zu verschleiern. Später trat zu diesen beiden konfessionellen Säulen noch die Säule der reformistischen, sozialdemokratischen Gewerkschaften und Parteien sowie die Säule der Unternehmer und ihrer Parteien und Korporationen hinzu.

Gestützt auf die ungeheuren Reichtümer, die sie durch die brutale koloniale Unterdrückung der Völker in Ceylon, Indonesien, Surinam und durch den systematischen Sklavenhandel ansammeln konnte, war die niederländische Bourgeoisie in der Lage, diese politische Versäulung ihrer Herrschaft durch soziale Reformen zu untermauern.

Nach der politischen Zerrüttung und wirtschaftlichen Zerstörung durch die Nazi-Besatzung und den Zweiten Weltkrieg wurde diese sozial abgefederte Konsenspolitik neu belebt und fortgesetzt. Der Verlust der Kolonien in der Nachkriegszeit wurde dabei durch die zunehmende Integration der Niederlande in den wachsenden Welthandel und in die EU ausgeglichen. Politisch stützte sich die Konsenspolitik auf die Dominanz der Sozialdemokratie über die Arbeiterklasse.

Das Ideal der Toleranz und seine geschichtliche Tradition

Auch das gesellschaftliche Ideal der Gastfreundschaft und Toleranz gegenüber Flüchtlingen, Andersgläubigen und Andersdenkenden war in Europa nach den finsteren Zeiten des Mittelalters zuerst in der frühen bürgerlichen Revolution der Niederlande herausgeformt worden.

Aus der Notwendigkeit heraus, alle gesellschaftlichen Schichten, alle Konfessionen und Sprachgruppen zur Befreiung gegen das spanische Joch zu vereinen, war die Union von Utrecht 1579 ausdrücklich auf die Grundsätze der Religionsfreiheit und der Toleranz gegenüber Andersdenkenden gegründet worden.

In jener Zeit der Morgendämmerung der europäischen bürgerlichen Revolution, im Zeitalter der Renaissance und des Humanismus haben die Niederlande so bedeutende Wissenschaftler und Philosophen wie Erasmus von Rotterdam, Hugo Grotius und Baruch Spinoza hervorgebracht.

Erasmus von Rotterdam hat dem mittelalterlichen Fundamentalismus der christlichen Scholastik die Autorität und Autonomie des menschlichen Verstands und der Vernunft entgegengesetzt, ist als erster für das Konzept der individuellen Freiheit und der Toleranz in Fragen der Religion eingetreten. Der prominente Vertreter der Aufklärung Hugo Grotius hat auf dem Hintergrund des Wettlaufs der aufstrebenden niederländischen Republik mit dem englischen und spanischen Königreich um Kolonien und Weltmeere die Konzepte des internationalen bürgerlichen Rechts entwickelt.

Baruch Spinoza war eine der hervorragendsten Geister und anziehendsten Persönlichkeiten in der Menschheitsgeschichte überhaupt. Seine nachdrückliche Unterstützung der demokratisch-republikanischen Staatsform gegen die Monarchie wurzelte in seinem optimistischen Glauben an die fortschrittliche Rolle der menschlichen Vernunft, der Wissenschaften, der Naturwissenschaften und Technik, ganz allgemein in seiner weitgehend materialistischen Weltanschauung. Seine persönliche Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft gegenüber den Armen ging einher mit einer grundsätzlicher Opposition gegen soziale Ungleichheit.

Als ihm trotz der Vorwürfe des Atheismus von Seiten der Kirche der Kurfürst Karl Ludwig von der Pfalz, einer der über 300 feudalen Fürsten Deutschlands, im Jahr 1772 eine Professur für Philosophie an der Universität Heidelberg anbot, lehnte Spinoza dieses Angebot mit höflichen, aber bestimmten Worten ab. Er zog es vor, in der Republik zu leben, auch wenn ihm dort kein öffentliches Amt und keine Reichtümer beschieden waren. Er wisse nicht, wo bei diesem öffentlichen Amt in einem Fürstentum "die Grenzen der Freiheit zu philosophieren" gezogen würden, argumentierte er. Vier Jahre später wurde das Kurfürstentum Pfalz vom französischen Heer überrannt, der Graf vertrieben und die Universität unter das Kuratel der katholischen Kirche gestellt.

