Als vor etwa einem Jahr, am 3. Juni, an der Bahnhofseinfahrt von Eschede in Niedersachsen der InterCity Expreß (ICE) "Wilhelm Conrad Röntgen" aus den Gleisen sprang, fanden 101 Menschen den Tod. Insgesamt 119 weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Viele werden auf immer geschädigt bleiben - physisch, psychisch und sozial. Überlebende und Hinterbliebene haben ihre liebsten Anverwandten verloren, aber nicht selten auch ihren Job, ihr Geschäft, ihre Freunde.
Damals, vor einem Jahr, entschied man, daß die Wege der Technik unergründlich und die Menschen eben sterblich seien. Die Katastrophe hätte uns die Erinnerung daran zurückgebracht.
Heute, nachdem der Staatsanwaltschaft in Lüneburg das technische Gutachten des Fraunhofer Instituts zu diesem Unglück vorliegt, steht unzweideutig fest: Die Katastrophe war vermeidbar. Ihre Ursache findet sich in der systematischen Zurückdrängung notwendiger Sicherheitsvorkehrungen im Hochgeschwindigkeitsverkehr. Die Verantwortlichen sitzen an der Spitze des Unternehmens "Deutsche Bahn".
Schon kurz nach dem Unfall wurde ein gebrochener Radreifen als mögliche Ursache ausgemacht. Dieser verkeilte sich im Drehgestell des ersten Wagens, ließ den gesamten Radsatz entgleisen, der eine Weiche verstellte und schließlich den Zug gegen eine Brücke lenkte, welche dann einen Teil der Wagen und die Mehrzahl der Opfer unter sich begrub.
Dieser Radreifen war denn auch das zentrale Objekt der Untersuchung durch die Gutachter. Was dabei zutage gefördert wurde, hätte der Deutschen Bahn selbst ihr ärgster Feind nicht zu unterstellen gewagt.
Das Magazin Der Spiegel hat in einem elf Seiten umfassenden Bericht seiner aktuellen Ausgabe neben einer Reihe von Schicksalen Hinterbliebener auch die wichtigsten Ergebnisse des Gutachtens dokumentiert und kommt zu dem Schluß, "daß Eschede mehr als ein bedauernswerter statistischer Zufall in der Welt des Hochgeschwindigkeitsverkehrs ist".
Für die Wirkungsweise und die Sicherheit des Rades ist seine Abweichung von der idealen Kreisform - die Rundlaufabweichung - von entscheidender Bedeutung. Je unruhiger das Rad läuft, desto unberechenbarer seine Wirkung. Das gilt um so mehr bei den hohen Drehzahlen, wie sie mit dem ICE erreicht werden. Deshalb werden diese Abweichungen mit Hilfe einer Radsatzdiagnoseeinrichtung regelmäßig überprüft und dokumentiert. Bei Erreichen einer Abweichung von 0,6mm muß der Radsatz ausgewechselt werden. So jedenfalls schreibt es eine Dienstanweisung aus dem Jahre 1994 zwingend vor.
Trotzdem wurde bei dem betreffenden Rad innerhalb der letzten sieben Tage vor dem Unglück viermal eine wachsende Abweichung oberhalb der Grenze festgestellt, ohne daß der Mangel abgestellt worden wäre. Am Morgen des ersten Juni betrug der Wert 0,8mm, am Abend des gleichen Tages bereits 0,9mm. Vierundzwanzig Stunden später war er nach einer weiteren Fahrt durch Deutschland auf 1,1mm angewachsen. Dennoch sollte es am nächsten Morgen wieder auf die Reise gehen.
Aber nicht nur die Rundlaufeigenschaften, sondern auch der normale Abrieb hatte bei dem betreffenden Rad die äußerste Grenze erreicht. Bei einem neuen Rad hatte der Radreifen eine Stärke von 920mm. Zum Zeitpunkt des Unfalles hatte er noch eine Stärke von 862mm. Das liegt zwar noch innerhalb der Vorgaben der Bahn, die bei 858mm eine Grenze gesetzt hatte. Experten sind jedoch der Auffassung, daß unterhalb einer Stärke von 890mm ein sicherer Betrieb nicht mehr gewährleistet ist.
