Schröder fordert größere militärische Rolle für Deutschland

In einer Regierungserklärung vor dem Bundestag hat Kanzler Schröder am 11. Oktober eine grundlegende Neuorientierung der deutschen Außenpolitik angekündigt.

"Nach dem Ende des Kalten Krieges, der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands und der Wiedererlangung unserer vollen Souveränität haben wir uns in einer neuen Weise der internationalen Verantwortung zu stellen," erklärte er. "Einer Verantwortung, die unserer Rolle als wichtiger europäischer und transatlantischer Partner, aber auch als starke Demokratie und starke Volkswirtschaft im Herzen Europas entspricht."

Die Etappe, in der sich Deutschland nur durch "sekundäre Hilfsleistungen" an "internationalen Bemühungen zur Sicherung von Freiheit, Gerechtigkeit und Stabilität" beteiligt habe, sei "unwiederbringlich vorbei", betonte der Kanzler. "Gerade wir Deutschen... haben nun auch eine Verpflichtung, unserer neuen Verantwortung umfassend gerecht zu werden. Das schließt - und das sage ich ganz unmissverständlich - auch die Beteiligung an militärischen Operationen zur Verteidigung von Freiheit und Menschenrechten, zur Herstellung von Stabilität und Sicherheit ausdrücklich ein."

Solche Töne sind nicht neu. Seit der deutschen Wiedervereinigung vor elf Jahren gab es immer wieder rhetorische und praktische Bemühungen, das politische und militärische Gewicht Deutschlands auf der Weltbühne zu erhöhen. Aber noch nie hat ein bundesdeutscher Kanzler derart offen und unumwunden den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Interessen und militärischer Stärke ausgesprochen.

Entkleidet man Schröders Rede ihrer salbungsvollen Rhetorik - "Freiheit", "Gerechtigkeit", "Menschenrechte" -, dann lautet die Kernaussage, dass Deutschlands militärischer und außenpolitischer Rang in Zukunft seiner Rolle als "starke Volkswirtschaft im Herzen Europas" entsprechen muss.

Die Berliner Zeitung erinnerte in diesem Zusammenhang an eine ganz ähnliche Rede, die ein deutscher Außenminister einst an der selben Stelle wie Schröder gehalten hatte. Bernhard von Bülow hatte 1897 im Reichstag erklärt: "Die Zeiten, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, dem anderen das Meer und sich selbst den Himmel reservierte, wo die reine Doktrin thront - diese Zeiten sind vorüber. Wir wollen niemanden in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne."

Bülows Rede markierte den Aufbruch des wirtschaftlich rasch expandierenden Kaiserreichs aus dem Herzen Europas, wo es längst die erste Geige spielte, in die Weltarena, wo die Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich den Ton angaben. Der Kampf um den "Platz an der Sonne" endete 17 Jahre später in einer Katastrophe - dem Ersten Weltkrieg.

Der Vergleich zwischen der Rede Schröders und derjenigen von Bülows ist nicht übertrieben. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind die unverrückbaren Grenzen und festgelegten Einflusssphären der Nachkriegszeit in Bewegung geraten. Staaten und Grenzen verschwinden, neue entstehen, die Welt wird neu aufgeteilt - und niemand will abseits stehen, am allerwenigsten die deutsche Regierung.

In der Nachkriegsperiode befand sich die Bundesrepublik in der außergewöhnlichen Lage, wirtschaftlich expandieren zu können, ohne ihre Stellung militärisch absichern zu müssen. Die Fronten des Kalten Krieges schlossen größere Konflikte zwischen den westlichen Verbündeten von vornherein aus. Im Windschatten der USA stieg Deutschland zur zweitgrößten Exportnation der Welt auf.

