Waren es zwei Millionen oder sogar drei? Die Schätzungen schwanken, aber in einem waren sich alle Beobachter einig: Es war die größten Demonstration der italienischen Nachkriegsgeschichte, zu der sich am Samstag Teilnehmer aus dem ganzen Land in der italienischen Hauptstadt einfanden, um gegen die Sozialpolitik der Regierung Berlusconi zu protestieren.
Zur Demonstration aufgerufen hatte der Gewerkschaftsverband CGIL, der früher der Kommunistischen Partei nahe stand und nach wie vor der einflussreichste in Italien ist. Ursprünglich wollte er damit gegen die von der Regierung beabsichtigte Aufweichung des Kündigungsschutzes protestieren. Doch nachdem vier Tage vor der Kundgebung ein Regierungsberater von den Roten Brigaden ermordet worden war, wurden die Ziele ausgeweitet: gegen den Abbau des Sozialstaats, gegen Terrorismus und für Demokratie.
Es wurde schließlich ein beeindruckender Massenaufmarsch gegen die Regierung Berlusconi und alles was sie politisch, sozial und kulturell repräsentiert. Die sechs Demonstrationszüge, die sich in einem Meer vorwiegend roter Gewerkschafts- und Parteifahnen zum zentralen Kundgebungsort im antiken Circus Maximus ergossen, waren selbst aus der Luft nicht mehr zu überblicken.
Neben der CGIL beteiligte sich auch die gesamte parlamentarische und außerparlamentarische Opposition an der Kundgebung - die unterschiedlichen, in sich zerstritten Bestandteile des Mitte-links-Bündnisses Olivenbaum; die Partei Rifondazione Communista, die bisher gemeinsame Aktionen mit dem Olivenbaum stets abgelehnt hatte; Globalisierungsgegner, die einen eigenen Block mit rund 200.000 Teilnehmern stellten; und die Bewegung der Girotondi, die sich Anfang des Jahres auf Initiative von Akademikern und Künstlern im Protest gegen das autoritäre Gebaren Berlusconis gebildet hat.
Die Teilnehmer repräsentierten, wie ein Beobachter schrieb, "vom Alter, Geschlecht, Beruf und Herkunft wohl einen Querschnitt der italienischen Bevölkerung wie kaum sonst eine Massenveranstaltung. Menschen, wie man sie auch sonst überall auf den Straßen trifft, in den Bars, hinter den Theken, im Bus." Lehrer marschierten neben Arbeitslosen, Schüler neben Metallarbeitern, Rentner neben Studenten. Sie waren mit rund 10.000 Bussen, 60 Sonderzügen, vier Schiffen, Privatautos und Flugzeugen aus allen Teilen des Landes angereist.
Die Demonstration vom 23. März hat den von den italienischen und internationalen Medien sorgfältig gepflegten Eindruck, "Italien" - oder zumindest die Mehrheit der Italiener - stehe geschlossen hinter der Regierung Berlusconi, nachhaltig zerstört. Dieser Eindruck konnte deshalb vorherrschen, weil die weitverbreitete Abneigung gegen die Regierung keinen politischen Ausdruck fand. Das Olivenbaum-Bündnis hatte Berlusconi während seiner fünfjährigen Regierungszeit durch eine rechte Sozialpolitik den Weg bereitet und nach der Wahlniederlage vom Mai 2001 auf jede ernsthafte Opposition verzichtet.
Das Verdienst, den Widerstand gegen die Regierung zu einer machtvollen Demonstration zusammengefasst zu haben, wird dem 54-jährigen Sergio Cofferati zugeschrieben. Der aus dem industrialisierten Norditalien stammende CGIL-Vorsitzende ist Mitglied der Linksdemokraten, der größten Nachfolgeorganisation der Kommunistischen Partei, und gilt dort als innerparteilicher Gegner der gegenwärtigen Führung. Auf dem Parteitag im vergangenen Herbst unterstützte er den unterlegenen Kandidaten des linken Flügels, Giovanni Berlinguer, gegen den jetzigen Vorsitzenden, Piero Fassino, den Kandidaten von Ex-Regierungschef Massimo D'Alema. Inzwischen wird er - sein Gewerkschaftsmandat läuft im Juni aus - selbst als wahrscheinlicher Nachfolger Fassinos und zukünftiger Oppositionsführer gehandelt.