Doch damit nicht genug. Die "Zentraleinheit für die Überwachung und Steuerung", der Bordcomputer, offenbarte den Ermittlern den wohl krassesten Verstoß: Seit Anfang April hatten die Zugbegleiter achtmal Probleme mit dem Drehgestell, zu dem das Unglücksrad gehörte, eingegeben, wobei der gemeldete Fehlercode F018 (unruhiger Lauf) ebenfalls zwingend einen Wechsel des Radsatzes zur Folge hätte haben müssen. Statt dessen wurde die Störung in einer sechsstufigen Prioritätsliste auf Rang fünf, beinahe nebensächlich, eingestuft. Aus unerfindlichen Gründen galten die Räder dieser Bauart nach Aussage von Bahntechnikern als "dauerfest und bruchsicher".
Faßt man diese "Versäumnisse" in ein gemeinsames Bild mit den schon bekannten Mängeln bei der Entwicklung des ICE zusammen - der fehlenden Luftfederung in den Drehgestellen, dem Verzicht auf eine eigene Trasse mit modernen Weichen für den Hochgeschwindigkeitsverkehr, oder der Taubheit gegenüber Warnungen über die Unzulänglichkeiten der gummibereiften Räder, schließlich dem unverantwortlichen Verzicht auf moderne Meßmethoden bei der Überprüfung der Räder auf Risse -, so ist nichts weniger angebracht als die Frage, wie die Katastrophe in Eschede passieren konnte.
Vielmehr muß man sich fragen, wieso ein solches Unglück nicht schon viel eher oder viel öfter geschehen ist. Und in der Tat waren im Schatten des Unglücksreifens noch andere Räder an anderen Zügen beinahe zum Auslöser einer Katastrophe "herangereift". Laut Spiegel wurden nach Eschede durch die Bahn 82 Radreifen durchgecheckt, wobei in drei von ihnen ebenfalls Risse festgestellt werden konnten.
Daß es sich dabei um "Schlamperei" handelt, wie der Vorsitzende der Eisenbahnergewerkschaft (GdED), Norbert Hansen, im Westdeutschen Rundfunk behauptete, verschleiert mehr als es erklärt. Der Begriff der Schlamperei legt nur eine oberflächliche Arbeitsweise einiger Mitarbeiter in einem ansonsten korrekt funktionierenden System nahe. Aber nicht vereinzelte Nachlässigkeit, sondern verantwortliche Rücksichtslosigkeit ist es, was durch den Bericht der Gutachter klar erwiesen wurde.
Die Gewerkschaft hat allen Grund, diese Klarheit wieder zu vernebeln, trägt sie doch, z.B. durch ihre Vertreter im Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG, einen Großteil der Verantwortung für den Abbau von über 100 000 Arbeitsplätzen in den letzten fünf Jahren und die damit einhergehenden verschärften Bedingungen für die verbleibenden Arbeiter.
Natürlich hätte ein rechtzeitiger Wechsel des Radsatzes diese Katastrophe verhindert. Doch nicht in diesem "Vergessen" oder "Abwarten" liegt das Problem. Das ist eher zufällig. Genauso gut hätte der Radreifen auch ein paar Kilometer später bersten können, ohne daß die Ausmaße von Eschede erreicht worden wären. Was aber durch die Untersuchungsergebnisse der Gutachter verdeutlicht wurde, ist eine grundsätzliche Haltung der Verantwortlichen der Deutschen Bahn AG gegenüber Fragen der Sicherheit, die über kurz oder lang eine Katastrophe hervorbringen mußte, sei es in Eschede oder anderswo. Das ganze System der Wartung war mittlerweile so stark mit Risiken behaftet, daß ein schreckliches Ereignis nur noch eine Frage der Zeit sein konnte.
Der Grund dafür liegt in der Unterordnung des Eisenbahnverkehrs unter die Erfordernisse des Marktes. Mit der Privatisierung der Bahn 1994 wurde sie durch die internationalen Aktienmärkte unter Druck gesetzt, auf denen sie nur bestehen kann, wenn sie entsprechende Gewinne einfährt oder doch zumindest in Aussicht stellt.