Mit der deutschen Wiedervereinigung, der Auflösung des Ostblocks und dem Ende der Sowjetunion fand diese Situation schlagartig ein Ende. Die führenden politischen Kreise waren sich dessen schnell bewusst. Die Einigung Europas als Gegengewicht zur USA, der einzigen verbliebenen Weltmacht, wurde intensiv vorangetrieben. Und die vom damaligen Generalinspekteur Naumann verfassten Richtlinien der Bundeswehr legten schon 1992 neue militärische Aufgaben fest: Die "Förderung und Absicherung weltweiter politischer, wirtschaftlicher, militärischer und ökologischer Stabilität" und die "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des Zugangs zu strategischen Rohstoffen".

Die Ereignisse vom 11. September haben dieser Entwicklung ein ungeahntes Tempo verliehen. Der amerikanische Angriff auf Afghanistan hat rund um die Welt hektische diplomatische und militärische Aktivitäten ausgelöst. Unter der Decke der globalen "Allianz gegen den Terror" bemüht sich jede große und kleinere Macht darum, ihre eigenen Allianzen zu schmieden. Die deutsche Regierung legt dabei eine ungewöhnliche Betriebsamkeit an den Tag.

Außenminister Fischer jettet nonstop zwischen Zentralasien, Islamabad, Delhi, Riad, Jerusalem, Gaza, Paris und Berlin hin und her, um den deutschen Einfluss geltend zu machen. Kanzler Schröder reiste vergangene Woche mit einer großen Wirtschaftsdelegation im Gefolge nach Pakistan, Indien und China. Gleichzeitig bietet er der USA immer wieder die Beteiligung deutscher Truppen an den Militärschlägen gegen Afghanistan an. Dabei geht es nicht um die Bekämpfung des Terrorismus, wie die Regierung behauptet, sondern darum, militärisch dabei sein, weil sonst die Gefahr besteht, bei der Aufteilung der Beute leer auszugehen.

Zentraler Streitpunkt im Krieg gegen Afghanistan ist die Kontrolle über den Schmierstoff der modernen Wirtschaft, das Öl. Afghanistan bietet Zugang zum rohstoffreichen Zentralasien und liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zum Golf. Wer seine Hand auf dem Ölhahn der Welt hat, besitzt einen mächtigen Hebel gegen seine wirtschaftlichen Rivalen. Im weiteren Sinne geht es also um geostrategische Ziele. Wer sich in Zentralasien festsetzt, der Schnittstelle zwischen Asien und Europa, zwischen Russland, indischem Subkontinent und Nahem Osten, verfügt über eine strategische Schlüsselstellung.

Aus diesem Grund duldet der Kanzler keine Kritik an seinem Kurs. Er bügelt auch in den eigenen Reihen jeden gnadenlos nieder, der es wagt, ihn in Fragen zu stellen. Selbst die IG Metall wurde vom Kanzler angeraunzt, sich aus Fragen herauszuhalten, von denen sie nichts verstehe, als sie sich kritisch zum Krieg äußerte. Der PDS wurde auf Betreiben Schröders eine Koalition mit der SPD im Berliner Senat verwehrt, nachdem sie sich gegen den Krieg ausgesprochen hatte - und dies obwohl sie im Ostteil der Stadt fast 50 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Wenn es um wirtschaftliche und außenpolitische Interessen geht, versteht der Kanzler keinen Spaß.

Die Logik dieses Kurses führt unweigerlich zur Eskalation internationaler politischer und langfristig auch militärischer Konflikte - auch gegen die jetzigen Partner. Hinter dem heutigen Bündnis im Krieg gegen Afghanistan lauert der morgige Konflikt über die Aufteilung der Beute.