Cofferati ist seit 1975 vollamtlicher Gewerkschaftsfunktionär. 1994, zur Zeit der ersten Regierung Berlusconi, wurde er an die Spitze der 5,4 Millionen Mitglieder starken CGIL gewählt. Im Unterschied zu den beiden konkurrierenden Gewerkschaftsverbänden CISL (4,1 Millionen Mitglieder) und CISL (1,8 Millionen) hat er sich bisher geweigert, mit der Regierung über den Abbau von Arbeitnehmerrechten zu verhandeln. Über Tarife könne man verhandeln, über Rechte nicht, rechtfertigte er dies.
Die von der Regierung angestrebte Aufweichung des Kündigungsschutzes lehnte er mit der Begründung ab, wenn erst der Damm gebrochen sei, werde das Wasser alles mitreißen. "Wenn sie aus der Säule der Arbeiterrechte auch nur ein minderes Stück herausbrechen, werden sie damit nicht Halt machen," sagte er.
Dieser Standpunkt, der sich deutlich von der kompromissbereiten Haltung des Olivenbaum-Bündnisses abhebt, hat Cofferati populär gemacht und zum Erfolg der Demonstration vom Samstag beigetragen. Er entspricht offensichtlich der Stimmung breiter Schichten, die nicht bereit sind, die Angriffe der Regierung widerstandslos hinzunehmen.
Cofferatis Haltung kann allerdings nicht darüber hinweg täuschen, dass auch seine Perspektive nicht über den Rahmen hinausgeht, in dem sich die Politik der Linksdemokraten seit langem bewegt. Der von ihm unterstützte Giovanni Berlinguer ist ein jüngerer Bruder des früheren KPI-Vorsitzenden Enrico Berlinguer, der die Hinwendung der Partei zu einem sozialdemokratischen Kurs in die Wege leitete.
Symptomatisch ist sein Verhalten in der Zeit, als seine eigenen Parteifreunde an der Spitze der Regierung standen. Als der linksdemokratische Regierungschef D'Alema im Sommer 1999 massive Rentenkürzungen ankündigte, reagierte Cofferati mit lautstarkem Protest und der Androhung eines Generalstreiks. Als die Regierung dann "nachgab" und sich bereit erklärte, statt 16 Billionen Lire nur 15 Billionen zu streichen, pries er dieses kosmetische Zugeständnis als großen Erfolg und blies die Aktionen ab.
Die Unnachgiebigkeit gegenüber der Regierung Berlusconi, die Cofferati gegenwärtig zur Schau stellt, dürfte also eher der Sorge entspringen, dass die unter Wählerschwund leidenden Linksdemokraten und die Gewerkschaften die Kontrolle über den Widerstand gegen die Regierung verlieren, als Ausdruck einer alternativen Perspektive zu sein.
Der Mord an Marco Biagi
Vier Tage vor der Demonstration in Rom war in Bologna der Regierungsberater Marco Biagi ermordet worden. Der Professor für Arbeitsrecht wurde vor seinem Wohnhaus mit mehreren Pistolenschüssen regelrecht hingerichtet. Später bekannte sich in einem langen Schreiben eine Organisation namens "Rote Brigaden für den Aufbau der kämpfenden kommunistischen Partei" (BR-PCC) zu dem Mord.
