Wenn die Wahrheit das erste Opfer des Krieges ist, so scheint ihr die Kritikfähigkeit auf dem Fuße zu folgen. Unter der geistesertötenden unausgesetzten Propaganda - die ausschließlich um das Schicksal der Kosovaren kreist - verlieren einige ansonsten intelligente Leute ihr politisches Gleichgewicht und unterstützen die Bombardierung Jugoslawiens durch USA und NATO. "Normalerweise" - wenn also gerade kein Krieg stattfindet - sind sie Gegner des Imperialismus und Militarismus. Im allgemeinen wenden sie sich auch dagegen, daß mit kriegerischen Mitteln Märkte, Profite und andere, geopolitische Interessen verfolgt werden. Aber im spezifischen Falle dieses Krieges liegen die Dinge anders, wird er doch für die "Menschenrechte" geführt, um Menschenleben zu retten, die von den rassistisch motivierten Greueltaten der jugoslawischen Regierungstruppen bedroht werden. In dieser Lage, so heißt es, hat man, um die als "ethnische Säuberung" bekannte Barbarei zu beenden, keine andere Wahl, außer den Krieg als notwendig hinzunehmen.
Diese Haltung erscheint zumindest auf den ersten Blick sehr vernünftig. Denn wer würde schon gegen den moralischen Imperativ auftreten, daß Leben gerettet werden müssen? Der politische Verbrecher - Milosevic - ist ausgemacht. Die Bilder seiner zahlreichen Opfer wurden in die ganze Welt ausgestrahlt. Wenn es Bomben braucht, um diesem Verbrecher das Handwerk zu legen und der Schlächterei ein Ende zu machen - so sei es denn.
Wenn uns die Geschichte des 20. Jahrhunderts jedoch irgend etwas lehrt, dann dies, daß man solche eingängigen Rechtfertigungen für Kriege seitens kapitalistischer Großmächte mit großer Vorsicht genießen sollte. Wenn man die Erklärungen der USA und ihrer westeuropäischen NATO-Verbündeten für diese oder andere Militärinterventionen abwägt, so sollte man tunlichst zwischen den diversen guten Gründen - d.h. jenen, die in selbstlose und moralische Begriffe gekleidet sind - und den wirklichen Gründen unterscheiden, die in der internationalen imperialistischen Machtpolitik und in den Handels- und Finanzinteressen der bürgerlichen Klasse liegen.
Selbst wenn man ohne weitere Fragen hinnehmen wollte, daß Milosevic aller Vergehen, die ihm vorgeworfen werden, auch schuldig ist, dann würde dies immer noch nicht erklären, weshalb die USA unnachgiebig auf einer Militäraktion gegen Jugoslawien beharrten. Wollte man die wirklichen Gründe auflisten, aus denen heraus die USA Jugoslawien bombardieren, so käme das Schicksal der Bevölkerung des Kosovos, wenn es überhaupt eine Rolle spielt, an letzter Stelle.
Nicht nur wir haben darauf hingewiesen, daß die Haltung der Vereinigten Staaten zu Massenrepressionen in verschiedenen Teilen der Welt - selbst, wenn sie die Form "ethnischer Säuberungen" annehmen - in höchstem Maße von Heuchelei geprägt ist. Wenn die Unterdrückung von Regierungen begangen wird, die ihren geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen dienlich sind, dann wird sie von den Vereinigten Staaten nicht nur gerechtfertigt, sondern auch direkt praktisch unterstützt.
Doch auch auf dem Balkan selbst widerspiegelte die Reaktion der Vereinigten Staaten auf die Greueltaten eher politische Berechnung, als moralische Erwägungen. Die Reaktion der USA auf die dokumentierten Greueltaten der kroatischen Regierung unter Franjo Tudjman entlarvt auf schlagende Weise den Zynismus ihrer Pose als Verteidiger der "Menschenrechte".