Bereits jetzt ist zwischen den Verbündeten ein heftiger Streit über die Zukunft Afghanistans entbrannt. Dabei geht es um die Frage, welches internationale Gremium nach einem möglichen Sturz des Taliban-Regimes die Kontrolle über das Land ausüben soll. Die Bundesregierung hat mehrere Unterhändler, darunter den ehemaligen Pakistan-Botschafter und Afghanistan-Spezialisten Hans-Joachim Daerr, nach Washington geschickt, um das deutsche Interesse an einer Beteiligung deutlich zu machen. Die meisten bisher diskutierten Modelle sehen vor, dass nur Mitglieder des UN-Sicherheitsrats und Anrainerstaaten einbezogen werden, unter denen Deutschland nicht vertreten ist. Die Bundesregierung will dagegen ein Gremium unter Einschluss der G8, in dem es selbst eine Rolle spielen kann.

Die Politik, das machen die jüngsten Ereignisse deutlich, kehrt mehr und mehr zu den Formen zurück, die das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert, das Zeitalter des klassischen Imperialismus prägten. Damals wechselten sich gemeinsame Aktionen der Großmächte - wie die Niederschlagung des Boxeraufstands in China - mit heftigen Konflikten und Rivalitäten ab, bis es 1914 schließlich zur Explosion kam.

Leidtragende dieser Entwicklung ist die Masse der Bevölkerung. Sie trägt die Kosten der militärischen Aufrüstung und der inneren Aufrüstung, die damit einhergeht. Und sie ist das Opfer zukünftiger militärischer Konflikte.

Es steht außer Zweifel, dass in der deutschen Bevölkerung ein breites Unbehagen über diese Entwicklung existiert. Dass ist einer der Gründe für die hysterische Staatsaufrüstung, die von Innenminister Schily mit Unterstützung der rot-grünen Koalition betrieben wird. Sie ist Ausdruck der Angst der Regierenden vor der Bevölkerung, von der sie sich mehr und mehr isoliert fühlen.

Aber gegenwärtig gibt es keine politische Kraft, die diesem Unbehagen Ausdruck verleihen und eine politische Orientierung geben könnte. Es gibt noch nicht einmal eine öffentliche Diskussion über die wirklichen Ziele der deutschen Außenpolitik. Die wenigen, zaghaften Stimmen, die sich in der SPD und bei den Grünen gegen den Afghanistan-Krieg wenden, lehnen nicht die außenpolitischen Ziele Schröders ab. Sie sind lediglich der Ansicht, dass die Beteiligung am gegenwärtigen Krieg ein untaugliches Mittel ist, um diese zu erreichen. Teilweise steckt dahinter die Auffassung, dass sich Schröder zu eng an die USA anlehnt und dass den deutschen Ambitionen durch eine größere Distanz besser gedient wäre.

Auch die Ablehnung des Kriegs durch die PDS ist rein taktischer Natur. Sie stört sich am einseitigen Vorgehen der USA und würde Militäraktionen zustimmen, die unter der Ägide der UNO oder einer anderen internationalen Institutionen stattfinden, in denen Deutschland mehr Gewicht hat.

Eine wirkungsvolle politische Bewegung gegen den Krieg kann nur aufgebaut werden, wenn sie die Unterordnung unter das aggressive Vorgehen der US-Regierung ebenso ablehnt wie den Antiamerikanismus, der als Antwort auf den Kurs der US-Regierung die politische Stärkung und Aufrüstung Europas oder Deutschlands fordert. Beides sind, wie die Politik der Regierung Schröder/Fischer zeigt, nur zwei Seiten ein und derselben Medaille.

Eine wirkliche Opposition gegen den Krieg muss vom Prinzip ausgehen, dass es zwei Amerikas gibt - das Amerika der Regierung Bush, der Reichen und der Wirtschaft, und das Amerika der Arbeiterklasse, die ebenso wenig eine politische Stimme hat wie die Arbeiterklasse Deutschlands und Europas. Sie muss sich zum Ziel setzten, die internationale Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms gegen die Kriegstreiber auf beiden Seiten des Atlantiks zu vereinen.

Siehe auch:
Putin und Schröder bemühen sich um neue Rolle in der Weltpolitik
(29. September 2001)
Eiszeit in den transatlantischen Beziehungen
( 5. April 2001)
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