Biagi, seit jungen Jahren Mitglied der Sozialistischen Partei, war als Berater des Arbeitsministers Roberto Maroni (Lega Nord) an der Ausarbeitung des Gesetzesentwurfs beteiligt, gegen die sich die Demonstration vom Samstag richtete. Er soll allerdings in der umstrittenen Frage des Kündigungsschutzes anderer Meinung gewesen sein als sein Minister und die Ansicht vertreten haben, man dürfe eine Modernisierung des Arbeitsmarktes nicht bei der Erleichterung von Entlassungen beginnen.
Zuvor hatte Biagi auch die Mitte-Links-Regierung beraten, mit deren zeitweiligem Chef und heutigen EU-Kommissionspräsidenten Romano Prodi er persönlich befreundet war. Auch das gemeinsame Dokument zur Sozialreform, das der britische Premier Tony Blair und Berlusconi vergangenen Monat verabschiedeten, soll maßgeblich aus Biagis Feder stammen.
In einem über das Internet versandten Bekennerschreiben begründeten die Mörder ihre Tat damit, dass Biagi "neue Gesetze zur Ausbeutung der Arbeit" unterstützt habe. Er sei ein "Spitzenexponent des herrschenden Gleichgewichts, der Beziehung zwischen Regierung und Gewerkschaften" gewesen. Durch den Anschlag sollten die Bedingungen geschaffen werden, "um die Klassengegensätze in Klassenkampf umzuformen".
Die Regierung versuchte sofort, den Mord propagandistisch auszuschlachten und als Druckmittel gegen die bevorstehende Massendemonstration einzusetzen. Berlusconi warf den Gewerkschaften vor, sie schürten ein Klima, das die "inhumane Ideologie nährt, die die Hand der Killer führt". [Berlusconi accused the labour unions of creating a climate that "feeds the inuman ideology that moves the hand of the killers".] In Italien, sagte er mit Blick auf seine Kritiker, gäbe es "eine Spirale des Hasses, die einem Bürgerkrieg gleichkommt", und forderte die Gewerkschaften auf, sofort an den Verhandlungstisch zurückzukommen.
Der Forza-Italia-Abgeordnete Carlo Taormina äußerte sich noch deutlicher, indem er dem Gewerkschaftsbund CGIL die "objektive Verantwortlichkeit" für den Mordanschlag zuschrieb: "Sie haben die Bedingungen dafür geschaffen, dass die Terroristen sich zur Verfügung stellen konnten."
Am Vorabend der Römer Kundgebung ließ Berlusconi eine Fernsehrede ausstrahlen, in der er im Namen Biagis gelobte, die Reform des Arbeitsrechts gegen alle Widerstände durchzusetzen: "Wir fühlen uns dem Professor Biagi moralisch verpflichtet, auf der Straße der Reformen fortzufahren." Gleichzeitig stellte er die Kritiker seiner Politik erneut auf eine Ebene mit Terroristen, indem er sagte, wer Reformen wolle, werde hart angefeindet und "zuweilen sogar physisch ausgelöscht".
Der plumpe Versuch, den friedlichen Protest gegen die Regierung auf eine Ebene mit einem hinterhältigen Mordanschlag zu stellen, schlug allerdings fehl. Statt abgeschreckt fühlten sich die Teilnehmer eher ermutigt, jetzt erst Recht zur Demonstration zu gehen. Zu offensichtlich trug der Anschlag auf Biagi die Züge einer gezielten Provokation.
Da ist zum einen der mysteriöse Hintergrund der Täter. Rote Brigaden hatten in Italien letztmals in den siebziger und achtziger Jahren Attentate und Mordanschläge verübt. Dabei spielten sie und rechte Terroristen, die eine Serie blutiger Bombenanschläge durchführten, sich gegenseitig die Bälle zu. Letztere verfolgten eine "Strategie der Spannung", mit der die Voraussetzungen für einen Militär- oder Polizeiputsch geschaffen werden sollten.