Am 21. März, nur wenige Tage vor den ersten Luftschlägen gegen Jugoslawien, berichtete die New York Times über Ermittlungsergebnisse am Internationalen Gerichtshof für Kriegsverbrechen in Den Haag: "Den Dokumenten des Tribunals zufolge führte die kroatische Armee während einer Offensive von 1995, die als Wendepunkt der Balkankriege gilt, Massenhinrichtungen durch, nahm die Zivilbevölkerung ohne Ansehen unter Beschuß und verübte ethnische Säuberungen‘." Die Times berichtete, daß das Tribunal die Verurteilung dreier kroatischer Generäle empfohlen habe, und fuhr fort:
"Jede Verurteilung der kroatischen Armee-Generäle könnte sich für die Clinton-Administration als politisches Problem erweisen, denn sie unterhält eine heikle Beziehung zu Kroatien. Dieser amerikanische Verbündete bei der Friedenserhaltung in Bosnien weist eine schlechte Menschenrechtsbilanz auf.
Die kroatische Offensive im August 1995, die innerhalb von vier Tagen rund 100.000 Serben aus einem großen Gebiet Kroatiens vertrieb, wurde mit dem zögernden Segen der USA von einer kroatischen Armee durchgeführt, die von einer Gruppe pensionierter amerikanischer Militäroffiziere geschult worden war. Das ganze Ausmaß der US-amerikanischen Beteiligung ist nach wie vor unklar."
Hätten die amerikanischen Medien über die gewaltsame Vertreibung der Serben aus der Provinz Krajina im Sommer 1995 berichtet, so hätte man schon vor vier Jahren ganz ähnliche Szenen gesehen wie jene, die wir in den vergangenen drei Wochen kennenlernten. "Die kroatische Armee", schrieb die Times, "vertrieb mehr als 100.000 Serben aus ihrer angestammten Heimat und zwang sie zur Flucht auf Handkarren und in kleinen Autos, die mit ihren Habseligkeiten überladen waren." Die Dokumente des Tribunals, auf die sich die Times bezieht, führen zahlreiche Fälle brutaler Übergriffe der kroatischen Truppen gegen die Serben an. "In groß angelegter, systematischer Manier", schreiben die Ermittler des Tribunals, "begingen die kroatischen Truppen Mord und andere unmenschliche Taten an kroatischen Serben."
Dem Bericht der Times zufolge wurden diese Verbrechen im Verlauf einer Operation begangen, die mit Hilfe eines pensionierten amerikanischen Generals geplant worden war, der seinerseits für eine in Virginia ansässige Privatfirma namens Military Professional Resources Inc. arbeitete.
Die prahlerische Darstellung des Sondergesandten Richard Holbrooke über seine Diskussionen mit dem kroatischen Präsidenten Tudjman während der damaligen Offensive zeigt überdeutlich, daß die Vereinigten Staaten die Greueltaten auf dem Balkan mit zweierlei Maß messen. Holbrooke beschreibt, wie die Vereinigten Staaten, während sie nach außen hin die kroatische Vertreibungsoffensive gegen die Krajina-Serben mißbilligten, insgeheim Tudjman anfeuerten, den militärischen Vormarsch voranzutreiben:
"Galbraith [der US-Botschafter in Kroatien] und ich trafen Tudjman am 14. September. Tudjman wollte Klarheit über die amerikanische Haltung. Er fragte mich unverblümt nach meiner persönlichen Ansicht. Ich ließ meine allgemeine Unterstützung für die Offensive erkennen, verschob aber einen ausführlicheren Meinungsaustausch auf eine zweite Zusammenkunft, so daß ich mich mit meinen Kollegen und Washington abstimmen konnte.