Das Jahr 1998 sollte zum Jahr der Aufholjagd für die Deutsche Bahn AG werden. Eine Aufholjagd nicht nur gegenüber den Hochgeschwindigkeitszügen in anderen Ländern wie dem TGV in Frankreich, sondern auch gegenüber der Konkurrenz auf der Straße und in der Luft.
Da bleibt wenig Zeit und finanzielles Engagement für aufwendige Forschungen und langwierige Tests, aber auch für umfassende Wartung oder gar Um- und Ausbauten von vorhandenen Zügen und Fahrtrassen. Nicht einfach die Entscheidung pro oder contra 7800 DM, die ein neuer Radsatz im ICE gekostet hätte, hat Bedeutung für die Profitrate des Unternehmens, wohl aber die Entscheidung für größtmögliche Sicherheit der Fahrgäste und der Mitarbeiter - koste es was es wolle!
Das ehemalige Vorstandsmitglied Hermann Wolters fordert in seinem Buch "ICE. Zug der Zukunft": "Stillstandszeiten aus Instandhaltungsgründen sind zu minimieren und, wenn irgend möglich, in betriebliche Stillstandszeiten bei Triebzug-Wenden und in die Nacht zu verlegen. Sie dürfen nicht ungeplant anfallen und sind für möglichst viele Arbeiten gleichzeitig zu nutzen..." (zitiert nach: Erich Preuß, 10 Uhr 59 - Geschichte einer Eisenbahn-Katastrophe, GeraMond 1998)
Reparaturen werden nicht durchgeführt, wenn sie nötig werden, bei entsprechenden Defekten oder Verschleißerscheinungen, sondern wenn sie sich rentieren. Nach solchen Vorgaben wechselt man lieber fünf Radsätze auf einmal als fünfmal einen Radsatz. Einzige Voraussetzung: der erste schadhafte Radsatz hält durch!
Trotz der inzwischen erdrückenden Beweislast hat die Bahn AG ihre Verantwortung noch immer nicht öffentlich eingestanden. Unter der Hand hat sie aber all den vorgebrachten Vorwürfen schon mal Rechnung getragen. So gibt es mittlerweile keinen ICE mit Radreifen an den Rädern mehr. Auch die Diagnoseeinrichtungen, um unsichtbare Risse in den Rädern zu entdecken, die in dem Münchner Werk niemals, in Hamburg nur bis 1993 im Einsatz waren, sind wieder in Benutzung. Die zulässige Rundlaufabweichung wurde auf 0,4mm abgesenkt und bei zukünftigen Trassen soll es keine Weichen mehr vor Brücken geben.
Allerdings - zu mehr als einem Schuldeingeständnis taugen diese Maßnahmen kaum. Mit den Monoblocrädern kehren auch die Probleme aus den Anfangszeiten des ICE zurück, wo die Vollstahlräder nach nur 100 000 km wegen zu hohem Verschleiß ausgewechselt werden mußten. Zum Vergleich, das Unglücksrad war 1,789 Millionen Kilometer gelaufen. Was die Weichen vor den Brücken angeht, so sind zukünftige kaum geplant und die gegenwärtigen davon ausgenommen. Auch die Diagnoseeinrichtungen wurden nicht einfach aus Faulheit nicht benutzt, sondern ihrer Mängel wegen. Ist ihr Einsatz dringend geboten, so ist ihre Entwicklung und Vervollkommnung erste Voraussetzung. Und wenn der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn, Johannes Ludewig, vor die Öffentlichkeit tritt, nicht um seinen Rücktritt, sondern die Entscheidung zu erklären, daß bis zum Herbst dieses Jahres das Gleisbett der ICE-Strecken durch eine Gummieinlage gepolstert werden wird, muß man fragen: Wie ist das erforscht?
Solange die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen sind, bleibt der Eindruck, wie ihn ein Opfer des Zugunglückes, das noch immer verzweifelt für eine angemessene Entschädigung kämpft, gegenüber dem Spiegel geäußert hat: "Manchmal habe ich das Gefühl, als müsse dort ein Erdbeben passiert sein - alle finden es furchtbar, aber niemand kann etwas dafür."