Prominentestes Opfer der Roten Brigaden war im Mai 1978 der Christdemokrat Aldo Moro, den sie entführten und nach mehrwöchiger Gefangenschaft umbrachten. Die Ermordung Moros, der für Zusammenarbeit mit der KPI eintrat, stärkte den rechten Flügel der Christdemokraten. Moros Witwe vertrat stets die Ansicht, dass dieser rechte Flügel mitverantwortlich für den Tod ihres Gatten sei.
In den achtziger Jahren wurden die Roten Brigaden zerschlagen. Ihre Führer, die zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt wurden, erklärten die Organisation für aufgelöst. Viele Mitglieder, die größtenteils aus der oberen Mittelschicht stammten, gestanden und bereuten. Es ist daher völlig mysteriös, wer hinter den neuen Roten Brigaden steckt, die erstmals 1999 mit einem Mordanschlag von sich Reden machten. Beobachter halten es durchaus für möglich, dass es sich um eine Provokation aus rechten oder Geheimdienstkreisen handelt.
Misstrauen und heftige Kontroversen hat vor allem die Tatsache erweckt, dass Biagis Sicherheit sträflich vernachlässigt wurde. Er hatte mehrere Todesdrohungen erhalten, die letzte am Tag seiner Ermordung, und wiederholt um Personenschutz nachgesucht. Dass die Drohungen gegen ihn ernst zu nehmen waren, war spätestens seit der Ermordung des Arbeitsrechtlers Massimo D'Antona vor drei Jahren bekannt. D'Antona hatte damals die Mitte-links-Regierung in derselben Funktion wie später Biagi beraten, mit dem er befreundet war. Zum Mord an D'Antona hatten sich ebenfalls Rote Brigaden bekannt und er wurde, wie sich inzwischen herausgestellt hat, sogar mit derselben Waffe getötet wie Biagi.
Der Mord an D'Antona ist bis heute nicht aufgeklärt worden. Die Ermittler zeigten sich jedoch erstaunt über die hervorragenden Kenntnisse, die die Täter über den öffentlichen Dienst besaßen, und mutmaßten, dass es einen "Maulwurf" gebe, eine Verbindung zwischen staatlichen Stellen und der Terroristengruppe.
Obwohl diese Dinge bekannt waren, hatte Innenminister Claudio Scajola (Forza Italia) Biagi vor einigen Monaten die Leibwachen entzogen. Selbst von Arbeitsminister Maroni, für den Biagi arbeitete, wurde er deshalb öffentlich angegriffen. Biagis Witwe war über diese Tatsache derart erbost, dass sie ein offizielles Staatsbegräbnis für ihren Mann ablehnte und auf eine private Trauerfeier bestand. Berlusconi hatte ein Staatsbegräbnis am 23. März vorgeschlagen - als Gegenpol zu der am selben Tag stattfindenden Römer Demonstration.
Die massive Teilnahme an der Römer Demonstration und die herausragende Rolle, die die Forderung nach Demokratie dabei spielte, ist nicht zuletzt auf die Befürchtung zurückzuführen, dass die Regierung Berlusconi auf wachsenden Druck reagieren wird, indem sie zu Methoden der Gewalt und der Provokation Zuflucht nimmt. Solche Befürchtungen sind begründet. Berlusconis Regierungsstil, gestützt auf ein Medienmonopol, nimmt zunehmend autokratische Züge an und sowohl die an der Regierung beteiligten Neofaschisten als auch Berlusconis Hintermänner (er war Mitglied der Geheimloge Propaganda 2) waren in den 70-er Jahren tief in die rechte Terrorszene verwickelt.
Es ist bereits abzusehen, das sich die Konfrontation zwischen der Regierung und ihren Gegnern in den kommenden Wochen weiter zuspitzen wird. Berlusconi hat am Freitag Abend in seiner Fernsehansprache bekräftigt, dass er die Angriffe auf die Rechte der Arbeiter auch nach der Demonstration vom Samstag unvermindert weiterführen will. Die CGIL ihrerseits hat für April einen Generalstreik angekündigt.