Am 17. September trafen sich Galbraith und ich allein mit Tudjman... Ich sagte Tudjman, die Offensive sei für die Verhandlungen von großem Wert. Es würde weitaus leichter sein, am Verhandlungstisch zu bewahren, was auf dem Schlachtfeld erobert worden sei, als die Serben zur Aufgabe von Gebieten zu bewegen, die sie seit Jahren kontrolliert hätten." (1)
Zur Zeit des Treffens war sich Holbrooke völlig darüber im klaren, daß die kroatische Armee Greueltaten gegen die Serben verübte. Er sorgte sich sogar, daß das Ausmaß der Schlächterei politischen Schaden anrichten könne, und drängte Tudjman, die unter seinem Oberkommando stehenden Truppen etwas zu zügeln:
"Unter Verwendung eines provokativen Ausdrucks, der normalerweise für die Serben reserviert war, sagte ich Tudjman, daß das gegenwärtige Verhalten der Kroaten vielleicht als eine abgeschwächte Form ethnischer Säuberungen angesehen werden könnte. Tudjman reagierte heftig, bestritt es aber nicht ganz..." (2)
Die Atmosphäre des entspannten Zynismus, in der Holbrooke und seine Verbündeten das Morden auf dem Balkan sehen, kommt in einer weiteren Episode deutlich zum Ausdruck. In den Anfangsstadien dieser entscheidenden kroatischen Offensive drängte ein Mitglied der amerikanischen Verhandlungsdelegation, das anscheinend die pro forma geäußerte Mißbilligung der USA zu ernst nahm, Tudjman während eines Arbeitsessens zum Abbruch der Militäraktion. Robert Frasure, Holbrookes wichtigste Hilfskraft, kanzelte diesen naiven Auftritt scharf ab. Er verfaßte eine kurze Notiz, die er Holbrooke hinüberschob. Darauf stand geschrieben:
"Dick: Wir haben diese Typen [Tudjman und die kroatischen Militärführer] als unsere Wachhunde auf diesem Schrottplatz (junkyard dogs) angeheuert, weil uns nichts anderes übrig blieb. Wir müssen versuchen sie zu kontrollieren‘. Aber es ist jetzt nicht der Zeitpunkt pingelig zu werden."
Diese Notiz, die Holbrooke voller Stolz zitiert, faßt die Beziehung des amerikanischen Imperialismus zu den Führern der diversen Balkanstaaten mehr oder weniger zusammen: Sie sind die "Wachhunde" der USA, die je nach Bedarf an der Kette gehalten oder losgelassen werden.
Eine kurze Ergänzung zu dieser Episode. In seiner Ausgabe vom 14. April berichtet das Wall Street Journal, daß die USA entgegen den Einwänden einiger europäischer Verbündeter Kroatien für die Mitgliedschaft in der NATO vorsehen. Menschenrechtsgruppen beklagen, daß Tudjman nach wie vor Kriegsverbrecher protegiert, extrem rechte Nationalistenorganisationen fördert und ein repressives, autoritäres Regime führt. Dennoch ist Kroatien eingeladen worden, den Briefings der NATO über den Verlauf der Bombardierungen beizuwohnen. Am Montag abend wurden die Vertreter Kroatiens zu einem Dinner mit Außenministerin Madeleine Albright geladen, an dem ansonsten die Außenminister der "Frontstaaten" der Kosovo-Krise teilnahmen.
Und noch ein weiterer Aspekt der blühenden Beziehungen zwischen Kroatien und den Vereinigten Staaten, auf den das Wall Street Journal hinweist:
"Seitdem Kroatien seinen Krieg mit Jugoslawien 1995 beendet hat, haben die USA starke wirtschaftliche Verbindungen hergestellt, und Kroatien führt mittlerweile Amerika als seinen größten Auslandsinvestoren an. Die Enron Corp. verhandelt über den Bau eines Kraftwerks im Lande. Die Bechtel Corp. erhielt einen 600 Millionen Dollar schweren Straßenbau-Auftrag, für den die Export-Import Bank der USA letzten Monat zu niedrigen Zinsen einen Kredit von 228 Millionen Dollar bereitstellte. Es ist der erste solche Kredit für diese Region; der Zeitpunkt scheint zufällig zu sein."
Anmerkungen
1) To End A War, New York 1998, S. 159-60
2) Ebd. S. 160