Vergleicht man die ebenso weitsichtige wie prinzipienfeste Geisteshaltung dieses Denkers aus der Zeit des geschichtlichen Aufstiegs der Bourgeoisie mit der egoistischen Gier, Korruption und Kurzsichtigkeit der heutigen gesellschaftlichen Eliten, so ist es augenscheinlich, dass letztere eine zum Untergang verurteilte Klasse und Gesellschaftsordnung repräsentieren. Sie verfügen über keine historische Mission mehr und daher auch über keine Vision, keine zukunftsweisenden Prinzipien.

Mit Ausnahme der Zeit der Religionskriege im 17. Jahrhundert galten die Niederlande noch lange nach Erasmus von Rotterdam und Spinoza als tolerantes Land, das politische Flüchtlinge und rassistisch Verfolgte wie die Juden gastfreundlich aufnahm. Auch für liberale Traditionen waren sie noch im 19. Jahrhundert bekannt. 1848 legte der damalige Ministerpräsident und Autor der parlamentarischen Verfassung, Thorbecke, großen Wert darauf, sich vom Nachbarland Preußen, seinem Militarismus und seinen Polizeistaatstraditionen abzugrenzen, zumindest was die Herrschaft zuhause in den Niederlanden betraf. Für die Unterjochung der Kolonien galt dies natürlich nicht. "Wir wollen zuhause einen Staat, indem keine Polizei auf den Straßen präsent ist", erklärte er.

Dass diese demokratischen und liberalen Traditionen schon lange nicht mehr die Grundlage der bürgerlichen Politik darstellen, wurde spätestens zur Zeit der deutschen Besatzung deutlich, als Polizei und alle anderen Behörden bei der Deportation und Ermordung von 110.000 der 140.000 niederländischen Juden reibungslos mit den Nazis zusammenarbeiteten. Nach dem Krieg richtete die niederländische Bourgeoisie ihre ideologischen Bemühungen darauf aus, diese Kollaboration zu vertuschen und sich den Anschein zu geben, sie knüpfe mit der Wiederbelebung der Konsenspolitik an die demokratischen Ideale ihrer revolutionären Jugend an.

Doch heute gibt sie auch offiziell jeden Anspruch auf, eine Politik für die gesamte Gesellschaft, für alle Klassen zu vertreten. Sie bereitet sich offen auf Konfrontation statt auf Konsens vor und wird damit zwangsläufig soziale Revolten auslösen, die sie 150 Jahre lang zu vermeiden versucht hatte.

Auch in den Niederlanden ist es die Arbeiterklasse, der die Aufgabe zufällt, demokratische Prinzipien zu verteidigen, darunter vor allem das Recht, sich frei in der ganzen Welt bewegen, Arbeit und Wohnung suchen zu dürfen. Sie kann dabei an die Tradition des mehrtägigen Generalstreiks von Amsterdam im Februar 1941 gegen die Verfolgung und Deportation der Juden anknüpfen - die einzige massenhafte Klassenaktion von Arbeitern zur Verteidigung der Juden gegen die Nazis in Europa überhaupt. Und sie muss sich vor allem der historischen Aufgabe stellen, eine neue Gesellschaft auf der Grundlage sozialer Gleichheit aufzubauen.

In diesem Zusammenhang gesehen, ist der Kampf gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, ja selbst gegen die vorherrschende Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal von Flüchtlingen und Immigranten nicht nur eine humanitäre Pflicht. Die internationale Einheit der Arbeiter ist vielmehr eine strategische Aufgabe, von der das Schicksal der Arbeiterklasse in den Niederlanden und weltweit abhängt.

Siehe auch:
Das "niederländische Modell" - Wie Regierung, Gewerkschaften und Unternehmer die Umverteilung hinter den Deichen organisieren (1. Mai 1998)

Das Programm der neuen Regierung in den Niederlanden (6. Juli 2002)

Sozialdemokraten verherrlichen den ermordeten Neofaschisten Pim Fortuyn (10. Mai 2002)

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